Durchgelesen – „Aus den Fugen“ v. Alain Claude Sulzer

Das Leben geht oft seltsame Wege. Es kreuzen sich Schicksale, Menschen kommen von ihrem eingeschlagenen Kurs ab und befreien sich von praktischen und emotionalen Fesseln. In dem aktuell veröffentlichten Roman « Aus den Fugen » von Alain Claude Sulzer lernen wir gleich verschiedene Personen kennen, deren Leben im wahrsten Sinne des Wortes « aus den Fugen » geraten wird und dabei die musikalische « Fuge » einen wichtigen Beitrag dazu leistet.

Alain Claude Sulzer, geboren 1953 in Riehen bei Basel (Schweiz), absolvierte eine Ausbildung zum Bibliothekar und arbeitete anschliessend als Journalist. Sein erster Prosatext erschien 1983. Darauf folgten viele weitere literarische Arbeiten. Gleichzeitig übersetzte er Texte aus dem Französischen unter anderem von Julien Green, Jean Echenoz und Jules Renard. Er wird mit zahlreichen Preisen geehrt, wie zum Beispiel der « Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank » und 2005 dem Einzelwerkpreis der schweizerischen Schillerstiftung. Seinen grössten Erfolg feierte er mit dem Roman « Ein perfekter Kellner » 2004, welcher 2008 mit dem Prix Medicis étranger ausgezeichnet wurde. Nun dürfen uns über seinen neuen Roman « Aus den Fugen » freuen, der sich als eine äusserst raffinierte symphonische « Literatur-Komposition » präsentiert.

Der Roman spielt in Berlin und hat nicht nur einen Hauptprotagonisten, sondern gleich eine Vielzahl von Figuren, die mehr oder minder eine fast schon tragende, aber zumindest sehr wichtige Rolle in diesem « musikalischen » und unglaublich vielschichtigen Werk spielen werden.

Es beginnt mit dem Pianisten Marek Olsberg, ein sehr berühmter Musiker, der den klaviermusikkennenden Leser vielleicht an Horowitz, Brendel und Alexis Weissenberg erinnern könnte. Gefeiert auf der ganzen Welt, Konzerte wie zum Beispiel in New York und Wien, jedoch Single aufgrund seiner nicht ganz einfachen Lebensweise. Dieses Mal zeigt er seine pianistischen Künste bei einem Konzert in der Berliner Philharmonie, unter anderem auf dem Programm die « Hammerklaviersonate » von Beethoven. Und dann passiert etwas vollkommen Unterwartetes im letzten Satz, dem zweiten Fugensatz dieser Sonate :

« Etwa drei Minuten vor dem Ende des letzten Satzes der Hammerklaviersonate, diesem Meilenstein der Klaviermusik, etwa nach neun Minuten Spiel, kurz vor Erreichen des Ziels, hielt Marek Olsberg unvermittelt inne und hob langsam die Hände. »

Marek Olsberg beendet ganz unvorhergesehen dieses Stück, steht auf, klappt den Klavierdeckel herunter und murmelt vor sich hin :

« „Das war’s.“ »

Und damit endet eine musikalische Fuge, die nicht nur das live miterlebende Publikum schockiert, sondern auch ganz konkrete Einzel-Lebensschicksale von verschiedenen Menschen, die mit diesem Konzertabend bewusst oder unbewusst, beruflich oder privat miteinander-verknüpft sind, quasi « aus den Fugen » geraten.

Somit lernen wir gleich zu Beginn auch Marek Olsbergs Assistentin Astrid Maurer kennen – eine taffe unverheiratete Frau, die alles für « ihren » Pianisten organisiert, ihn auf Reisen begleitet und keines seiner Konzerte verpasst, bis auf dieses Mal, denn Astrid wurde wie schon so oft genau an diesem Abend von einem Migräneschub überrascht…

Wir treffen auf Esther – verheiratet mit Thomas -, die mit ihrer vom Ehemann verlassen Freundin Solveig in das Konzert geht. Aufgrund des abrupten Endes fährt sie früher nach Hause als ursprünglich geplant und wundert sich, warum ihr Mann nicht in ihrer Wohnung auf sie wartet…

Dann gibt es noch Sophie, die ihre Nichte Klara mit einem klassischen Konzert überraschen möchte und dabei erfährt, warum ihr damaliger Geliebter und jetzt der Freund ihrer Schwester, auch diese betrügt…

Es stossen Johannes, der die Konzertkarten verfallen lässt und Marina, die eigentlich Bettina heisst und als Escort-Service arbeitet, aufeinander. Dadurch wird die Ehefrau von Johannes hellhörig und dummerweise stellt sich auch noch heraus, dass Johannes und Marina sich bereits von früher kennen…

