Durchgelesen – „Hector fängt ein neues Leben an“ v. François Lelord

Wer träumt nicht davon – gerade am Anfang eines neuen Jahres – endlich ein neues Leben anzufangen. Doch, was bedeutet dies eigentlich genau, ein neues Leben. Werfen wir das Alte einfach weg, wie einen verfaulten Apfel, oder wollen wir doch nur einige Aspekte des bisherigen Lebens verändern !? Diese Frage stellen sich viele Menschen Jahr ein Jahr aus, doch dass auch ein Psychiater ganz persönlich mit diesem Problem des « neuen Lebens » konfrontiert wird, mag im ersten Moment vollkommen unverständlich sein, wo genau doch dieser Berufszweig ja gerade zu prädestiniert ist, Menschen für die Umsetzung eines Neubeginns zu unterstützen. Deshalb freuen wir uns sehr, dass François Lelord mit seinem aktuell erschienen – inzwischen bereits – sechsten Band der Hector- Reihe uns auf eine sehr charmante und vor allem Augen öffnende Reise duch die nicht ganz so einfache « Lebensneugestaltung » mitnimmt.

François Lelord – geboren am 22. Juni 1953 in Paris – studierte Medizin und Psychologie. Nach seiner Promotion 1985 arbeitete er für ein Jahr an der University of California in Los Angeles. Im Anschluss war er zwei Jahre als Oberarzt am Hôpital Necker der Universität Paris V tätig. Von 1989 an praktizierte Lelord in seiner eigenen Praxis, die er 1996 aufgab, um in Unternehmen und Institutionen die Personalabteilungen im Bereich Arbeitssituation und Stress zu beraten. Seit 2004 arbeitet er als Psychiater in Krankenhäusern in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt. François Lelord lebt seit 2008 mit seiner vietnamesischen Frau abwechselnd jeweils sechs Monate in Paris und Bangkok. Er hat viele Fachbücher zu psychologischen Themen mit Christophe André veröffentlicht. Seine Roman-Reihe rund um den intellektuellen Psychiater Hector sind nicht nur in Frankreich ein grosser Erfolg, sondern weltweit, vor allem in Deutschland. Somit wird das deutschprachige Publikum mit diesen neuen und besonders empathischen Roman rund um das Thema Midlife-Krise – dank der wunderbaren Übersetzung durch Ralf Pannowitsch – ein paar schöne und lehrreiche Lesemomente erleben.

« Es war einmal ein Psychiater, der hiess Hector, und so richtig jung war er leider nicht mehr. »

Das ist wohl wahr. Hector arbeitet als Psychiater in seiner eigenen Praxis, ist verheiratet mit Clara und hat zwei inzwischen erwachsene Kinder – eine Tochter und einen Sohn. Er liebt seine Frau, vermisst seine Kinder und träumt hin und wieder von einem anderen Leben. Doch er hatte bis jetzt nicht viel Zeit, um zuviel über sein Leben nachzudenken, denn seine Patienten fordern seine ganze Aufmerksamkeit. Da gibt es zum Beispiel Olivia, eine Kunstlehrerin, die gerne ein anderes Leben möchte. Hector stellt bei ihr eine « Midlife-Crisis » fest, und ist selbst von dieser Diagnose nicht ganz überzeugt :

« Die Midlife-Crisis war ein bisschen wie die Lautsprecheransage: « Liebe Kunden, unser Geschäft schliesst in wenigen Minuten, bitte beeilen Sie sich, Ihre Einkäufe für ein neues Leben zu erledigen, denn sonst wird es zu spät dafür sein. » »

Aber auch eine andere Patientin von Hector, Sabine – eine verheiratete Frau mit grosser Karriere, glaubt es wäre Zeit an sich zu denken… und fragt sich, ob sie nicht in der Midlife-Crisis stecken würde. Alle seine Patienten, wie auch Roger, Tristan und Léon, suchen einen Weg in ein neues und besseres Leben. Und wer war es, der versuchte diesen Aufbruch zu realisieren, es war Hector. Doch auch er fühlte sich in der letzten Zeit immer mehr in seiner Praxis eingesperrt. Selbst eine Einladung bei Freunden bewirkt keineswegs eine Verbesserung, ganz im Gegenteil, er langweilt sich und wird ein wenig ungehalten als ein weiblicher Gast von der eigenwilligen Pychotherapie seiner Freundin berichtet, da Hector diese für idiotisch hält. Glücklicherweise ist sein alter Freund François ebenfalls Gast, der Hector mit einem Gespräch über die architektonischen Schönheiten der Stadt Paris etwas abzulenken versucht.

