Durchgelesen – „Letzter Akt“ v. Christoph Leuchter

Ein Toter, ein Kommissar, ein kleines Dorf in der Toskana, ein deutscher Professor, ein Pfarrer als Mechaniker und viele offene Fragen in Punkto Verrat und Schuld. All diese Figuren und Themen werden hier meisterhaft von Christoph Leuchter in seinem Erstlingsroman « Letzter Akt » ineinander ver- und gleichzeitig wieder entwoben.

Christoph Leuchter (geb. 1968) hat vor seinem Studium der Germanistik in Bonn und Aachen, auch Klavier und Musikwissenschaft studiert. Seine Magisterarbeit widmete er Max Frisch und 2001 promovierte er über mittelalterlichen Minnesang. Er arbeitete bereits als wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut der RWTH Aachen, war als Lektor tätig und lehrt nun seit 2006 Angewandte Text- und Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben an der RWTH Aachen University. Sein nun gerade aktuell veröffentlichter erster Roman « Letzter Akt » wurde durch verschiedene Stipendien unter anderem durch das Literarische Colloquium Berlin unterstützt. Christoph Leuchter lebt als Musiker und Autor mit seiner Familie in der Nähe von Aachen.

Christoph Leuchters Roman spielt in der Toskana, in einem kleinen unbekannten Dorf in der Nähe von Florenz :

« Das Dorf, um das es hier geht, könnte zwanzig bis dreissig Kilometer von Florenz entfernt liegen. In dieser Gegend sind die Hinweisschilder am Strassenrand meist ungenau, und der Name des winzigen Ortes steht ohnehin nirgends. Als hätte man ihn einfach vergessen oder gutwillig von der Landkarte gestrichen. »

Dieser wahrlich vergessene kleine Ort wirkt irgendwie ausgestorben, die Jungen sind weggezogen, nur die Alten sind geblieben. Man könnte dieses Dorf auch als eine Art natürlich gewachsenes « Altersheim » bezeichnen, das von Maddalena, dem schülerlosen Lehrer, dem schwerkranken Apotheker Barelli und seiner glücklicherweise noch sehr attraktiven Frau, dem Pater Guiseppe, der wahrscheinlich in seinem « ersten » Leben Automechaniker war, und dem Tischler und Künstler des Dorfes, Paolo Veronese, bewohnt wird. Ach und dann gibt es noch einen ganz besonderen Langzeitgast, den man keinesfalls vergessen sollte: den deutschen Professor Martin Vonderheid, genannt Di Landa. Inzwischen sechundsiebzig Jahre alt und verheiratet mit Maria, einer dreissig Jahre jüngeren Französin, lebt er nun seit fast zehn Jahren in diesem Dorf. Zuvor unterrichtete Di Landa mittelalterliche Literatur in Paris und gibt jetzt in seinem Ruhestand ab und zu noch Literaturvorlesungen an der Universität von Florenz.

Di Landa und seine schöne Marie wohnen in einem Haus, das am Rande einer riesigen Wiese liegt, auf der sich ein alter Schuppen befindet. Wie oft unternimmt der Professor hier einen Spaziergang, wie auch dieses Mal. Seine Neugierde führt ihn in den Schuppen und dann erblickt er mit Entsetzen einen Toten, der unter der Decke hängt. Irgendwie musste er durch den Schock ohnmächtig geworden sein. Jetzt spürt er nur noch seine Platzwunde und versucht langsam seine Sinne wieder zu sortieren, denn in der Zwischenzeit ist ein junger Kommissar aus Florenz, namens Corelli, im Dorf eingetroffen, der viele Fragen stellt.

Keiner wusste bis jetzt, wer der Tote war. Doch Professor Di Landa erinnert sich wieder : es war sein Freund, ein gewisser Wolf Rosenstein. Corelli ist fasziniert und gleichzeitig abgelenkt von Marie, doch trotzdem beschäftigen ihn zwei Fragen : Warum hängt sich ein ehemaliger Freund des Professors genau in diesem Schuppen auf. Könnte es auch Mord gewesen sein, auch wenn alles auf einen Selbstmord hindeutet?