Was wäre ein Konzert nicht ohne anschliessendem Empfang, bei dem der Kellner Lorenz aushelfen sollte, aber es ja aufgrund des Spielabbruchs dazu nicht mehr kommen konnte und er nun aus purer Lust und Langeweile bei dem Sponsorenehepaar in dessen Villa ein paar wertvolle Steine mitgelassen wollte und blöderweise dabei auch noch von der Ehefrau des Sponsors erwischt wird…

Und so kreisen sie alle, die Besucher und Nichtbesucher, um den « verlorenen » Konzertabend und werden sich in ihrem Leben der schmerzvollen, aber gleichzeitig auch hilfreichen Erkenntnisse bewusst, so dass es für viele an der Zeit ist, den Tatsachen ins Auge zu blicken, sich von Ignoranz zu befreien und zu versuchen, einen neuen und anderen Lebensweg einzuschlagen. Alain Claude Sulzer gelingt es meisterlich durch einen wahrlichen musikalischen Kunstgriff, der die Figuren dieses Romans so miteinander verbindet, dass sie zu erst in eine pianistische « Fuge » eintauchen und gleichzeitig aus den Fugen geraten. Man spürt als Leser, wie das vor dem Konzert gelebte Leben plötzlich bei vielen der Romanprotagonisten bröckelt, Risse bekommt, ja fast schon zerfällt.

Alain Claude Sulzer hat diesen Roman so wundervoll feinfühlig, wie ein Komponist seine Musikstücke Note für Note, aufgeschrieben. Jede Figur ist wie ein Instrument in einem grossen Orchester, und nur alle zusammen, auch wenn dadurch die einzelnen Lebensschicksale erst zum Vorschein kommen, bilden letztendlich doch die eigentliche literarische « Symphonie ». Er verwendet eine so klare, sensible, aber trotzdem schnörkelose Sprache. Hier wird nichts romantisiert, ganz im Gegenteil hier wird aufgeräumt und sich befreit von Ballast, schlechten Verhaltensweisen, blöden Gedanken und unguten Gefühlen. Es geht darum, aus dem Schicksal zu lernen und sein Leben in die Hand zu nehmen, wie Marek Olsberg, der endlich aus seinem Programmkorsett entschlüpft ist und sich nun ohne schlechten Gewissens ganz allein in einer Bar ein Bier gönnen kann.

« Aus den Fugen » ist ein ganz besonderer Roman, der sich mehr als zu lesen lohnt, den man nicht nur mit seinen Wort für Wort folgenden Augen aufnehmen sollte, sondern auch mit seinen sehenden « Ohren », denn es handelt sich hier um literarische « Musik » vom Feinsten, die es mit Muse bewusst zu geniessen gilt !

Durchgelesen – „Wir werden zusammen alt“ v. Camille de Peretti

Lassen Sie uns ganz unvoreingenommen hinter die Türen eines Altersheimes blicken, und Sie werden feststellen, dass das Alter weder einfach, noch kompliziert ist und weder langweilig, noch kurzweilig sein muss. Eines ist jedoch wahr, dass alt werden und alt sein mit Glück und Geheimnis verbunden sind. Umso faszinierender ist es für uns Leser – dank Camille de Pretti, die für uns in ihrem Roman „Wir werden zusammen alt“ 64 Türen einer französischen Seniorenresidenz öffnet – diesen Lebensabschnitt auf äusserst sensible, aber durchwegs sehr humoristische und direkte Art zu entdecken.

Camille de Peretti ist 1981 in Paris geboren, studierte Philosophie, arbeitete im Finanzbereich einer Bank und war Fernsehköchin für französische Küche in Japan. Inzwischen lebt sie als freie Schriftstellerin in Paris. Ihr erster Roman „Thornytorinx“ erschien 2005, danach folgte 2006 „Nous sommes cruels“ und 2008 „Nous vieillirons ensemble“, der durch die geniale Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel nun mit dem Titel „Wir werden zusammen alt“ erstmals auf deutsch erscheint.