Dieser Abend gab Hector Anlass, sich über sein Leben endlich mehr Gedanken zu machen. Er spürte nun auch die Traurigkeit bei Clara und das Gefühl, irgendetwas sollte sich ändern. Hector trifft sich erneut mit François und begibt sich ganz unbewusst in eine Art « Therapie à la française ». Die Beiden entdecken schöne Restaurants und sprechen intensiv über Hectors Leben. François erkennt Hectors Probleme und diagnostiziert :

« « Erstens – berufliches Burn-out… » … « Zweitens – Leeres-Nest-Syndrom. » … « Und drittens und letztens », sagte der alte François, wobei er beide Hände hob und mit den Zeigefingern und Mittelfingern imaginäre Gänsefüsschen in die Luft zeichnete, « eine hübsche kleine Midlife-Crisis. » »

François amüsiert sich, Hector muss dies alles erst verarbeiten und ist plötzlich sehr entzückt über die charmante Enkelin (Ophelia) von François, die ihren Grossvater im Restaurant mit einem Besuch überraschte. Und ausgerechnet Ophelia braucht einen Interviewpartner für ihr Studium in Punkto Psychiatrie. Die Ereignisse überstürzen sich, die Patienten fordern nach wievor wichtige Hilfestellung durch Hector. Clara wird von ihrer Firma aus für vierzehn Tage nach New York geschickt und Hector entdeckt mit und durch Ophelia nicht nur seine Stadt Paris, sondern auch die Verliebtheit und die Kunst mit seinen besten « Jahren » besser umgehen zu lernen und dadurch wahre Gefühle zu erspüren…

« Hector fängt ein neues Leben an » ist ein wunderbarer – im ersten Moment leichtfüssig erscheinder – Roman, der jedoch bei genauem Hinsehen bzw. Lesen eine Fülle von wichtigen psychologischen Botschaften raffiniert und französisch charmant versteckt, die bei Ihnen, verehrter Leser, sicherlich ein Wohlgefühl erzeugen werden.

François Lelord hat mit diesem sechsten Hector Roman ein sehr persönliches und äusserst zeitloses und vor allem auch unterhaltsam lehrreiches Buch geschrieben, das präsente Themen wie Burn-out und Midlife-Krise sehr realistisch mit Hilfe von Hectors Patienten und Hector selbst erläutert. Und er zeigt in faszinierend sensibler Weise auf, dass selbst Psychiater von diesen Problemen keineswegs gefeit sind. Dieses Buch könnte ein sehr schöner romanesker Lebensbegleiter werden, denn dieses Werk initiiert einen Nachdenkensprozess über das eigene Leben und gibt gleichzeitig subtile und besonders feinfühlige Anregungen für neuen Mut, sein aktuelles Leben entweder zu verändern oder es für sich liebevoll so zu akzeptieren, wie es ist !

Durchgelesen – „Ein besonderer Junge“ v. Philippe Grimbert

Das Adjektiv « besondere » kann viele Bedeutungen haben, sowohl negative, als auch positive. Was heisst es nun wirklich ein « besonderer Junge » zu sein : abgesondert, eigen, oder doch eher aussergewöhnlich, bemerkenswert oder vielleicht sogar auch herausragend, überragend, ja quasi exzellent. All diese Synomyme lassen sich für das Wort « besondere » einsetzen, doch letztendlich bleibt es mehr oder minder fast schon eine persönliche Interpretationsfrage, bei welcher uns jedoch Philippe Grimbert auf erzählerischer Weise meisterhaft Hilfestellung leisten kann.

Philippe Grimbert (geboren 1948 in Paris) kennt sich aus mit dem « Besonderen » beim Menschen, vorallem bei Kindern und Jugendlichen. Er arbeitet seit Jahren als Psychoanalytiker mit Schwerpunkt in der Jugendpsychiatrie. Nach einer mehr als zehnjährige Anlayse mit einem Lacan-Anhänger eröffnete er seine eigene Praxis. Er ist an zwei verschiedenen medizinisch-pädagogischen Einrichtungen tätig und beschäftigt sich bespielsweise auch verstärkt mit dem Autismus bei Jugendlichen. Neben seinen zwei psychoanalytischen Essais schrieb er vier Romane, unter anderem « Das Geheimnis ». Ein Buch, das mit vielen Auszeichnungen wie zum Beispiel dem Prix Goncourt des Lycéens 2004 geehrt und sehr erfolgreich 2007 verfilmt wurde. Aktuell dürfen wir dank der ausgezeichneten Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller seinen Roman « Ein besonderer Junge » in deutscher Sprache entdecken, der unter dem Titel « Un garçon singulier » bereits 2011 in Frankreich erschienen war.

Der Roman spielt in den Siebziger Jahren, beginnt in Paris und entwickelt sich dann hauptsächlich weiter in einem kleinen Badeort in der Normandie.