Es war tatsächlich Suizid ! Corelli – gerade selbst in einer privaten Krise – überbringt die gerichtsmedizinischen Ergebnisse persönlich, obwohl dies nicht im Geringsten von Nöten gewesen wäre. Irgendwie fühlt er sich magisch von diesem Ort, aber auch von Di Landa und dessen attraktiver Frau angezogen. Wegen einer Autopanne quartiert sich Corelli bei Di Landa ein. Die zwei Männer kommen sich – begleitet von gutem Rotwein – bei einem Gespräch näher. Und damit endet der kurze kriminalistische Exkurs und die eigentliche von Professor Di Landa erzählte Geschichte, welche in Berlin der Zwanziger Jahre beginnt, nimmt seinen Lauf :

« „Eines Morgens schob unser Lehrer einen blonden Jungen vor sich her ins Klassenzimmer, postierte ihn vor dem Lehrerpult und erklärte der Klasse : Das sei ihr neuer Mitschüler, Wolf Rosenstein.“ … „Der Neue musste sich zu mir in die Bank setzen, ich wusste es genau, und ich beschloss, dass wir Freunde würden.“ »

Martin Vonderheid und Wolf Rosenstein wurden Freunde, Martin verbrachte viel Zeit im Haus der Familie Rosenstein. Er fühlte sich dort sehr wohl. Es war ein musikalisches und gastfreundschaftliches Haus, Wolfs Mutter spielte am Flügel, sein Vater arbeitete im Aussenministerium und wirkte sehr jugendlich und offen. Martins Vater dagegen trank seit seiner Entlassung aus dem Militär und seine Mutter war bereits tot. Martin und Wolf zeigten sich gegenseitig ihre Fähigkeiten und Begabungen, tauschten ein neues gegen altes Fahrrad und wurden verwöhnt vom Chauffeur der Familie Rosenstein. Doch die politische Lage verschärfte sich, es gab Unruhen in der Stadt. Man hörte von der Festnahme Hitlers in München, doch die Situation veränderte sich glücklicherweise zum Positiven und man fühlte sich wieder etwas beruhigter und befreiter. Es wurden Feste organisiert im Hause Rosenstein, wo Martin zum ersten Mal auch Wolfs zwei Jahre ältere Cousine Lily kennenlernte. Sie verstanden sich alle perfekt miteinander und somit entwickelte sich eine neue und ganz ungewöhnliche Dreier-Freundschaft, die jedoch durch ein sehr « natürliches « Ereignis unterbrochen und nach Jahren in einer ganz neuen und vor allem auch tragischen Weise wieder entdeckt wurde…

Christoph Leuchter hat sich ein wunderbares Umfeld für diese raffiniert konstruierte Geschichte ausgesucht. Ein Dorf umgeben von Wiesen und Olivenhainen, guter Wein, die Nähe zur Kulturstadt Florenz, ein echtes Paradies für ein schönes Leben. Doch kann ein Leben auch dann paradiesisch werden, wenn es mit verdrängter Schuld beladen ist ? Der Hautprotagonist, Professor Di Landa, versucht an diesem Ort seiner Vergangenheit aus dem Weg zu gehen, und wird durch den vollkommen unerwarteten Selbstmord seines Freundes von seinen Erinnerungen wieder eingeholt. Christoph Leuchter gelingt es auf bemerksenwerte Weise durch seine sprachliche Kunst diese Gegensätze zwischen Traumlandschaft und Lebensdramatik so brillant zu verknüpfen, das der Leser im ersten Moment sich trotz der Tragik immer leicht auf einer toskanischen Sommerwiese gebettet fühlt.