Der Roman spielt in einem Pariser Altersheim namens „Les Bégonias“ und  ist nach einer besonderen literarischen Technik konzipiert, die auch am Ende des Buches sehr genau und detailliert beschrieben wird. Der Struktur des Textes liegt ein literarisches Virtuosenstück von Georges Perec zu Grunde, nämlich dem Werk „Das Leben . Gebrauchsanweisung“, welches für einen Tag ein Mietshaus öffnet, als wäre es nur der  Querschnitt des Gebäudes ganz ohne Mauern und wo der Leser alles über die Wohnungs-einrichtungen und die Bewohner verfolgen kann. Die Grundbasis dazu war ein Schachbrett, mit 10 mal 10 Feldern und jedes Feld entspricht einem Zimmer oder Teil des Gebäudes. Camille de Peretti hat dieses System übernommen und das Erdgeschoss dieses Altersheims zu einem Schachbrett mit 8 mal 8 Feldern eingeteilt. Somit entstehen insgesamt 64 Kapitel  bzw. Räume, welche nicht klassisch angeordnet, sondern nach dem sogenannten Rösselsprung (wie im Schachspiel zwei vor, einer seitlich oder umgekehrt) eingeteilt werden. Infolgedessen bewegt sich der Leser quasi für einen Tag von morgens 9.00 Uhr fast jede viertel Stunde bis 00.45 Uhr  von einem Raum zum Nächsten.

Während dieses literarisch und stilistisch virtuosen Rundgangs lernen wir die Bewohner, Besucher und Mitarbeiter dieser Seniorenresidenz kennen. Da gibt es zum Beispiel die drei alten Damen Madame Alma, Madame Buissonette und Madame Barbier. Irgendwie können sie sich nicht leiden, aber sie können auch nicht ohne die jeweils andere. Wir lernen Geneviève Destroismaisons kennen, die man als Baronin bezeichnet, obwohl sie gar keine ist. Sie ist die jüngste Bewohnerin und lebt hier, obwohl das Altersheim keine geeignete Einrichtung für Alzheimer-Kranke ist. Aber dafür wohnt ihr Mann gleich in der Nähe und kümmert sich rührend um seine geliebte Frau. Thérèse, eine eher zurückhaltende und feine alte Dame findet hier in „Les Bégonias“ die Liebe ihres Lebens. An Bord dieser Residenz ist auch noch der selbsternannte Kapitän Dreyfus, der Madame Alma und den zwei anderen Damen immer irgendwelche Anweisungen gibt, damit sie sich auch hier auf dem „Alten-Schiff“ richtig benehmen.

Auch das Personal ist bei dieser spannenden Truppe ganz schön gefordert. Philippe Drouin, der Direktor dieses Altenheims, ist Junggeselle und sammelt Briefmarken, seitdem er sich über das Verschwinden seiner ehemaligen Freundin hinwegtrösten muss. Er ist ständig in Alarmbereitschaft und kümmert sich vorwiegend um die grossen Probleme, wie zum Beispiel um die defekte Kühlung, die so einiges Chaos verursacht, nachdem die Leiche einer Bewohnerin zu wenig gekühlt wurde und nun überall Ameisen herumlaufen.

Die Besucher kommen und gehen, manchmal nur für zehn Minuten, andere erst nach vier Wochen. Alle haben immer irgendwie ein schlechtes Gewissen, dass sie sich zu wenig um die Alten kümmern. Wie zum Beispiel Camille, die ihre Tante immer in „Les Bégonias“ besucht, und feststellt, dass sie all dies, was ihre Tante für sie getan hat, niemals wiedergutmachen könnte. Hier spürt der Leser eindeutig die auto-biographischen Züge des Romans und die echten Erfahrungen, die Camille de Pretti selbst gemacht hat, als sie ihre Großtante in einem Altersheim regelmässig besuchte.

Wir werden zusammen alt“ ist ein sprachliches und literarisches Kunststück, ja fast schon ein Kunstwerk, welches mit Witz, Humor, Ironie und ungeschönter Klarheit ein sehr brisantes und nicht unbedingt einfaches Thema beschreibt. Wer möchte schon gerne alt werden, wer freut sich auf das Alt sein und wer sehnt seinen Lebensabend in einem Altersheim herbei? In diesem Roman werden viele Schicksale beschrieben, doch auch wenn sie vielleicht im ersten Moment eher traurig und deprimierend erscheinen, löst Camille de Peretti mit ihrer unglaublichen Virtuosität und ihrem Charme beim Leser nicht nur Schmunzeln, sondern lautes Lachen aus. Man sollte dieses Buch langsam lesen, sich mit grosser Aufmerksamkeit auf diesen besonderen Rundgang durch ein mit herrlich französischen Flair ausgestattetes Altersheim begeben und jede Zeile dieses hervorragenden Schreibstils aufsaugen. Vielleicht können wir uns mit Hilfe dieses wunderbaren Romans einer dreissig Jahre jungen Schriftstellerin auf das unverhinderbare alt werden vorbereiten, es versuchen anzunehmen, um letztendlich das alt sein mit Lust und Freude zu geniessen, bevor es zu spät ist!