Es gibt drei Hauptprotagonisten! Louis, ein junger Student, der sich in Paris mehr als recht durch sein Studium kämpft, ja fast schon quält. Er wechselt von den Geisteswissenschaften zu Jura, doch am Liebsten würde er sein Studium hinschmeissen, aber sein Vater hat ihm auch noch gedroht, den Geldhahn abzudrehen. Somit bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als eine Stelle zu finden, um Geld zu verdienen. Und glücklicherweise entdeckt er ein Inserat: es wird ein junger motivierter Mann für die Betreuung eines besonderen Jugendlichen gesucht. Louis fühlt sich sehr angesprochen hinsichtlich dieser Annonce :

« Zwei Worte an dieser von Hand geschriebenen Anzeige zogen mich an.
Wenn sie mich nicht gerade den grossen Schweiger nannten, sagten meine Eltern wie der Verfasser der Anzeige, ich sei ein besonderer Junge. Meine Neigung zum Alleinsein beunruhigte sie stets : Als Kind spielte ich nie mit anderen, und als Jugendlicher zog ich die Gesellschaft meiner Lieblingsautoren allen Bekanntschaften vor. »

Aber es war nicht nur das Wort « besondere », was ihn so anzog, es war auch der Ort Horville, der in der Anzeige genannt wurde, wo die Betreuung stattfinden sollte. Dieser Ort war für Louis ein Ort aus der Kindheit. Er verband damit einen bestimmten Geruch und viele Erinnerungen an eine Zeit, die er dort mit seinen Eltern verbracht hatte.

Louis trifft sich mit dem Vater des besonderen Jugendlichen aus der Anzeige, der nur eine kleine Nebenrolle in diesem Roman einnimmt. Sie werden sich schnell einig und Louis hat den Job, wird bei dessen Frau – Helena -, angekündigt und fährt kurz darauf mit seiner alten « Ente » (2CV) nach Horville.

Neben Louis sind die zwei anderen Hauptprotagonisten in diesem Buch nun Helena und der besondere Junge mit dem Namen Iannis. Nach einer kleinen Irrfahrt und im Dunkeln spät abends findet Louis nun endlich die Villa. Er wird sehr herzlich von Helena empfangen, kann sein Zimmer gleich beziehen und darf anschliessend mit Helena ein Glas zur Begrüssung trinken. Sie fällt gleich mit der Tür ins Haus, vermittelt Louis, wie froh sie sei, dass er endlich da wäre, damit sie sich nun nur noch ihrem Projekt – wie sie es immer diplomatisch nannte – widmen könne. Helena klärt Louis über ihren Sohn Iannis auf :

« „Unser Sohn ist ganz und gar unfähig zu den menschlichen Beziehungen, die sein Vater zum Beruf hat, und er kann weder lesen noch schreiben, obwohl seine Mutter Schriftstellerin ist ! Mehr noch, Iannis spricht nicht. Doch er hat zahlreiche Mittel, um sich verständlich zu machen… Nicht immer angemessene Mittel, wie man einräumen muss, vor allen Dingen nicht bei einem sechzehnjährigen Jungen !“ »

Die erste Nacht konnte Louis nicht gut schlafen. Bevor er zu Bett ging, warf er noch einen Blick ins Nebenzimmer, dem Zimmer wo Iannis bereits schlummerte. Er lag in einer Art Embryo-Stellung und wirkte hilflos, ja ängstlich. Am nächsten Tag begegnete Louis nun seinem « Schützling » zum ersten Mal. Er sah ihn wippend auf dem Bett, gleichzeitig schlug er sich selbst. Louis wollte ihn trösten und versuchte, ihn sanft zu berühren, was er beim zweiten Anlauf überraschender Weise angenommen hatte. Dies war nun der Beginn von Louis neuer Tätigkeit. Er musste sich um das Wohl von Iannis kümmern, aber auch gleichzeitig für die daraus entstehende Ruhe für Helena sorgen, damit sie sich ganz auf ihr Schreiben konzentrieren konnte. Louis war eine Art männliches Au-Pair-Mädchen, hatte Kost und Logis frei und verdiente für seine « Pflegearbeit » noch etwas Geld dazu.

Doch nicht nur Iannis war ein besonderer Junge, auch Helena war eine besondere Mutter. Sie fühlte sich in der Gesellschaft von Louis sehr wohl, und wollte dies in verschiedenen Aspekten gerne ausweiten. Doch Louis war nicht nur überrascht, sondern sehr irritiert, vor allem weil er nicht im Geringsten Lust auf eine Affaire bzw. ein Abenteuer hatte. Und er hatte Skrupel gegenüber Iannis, der trotz seiner « Verschlossenheit » jede Art von emotionaler Schwingung sofort spüren würde. Doch Helena konnte die abweisende Reaktion von Louis nicht verstehen :

« Ihr Gesicht erstarrte, ein Schatten huschte durch ihren Blick. Ich glaubte zu sehen, dass ihre Augen feucht wurden, doch sie fasste sich und brach in Gelächter aus.
„Ein Junge aus dem letzten Jahrhundert ! Und ausgerechnet auf ihn muss ich treffen !“
….
Ich hatte ihr nichts entgegenzusetzen, sie reagierte auf diese Kränkung auf dieselbe Weise wie auf das rätselhafte Verhalten von Iannis : mit Ironie und Grobheit. »

Wie wird sich Louis weiterhin verhalten? Kann er sich nach wie vor der Mutter von Iannis entziehen, kann er mit seinen psychologischen Fähigkeiten auch ihre « erotischen » Probleme lösen, ohne dazu die eigentliche Aufgabe zu vernachlässigen und ohne sein bereits gewonnes Vertrauen gegenüber Iannis zu gefährden?