« Der letzte Akte » ist kein Kriminalroman im klassischen Sinne. Hier wird nur ganz raffiniert ein junger, unerfahrener und unglücklicher Kriminalkommissar für die perfekte Rolle des « Zuhörers » für eine Lebensbeichte besetzt. Somit wird Corelli, wunderbar ironisch dargestellt, der personifizierte rote Faden in dieser doch sehr dramatischen Erzählung. Er klärt hier im Sinne der Polizeiarbeit nichts mehr auf, sondern teilt nicht nur mit Di Landa, sondern auch mit allen Dorfbewohnern in einer gewissen Weise und für ein bestimmte Zeit ihr gemeinsames Schicksal.

Chrisoph Leuchter schreibt musikalisch, malerisch und trotzdem sehr klar. Er ist emotionaler Künstler und kühler Beobachter in einer Person. Und genau diese zwei Perspektiven spiegeln sich auf ganz besonders kluge Weise in seinem faszinierenden und äusserst fesselnden Erstlingsroman, den man als anspruchsvoller Leser guter Literatur keinesfalls verpassen sollte!

Durchgelesen – „Schuld“ v. Emmanuel Bove

Emmanuel Bove, mit bürgerlichem Namen Emmanuel Bobovnikoff, wurde am 20. April 1898 in Paris geboren. Der Vater, ein jüdisch-russischer Lebenskünstler ohne festen Job und die Mutter, ein luxemburgisches Dienstmädchen, trennten sich ab 1910, so dass Emmanuel sowohl bei seinem Vater und als auch bei seiner Mutter lebte. Er besuchte verschiedene Schulen in Genf und Paris. 1915 starb sein Vater. Bove arbeitete als Hilfsarbeiter, Kellner, Taxifahrer und führte ein sehr ärmliches Leben. Während des Militärdienstes lernte er seine späterere Ehefrau, die Lehrerin Suzanne Vallois, kennen. Sie heirateten 1921 und zogen aus finanziellen Gründen nach Österreich, in die Nähe von Wien. 1922 begann er seinen ersten Roman „Mes amis“ („Meine Freunde“) und fing an Groschenromane  zu schreiben – allerdings unter Pseudonym -, um Geld zu verdienen und um schliesslich auch wieder nach Paris zurückkehren zu können. Während er seinen Roman „Mes amis“ endlich beendete, trennte Bove sich von seiner ersten Frau.

Emmanuel Bove lernte die Schriftstellerin Colette kennen, die ihm half seinen Roman in ihrem Verlag zu veröffentlichen. Auch eine Begegnung mit Rilke, welcher von Bove’s ersten Roman total begeistert war, beflügelte ihn so sehr, dass er mehr und mehr Erzählungen und Romane schreiben konnten. Im November 1928 wurde ihm der damals mit 50 000 Francs sehr hochdotierte Prix Figuière verliehen. Sein Leben entwickelte sich rasant weiter, er heiratete ein zweites Mal, eine reiche Bankierstochter, lebte mit ihr in England, musste jedoch wegen ihres Bankrotts wieder nach Frankreich zurückkehren. 1942 floh er wegen Verfolgung nach Algerien, wo er u.a. André Gide und Saint-Exupéry begegnetete. Bove erkrankte schwer an Malaria, kehrte im Oktober 1944 wieder nach Frankreich zurück. Er starb am 13. Juli 1945 in Paris.

Emmanuel Bove’s Werk wurde in den 80ziger Jahren in Deutschland durch die Übersetzungen von Peter Handke bekannt. Die Erzählungen und Romane zeigen vor allem die Schattenseiten des französischen Bürgertums und die Probleme der Gesellschaft.

„Schuld“ wurde 1932 unter dem Originaltitel „Un Raskolnikoff“ veröffentlicht. Inzwischen ist dieses Buch in Frankreich restlos vergriffen und nur noch im besonders ausgewählten antiquarischen Buchhandel erhältlich. Umso mehr kann man sich über diese – erstmals auf deutsch von Thomas Laux hervorragend übersetzte – Wiederentdeckung freuen.

Dieser schmale Roman (gerade mal 90 Seiten) könnte eine kleine und leicht veränderte Form von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ sein. Allein der Originaltitel „Un Raskolnikoff“ lässt ganz klare Verbindungen zu dem grossen philosophischen Roman von Dostojewski erkennen. Nur hat Bove in seinem Mini-Roman für das Thema Sühne keinen Platz, da die Schuld keine wirkliche Schuld ist.

Der Roman „Schuld“ spielt im winterlichen Paris und erzählt die Geschichte des armseeligen, unglücklichen und arbeitslosen Pierre Changarnier. Er will unbedingt mit seiner Freundin Violette das Glück finden. Sie streunen durch das kalte verschneite Paris, obwohl er krank ist und Fieber hat. Er ist so schwach, er friert und sie suchen sich ein Café, um sich aufzuwärmen. Changarnier versucht Violette zu erklären, dass sich etwas ändern muss in seinem Leben:

„«Violette», sagte er, «eines ist sicher, dieses Leben kann so nicht weitergehen. Jeder Mensch auf der Welt hat Geld, Liebe, Vergnügen, bloss wir nicht. Jeder Mensch kommt, geht, lebt, bloss wir nicht.» Changarnier schlug mit der Faust auf den Tisch. «So kann das nicht weitergehen.» Violette sah ihn erschrocken an. Protest war ihrer einfachen Seele fremd.“

Sie diskutieren, er überlegt, was er machen könnte. Sich bei der Fremdenlegion bewerben oder als Mann am Projektor in einem Kino arbeiten. Er träumt von festem Gehalt, oder doch lieber nicht arbeiten, da vielleicht der Spass daran fehlen könnte. Changarnier wird aufbrausend, stürmisch und wirft ein Glas zu Boden. Der Wirt verlangt, dass er den Schaden begleicht. Doch Changarnier will nicht zahlen, denn er braucht das Geld fürs Kino. Der Wirt ist wütend, jedoch nur kurz, denn Changarnier verblüfft ihn mit diesem Satz:

„«Komm schon, reg Dich ab, nimm deinen Hut und geh mit uns dem Glück entgegen.»“

Changarnier und Violette verlassen das Café, werden jedoch von einem kleinen Mann verfolgt, der sie nicht in Ruhe lässt, bis er ihnen seine Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Mordes und eines Mörders, der nie bestraft wurde. Changarnier spürt währenddessen Erinnerungen aufsteigen, die auch ihn zum Mörder werden lassen. Oder sind es nur Halluzinationen oder Phantasien? Er wird festgenommen und befindet sich plötzlich auf dem Kommissariat. Aber ist er wirklich ein Mörder?

Und jetzt ist der Leser gefordert! Wer hat Schuld? Kann ein Mensch Schuld haben, auch wenn ihn keine Schuld trifft. Hat ein Mörder Schuld, auch wenn die Tat nie bestraft wurde? Ist Reue vielleicht auch eine andere Form von Schuldanerkenntnis? Der Leser befindet sich in den Fängen zwischen Schuld und Sühne und versucht daraus möglichst schnell zu entkommen, in dem er sich auf diesen besonderen Roman einlässt. Bove zeigt uns die menschliche Tragödie mit seinen meisterhaft knapp, aber trotzdem intensiv porträtierten Hauptfiguren. Bove bedient sich einer glasklaren Sprache, die Moral, Mitleid und Erlösung in atemberaubender Weise darstellt. „Schuld“ ist ein subtil dramatischer, äusserst spannender und literarisch höchst anpruchsvoller Roman! Seien Sie neugierig auf dieses kleine feine Buch, das den deutschprachigen Leser mit einer grossen und bewegenden Neuentdeckung beschenkt!