« Ein besonderer Junge » ist ein wundervolles, sehr intimes, intensives und äusserst psychologisch anmutendes Werk. Philippe Grimbert versucht dem Leser die « Besonderheiten » des Menschen, hier in diesem Fall nicht nur eines Jungen, sondern auch dessen Mutter und eines jungen Studenten literarisch zu verdeutlichen. Man kann die bereits eingangs gestellte Frage bezüglich der Interpretation des Wortes « besondere » nach dieser berührenden Lektüre ganz privat für sich selbst beanworten. Hier wird das « Besondere » nicht nur zu einem « Problem », es verwandelt sich in etwas Aussergewöhnliches und Einmaliges, wie bereits der französische Titel « Un garçon singulier » noch vielmehr herausstellt. Denn « singulier » würde man zum einen als « sonderbar » und « eigenartig » und zum anderen aber auch als « erstaunlich » übersetzen. Also auch hier findet sich diese ausserordentliche, zwar gegensätzliche – positiv wie negativ –, aber trotzdem ergänzende und vor allem versöhnliche Bedeutung.

Philippe Grimbert zaubert mit seiner psychoanalytischen Erfahrung, gibt seiner Sprache eine sehr subtile, aber zarte Tiefe und initiert bei dem Leser ein ganz neues Gespür für sehr starke Gefühle, die sich fast wie in einem Thriller Schritt für Schritt steigern. « Ein besonderer Junge » ist ein grandioses Buch, das von beeindruckenden Chrakteren geprägt wird, in einer traumhaft schönen Landschaftkulisse spielt und als Krönung noch dazu beiträgt, den Herbst mit letzten Sommergefühlen poetisch zu erfüllen.

Durchgeblättert – „FREUD“ v. Corinne Maier u. Anne Simon

Geniessen Sie auch so gerne Ihre Couch, um sich zu entspannen, nachzudenken, zu schlafen oder zu lesen ? Es gibt viele Gründe, dieses sehr bequeme, praktische und « kluge » Möbel besonders im Hinblick auch auf die Psychoanlayse für sich zu entdecken. Vielleicht wäre dies somit der perfekte Anlass, sich « FREUD » zu widmen bzw. ihn erstmals « persönlich » richtig kennenzulernen. Bei « FREUD » handelt es sich um die genial umgesetzte Graphic Novel über das Leben und Arbeiten von Sigmund Freud, welche den Leser in ironisch unterhaltsamer Manier in die Welt der Psychoanalyse einführt und auf eine Reise von Wien über Paris nach London mitnimmt.

Zwei besondere Frauen haben sich Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanlayse, auf ganz aussergewöhnliche Weise genähert, so dass sowohl der interessierte Laie als auch der Kenner begeistert sein werden:
Die « Textarbeit » für dieses ungewöhnliche Projekt übernahm Corinne Maier (geb. 1963 in Genf). Nach verschiedenen Studiengängen vollendete sie ihren Abschluss am Institut d’études politiques de Paris und ergänzte ihre universitäre Karriere mit zwei Diplomen in Internationale Beziehungen und Wirtschaft. Sie ist Historikerin, Soziologin und Psychoanalytikerin, inzwischen praktizierend in Brüssel und Paris. Berühmt wurde sie durch ihren Welterfolg « Bonjour Paresse » (« Die Entdeckung der Faulheit »), das die Strukturen eines grossen französischen Energie-konzerns anprangert. Kurz nach Erscheinen dieses Titels wurde sie von ihrem damaligen Arbeitgeber entlassen und widmet sich seitdem nur noch dem Schreiben und der Arbeit als Psychoanalytikerin.
Für die « Bild- und Zeichenarbeit » bei dieser Graphic Novel ist Anne Simon verantwortlich. Nach ihrem Studium an der École Supérieure de l’Image in Angoulême und bei « Arts Décoratifs » in Paris wurde sie als « Junges Talent » auf dem Féstival d’Angoulême 2004 ausgewählt. Sie hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher bebildert und gehört zu den bekanntesten Illustratorinnen und Comiczeichnerinnen Frankreichs.

Mit ihrem Gemeinschaftswerk « FREUD », das bereits in Frankreich 2011 erschienen ist, geben das Duo Maier und Simon – dank der Übersetzung von Anja Kootz – glücklicherweise endlich ihr Debüt für die deutschsprachige Leserschaft.

Corinne Maier lässt Sigmund Freud sein Leben selbst erzählen. Es ist eine Biographie – bzw. eine « Autobiographie » der Sonderklasse, da Freud zum Ich-Erzähler wird und sich dadurch dem Leser besonders authentisch und greifbar vorstellt :

« Ich bin Freud. Ich bin der Erfinder der Psychoanalyse… Und das war kein Zuckerschlecken, kann ich Euch sagen ! Und kein Strudel… Ihr wisst schon dieses Gebäck aus Wien. »

Natürlich werden wir in diesem Band bei nur 55 Seiten nicht das detaillierte Schaffen dieses Mannes lesenderweise erfassen können. Hier werden die Eckpunkte seines Lebens und die herausragenden wissenschaftlichen Erkenntnisse raffiniert und äusserst klug komprimiert, so dass man trotz der Kürze einen doch sehr kompetenten ersten Eindruck über das Wirken von Sigmund Freud erhält.

Corinne Maier beginnt chronologisch und setzt, wie bereits erwähnt, ihren Schwerpunkt auf die wichtigsten Ereignisse in Freuds Leben. Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg (Mähren, damals Kaisertum Österreich) geboren. Er studierte an der Universität Wien Medizin, lernte Martha – seine erste Frau – kennen, verliebte sich in sie, wollte sie unbedingt sofort heiraten, aber ihre Mutter fand einen Studenten als Schwiegersohn eher unpassend. Somit musste Martha noch etwas warten. Freud forschte weiter, machte mit Kokain seine ersten Experimente und erhielt ein Forschungsstipendium für Paris. Er traf auf Charcot, einem weltbekannten Neurologen, der mit Hypnose bereits Patienten behandelte. Nach der Rückkehr arbeitete er kurzzeitig mit Professor Breuer zusammen, der bereits die Hypnose in einer verfeinerten Form an dem Fall Anna O. ausprobierte, der jedoch nicht so erfolgreich endete, wie man gedacht hatte. Freud dagegen entwickelte seine eigene Methode bei der die Patienten sich auf einen Diwan legen sollten:

« Sprechen Sie aus, was Ihnen durch den Kopf geht. »… « Die Hypnose ist gar nicht nötig. Es genügt den Patienten frei reden zu lassen.»

Dies war die « Geburt » der Psychoanalyse, eine « revolutionäre » Erfindung zur Heilung von Nervenkrankheiten, die nicht nur für das Leben von Sigmund Freud, sondern auch für die ganze Menschheit eine damals noch nicht vorhersehbare Bedeutung erlangen würde.

Corinne Maier und Anne Simon erklären uns auf so humorvolle und intelligente Weise spielerisch die Theorien Sigmund Freuds. Wir lernen u.a. den Ödipus-Komplex kennen, den Todestrieb und den Penisneid. Die erstaunlich prägnanten und kurzweiligen Sprechblaseninhalte von Corinne Maier und die grandiose zeichnerische Plastizität erzeugt durch einen Hauch naiver Malkunst durch Anne Simon machen diese Graphic Novel zu einem echten Hingucker und schenken uns ein sehr grosses Lesevergnügen.

Es gelingt den beiden Künstlerinnen die Komplexität der Welt Sigmund Freuds in eine gleichzeitig absolut vergnügliche und lehrreiche Form zu packen. Dieses Album ist eine perfekte kleine Einführungsstunde in die Psychoanalyse und ihren Erfinder. Es gibt Einblicke in die damalige Zeit und zeigt einen Mann, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu den grössten Visionären seiner Epoche gehörte und dadurch ein sehr nachhaltiges und wichtiges Erbe hinterlassen konnte. Selbst im 21. Jahrhundert, wie er selbst sagt: « …braucht man mich immer noch… ».

Dieses Buch ist sowohl ein wunderbarer Einstieg für diejenigen, die Freud noch nicht wirklich kennen, als auch ein nicht minder amusantes und interessantes Werk für den echten Insider. Lebendig und bunt – wobei hauptsächlich die Farben rot, orange, braun und grün im Vordergrund stehen – präsentiert sich diese sehr gelungene « Kontaktaufnahme » mit einem der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts.

Worauf warten Sie noch, verehrter Leser ? Sie dürfen sich jetzt mit « FREUD » auch auf den Diwan legen und Sie werden es nicht bereuen, denn selten konnte man mit so viel Spass Information und Wissen durch Bilder und Wörter erlesen, wie bei diesem äusserst gelungenen und gestalterisch sehr ansprechenden Buch-Projekt!

Durchgelesen – „Der gute Psychologe“ v. Noam Shpancer

Gehen Sie bereits regelmässig zur Ihrem Psychotherapeuten ? Oder leben Sie mit Ihren Sorgen und Ängsten ganz alleine ? Vielleicht haben Sie bereits ernsthaft über eine Psychotherapie nachgedacht, doch Ihr Vertrauen gegenüber Psychologen ist nur noch nicht gross genug. Dies wird sich jedoch spätestens durch die Lektüre dieses äusserst informativen, klugen und humorvollen Romans « Der gute Psychologe » ändern.

Noam Shpancer wurde 1959 in einem Kibbuz geboren. Er ist Professor für klinische Psychologie an der Universität Ohio und arbeitet daneben als Therapeut in einer Klinik für Kognitive Therapie. Noam Shpancer ist spezialisiert auf Ängste, die in seinem Erstlingsroman « Der gute Psychologe »  – welcher nun ganz aktuell in deutscher Übersetzung vorliegt – erläutert und erfolgreich behandelt werden.

Die Hauptfigur in Noam Shpancer’s Roman ist – wie sollte es auch anders sein – der Psychologe, dessen Namen wir als Leser jedoch nie erfahren werden. Der Psychologe ist nicht nur Therapeut mit Spezialisierung auf Angstpatienten, die er in seiner eigenen Praxis empfängt. Er unterrichtet auch an der Universität als Dozent und versucht seinen Studenten zu erklären, was es bedeutet, ein « guter » Psychologe zu sein. Doch darüber hinaus ist er einfach Mensch, Mann und Single. Wobei er jedoch eine Tochter mit einer verheirateten Kollegin (Nina) hat, seine ehemalige grosse Liebe, die sich von ihrer Seite seit einigen Jahren aus privaten Gründen in eine rein fachliche Freundschaft verwandelte.

Der Psychologe kämpft oft mit seinen Gefühlen, vor allem dann wenn er an seine Tochter denkt. Aber Emotionen sind in der Praxis als Therapeut kein hilfreicher Ratgeber, sie sollten eher in den Hintergrund treten, damit er sich ganz neutral seinen Patienten widmen kann. Er arbeitet in der Regel nur bis drei Uhr nachmittags. Doch für eine neue Patientin, die als Tänzerin in einem Nachtclub arbeitet, macht er eine Ausnahme und empfängt sie Freitags um 16.00 Uhr :

« « Die Erfahrung einer Panikattacke ist sehr verstörend und abrupt, ohne erkennbaren Grund. Es gibt eine natürliche Neigung, einen äusseren Grund für diese Gefühle zu suchen. »
« Sie glauben, ich sei verrückt ? »
« Ich weiss nicht, was das ist. »
« Sie sind Psychologe und wissen nicht, was verrückt ist ? » »

Die Nachtclub-Tänzerin braucht Hilfe, sie kann nicht mehr tanzen, sie hat Angst vor jedem Auftritt. Der Psychologe ist mehr als gefordert, seine Patientin wieder in das « Leben » zurückzuführen. Er ist selbst überrascht, wie sehr ihn dieser Fall beschäftigt und auch sein ganz persönliches Leben beeinflusst. Glücklicherweise kann er sich immer bei Nina einen psychologischen Rat holen, der ihm hilft, selbst die richtigen Therapie-Entscheidungen zu treffen. Auch seine Studenten holen ihn sozusagen wieder auf den theoretischen Boden zurück, denn sie erwarten von ihrem Dozenten, nicht nur praktische Tipps, sondern eine fundierte psychologische Theorie. Und genau zwischen diesen doch sehr unterschiedlichen Welten – zwischen Praxis und Theorie –  lebt und arbeitet ein Psychologe. Er sollte stets bestimmte Richtlinien befolgen, um nicht seinen Gefühlshaushalt und den seiner Patienten vollkommen durcheinander zu bringen :

« Ein guter Psychologe hält Distanz und lässt sich nicht in die Ergebnisse seiner Arbeit verstricken. Die richtige Distanz erlaubt einen genauen und klaren Blick. Ein guter Psychologe überlässt die Sache mit der Nähe Familienangehörigen und geliebten Haustieren, und die Sache mit der Rettung überlässt er religiösen Bürokraten und Exzentrikern an Straßenecken. »

Diese und viele weitere theoretische Erkenntnisse erklärt er seinen Studenten. Doch auch ein guter Psychologe ist nicht davon gefeit, das Persönliche und das Professionnelle zu verwischen, was ungeahnte und gefährliche Konsequenzen mit sich bringen kann…

« Der gute Psychologe » ist ein ganz besonderes Buch. Verpackt in eine Art Sachbuch-Roman werden wir in die spannende Welt der Psychotherapie und der Ängste entführt. Brillant konzipiert erzählt uns Noam Shpancer die Geschichte einer Frau, einer Nachtclub-Tänzerin, die mutig genug ist, sich Hilfe bei einem Psychologen zu holen, um zu lernen, mit ihren Ängsten zu leben, statt sie zu unterdrücken. Wir werden Zeuge verschiedenster Therapiestunden, entdecken psychologische Zusammenhänge, spüren die Ohnmacht und das Gefühlsdurcheinander, aber auch die Hilfestellung und die psychologische « Heilung ». Der Leser entdeckt aber auch das Gefühlsleben – was übrigens auch Ängste beinhaltet –  des Psychologen, welches in der Regel jedem Patienten während der realen Therapie eher verborgen bleibt.

Und gleichzeitig habe wir die Möglichkeit an einem Mini-Studium in Psychologie teilzunehmen, was nicht nur Wissen und Informationen über Psychotherapie und Psychologie im Allgemeinen von Seiten des Dozenten beinhaltet, sondern wir werden Student und verfolgen die Probleme unserer Kollegen, die nicht nur psychologischer Natur sind.

Noam Shpancer ist ein brillantes Werk gelungen. « Der gute Psychologe » ist ein Roman, der die geheimnisvolle Welt der Psychotherapie öffnet, für jeden Menschen zugänglich macht, auch wenn er noch mutlos und voreingenommen sein sollte. Ein Roman, der verblüfft, Neugierde auslöst und hilft. Denn selten ist eine Psychotherapie so günstig, humorvoll, transparent und praktisch wie in diesem Buch. Lassen Sie sich einen « Lese-Termin » geben, Sie werden sehen, wie angenehm und befreiend es ist, bei diesem « guten Psychologen » Patient sein zu dürfen…

Durchgelesen – „Die besten Wochen meines Lebens…“ v. Martin Page

« Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verliess, die ich gar nicht kannte. » so lautet der vollständige Titel der deutschen Übersetzung dieses äusserst poetischen und originellen Romans. Aber den eigentlichen literarischen Schlüssel dieser feinen Liebeskomödie findet man leider nur im französischen Titel « Peut-être une histoire d’amour ». Das « peut-être » (vielleicht, oder kann sein) beschreibt das wahre Geheimnis dieser Geschichte, ein Geheimnis, das sich um die Schwierigkeiten, Höhen und Tiefen des realen oder fiktiven Lebens dreht, in welches der Leser hier ganz en passant spielerisch eintaucht.

Martin Page, geboren am 7. Februar 1975, verbrachte seine Jugend in einem südlichen Pariser Vorort. Er hatte viele Studiengänge wie zum Beispiel Jura, Psychologie, Philosophie, Kunstgeschichte und Soziologie begonnen, aber niemals abgeschlossen. Er arbeitete unter anderem als Nachtwächter und Putzmann. Mit 25 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman (« Comme je suis devenu stupide ») und lebt seit einigen Jahren als Schriftsteller in Paris, wie der Hauptprotagonist aus seinem Roman « Die besten Wochen meines Lebens… », welcher übrigens 2008 mit einem der wichtigsten französischen Literaturpreise dem « Prix Renaudot » ausgezeichnet und in zwanzig Sprachen übersetzt wurde.

« Die besten Wochen meines Lebens … » erzählt die Geschichte eines sehr erfolgreichen und attraktiven Pariser Junggesellen. Dieser junge Mann mit dem Namen Virgile, dreissig Jahre alt und ein Hypochonder wie er im Buche steht, arbeitet in einer sehr angesehenen Pariser Werbeagentur, die sich ganz in der Nähe des Louvre befindet. Ein Quartier, das ihm eigentlich nicht gefällt, ausser der Buchhandlung Delamain, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet, und für ihn oft als Rückzugsort dient. Trotz seiner herausragenden beruflichen Fähigkeiten, die sogar eine angemessene Beförderung entstehen lassen, welche er aber keinesfalls annehmen möchte, ist sein Leben eher ein Trauerspiel im Hinblick auf Liebesbeziehungen. Um es auf den Punkt zu bringen : Virgile wird ständig von den Frauen verlassen, was sein bereits sehr schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl noch mehr ins Wanken bringt. Doch spätestens an dem Tag, als per Anrufbeantworter Clara ihm mitteilt, ihn zu verlassen, ändert sich sein ganzes Leben. Doch wer ist eigentlich Clara ?

Virgile wird durch diese Trennung – von einer ihm unbekannten Frau – vollkommen aus seinem genau durchgeplanten Leben herausgerissen. Aber vielleicht sind diese Worte auf dem Anrufbeantworter wie ein unerwünschtes Geschenk, um seinem Leben ganz unbewusst eine neue Wendung geben zu können. Bis jetzt kann Virgile keinesfalls ohne seiner Therapeutin Frau Dr. Zetkin leben. Er kleidet sich immer gleich und hat seinen privaten Lebensmittelpunkt im 10. Arrondissement von Paris:

« Er wohnte in einer Absteige in der Rue de Dunkerque, genau gegenüber von der Gare du Nord und ihren Statuen. Im Erdgeschoss des Gebäudes befand sich ein Porno-Kino, das Calypso. Von den sechzehn Wohnungen dienten fünfzehn dem Austausch von Geld und Sekreten. Er hatte eine lange Zeit gebraucht, um sich an das ständige Stöhnen der Prostituierten und ihrer Kunden zu gewöhnen ; heute störte es ihn nicht mehr als Konzert der Grillen in der Provence. Aus seiner Wohnung drang wenig Getöse, Geschrei und Gebrüll nach draussen. Sein Tod hätte eine ernste Konsequenz, das wusste Virgile : Die Studien der gefühlsmässigen Katastrophen würden dramatisch ins Stocken geraten. »

Und nicht nur die Studien würden ins Stocken geraten, sein ganzes Leben und vor allem die bis jetzt erfolglose Suche nach  einer Liebesbeziehung wären nur noch Schall und Rauch. Virgile ist vollkommen verwirrt, die Angst vor dem Tod, besonders vor einer unheilbaren Krankheit, wird durch diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter immer grösser. Er denkt zwar auch an einen üblen Streich, doch ein Leiden, wie die Frühdemenz, scheint ihm immer wahrscheinlicher. Er kündigt sämtliche Anschlüsse wie Telefon und Strom und letztendlich so gar den Mietvertrag, weil er sicher ist, schwer krank zu sein. Virgile lässt sich durch eine Überweisung von seiner Psychoanalytikern in den Computertomographen schieben, um jegliche Anzeichen auf Frühdemenz oder andere Krankheitsbilder auszuschliessen. Zu seinem Erstaunen ist er vollkommen gesund, was seine Therapeutin nicht im geringsten verwundert.

Doch das Leben von Virgile, der übrigens nie ohne Marc Aurels Selbstbetrachtungen verreisen würde, steht weiterhin auf dem Kopf. Seine Ex-Freundinnen versuchen ihn zu trösten wegen Clara und unbekannte Menschen besichtigen seine Wohnung. Er sucht nicht nur nach Erklärungen, sondern auch nach Lösungen. Auch seine Angst, dass er durch die Liebe zu einer Frau, seine grosse Liebe zu Paris verlieren könnte, bereitet ihm grosses Kopfzerbrechen. Virgile merkt jedoch immer mehr, wie sehr ihm plötzlich Clara fehlt. Und deshalb entschliesst er sich, die unbekannte, geheimnisvolle Frau zurückzuerobern…

Martin Page hat mit seinem Buch « Die besten Wochen meines Lebens… » nicht nur eine subtile französische Komödie über einen ziemlich verrückten Grossstadtneurotiker geschrieben, sondern auch einen sehr intelligenten und witzigen Roman vorgelegt, der sich durch seine besonders raffinierte erzählerisches Qualität auszeichnet.

Wie bereits eingangs erwähnt, geht es hier um das « Vielleicht », das sich wie ein roter Faden durch die Fantasie und Wirklichkeit dieses Romans zieht. Eine Frau wie Clara, die nicht wirklich existiert, aber trotzdem real zu sein scheint, wenn sich all seine Ex-Freundinnen so rührend um ihn kümmern. Eine Frau, die mehr Fiktion ist, aber letztlich durch ihre « Existenz » das Leben vollkommen durcheinander bringt und den liebeskranken Helden sozusagen aus der Welt der « Toten » in die Welt der « Lebendigen » zurückführt.

Und genau diesen Weg beschreibt Martin Page – dank seiner sehr feinfühligen und gleichzeitig äusserst selbst ironischen Charakterisierung seines Hauptdarstellers  – auf sehr humorvolle, aber intellektuell anspruchsvolle Weise. Gleichzeitig spürt der Leser Virgile’s grosse Liebe zu seiner Stadt :

« Wenn man die kulturelle, menschliche und ästhetische Wüste der Kleinstädte in der Banlieue oder in der Provinz kennengelernt hat, so ist Paris eine wahre Oase. Man darf nicht in Paris aufgewachsen sei, um in diese Stadt verliebt zu sein, wie man arm gewesen sein muss, um den Wert des Geldes zu schätzen. »

Und genau diese Pariser Oase könnte keine bessere Kulisse sein für Martin Page’s grandiosen komödiantischen Roman, der nicht nur eine ideale Spätsommerlektüre ist, sondern sich auch als sehr gute Grundlage für einen Woody-Allen-Film eignen würde !

Durchgelesen – „Die verborgene Ordnung der Dinge“ v. François Gantheret

François Gantheret ist in Frankreich ein sehr hochgeschätzter Schriftsteller und bekannter Psychoanalytiker. Er war Professor für Psychopathologie an der Universität Paris VII. Für seinen ersten Roman „Verlorene Körper“ erhielt er 2004 den „Prix Ulysse“ und 2005 den „Prix Cinélect“. Sein Roman „Das Gedächtnis des Wassers“ wurde 2007 mit dem „Prix Littéraire Rosine Perrier“ ausgezeichnet. Er schreibt und lebt in Paris.

„Die verborgene Ordnung der Dinge“ ist ein besonderes Stück französischer Literatur, kein Buch zum Schnell-Lesen, auch wenn es nur knapp 180 Seiten stark ist. Es ist ein Werk für Sprachgeniesser, für Literaten und für Liebhaber spannungsreicher Schreibkunst.

Der Roman ist in der dritten Person erzählt, wodurch vielleicht der Lese-Einstieg am Anfang etwas schwierig und langsam beginnen könnte. Aber spätestens nach den ersten Seiten spürt man die Anziehung und Kraft der poetischen Sprache, die den Leser eintauchen lässt in eine hoch reizvolle Dramatik, welche ihn bis zur letzten Zeile in den Bann hält.

Die Geschichte spielt in Paris. Jean, Verleger, und Anne, eine erfolgreiche Künstlerin, waren seit vier Jahren ein Paar bis zu dem Zeitpunkt, als Jean eines Morgens seine Frau Anne tot in ihrem Atelier findet. Und genau an diesem  für sie so wichtigen Ort hat sie sich umgebracht. Jean ist verstört, fassungslos und geschockt. Er stürzt in eine tiefe und fast schon endlose Trauer. Tausende von Fragen kreisen in seinem Kopf nur um das Warum:

„Er hatte nichts bemerkt, nichts vermutet, aber er hätte etwas bemerken können? Musste sich dieser Tod nicht heimlich angeschlichen, sich in Worten, Gesten, in ihrem Gesicht oder in ihren Augen angedeutet haben? In ihren rauchgrauen Augen, die immer abwesend, irgendwo anders waren, selbst wenn sie mit ihm sprach? Sind sie dorthin gewandert, zu diesem Punkt ohne Wiederkehr?“

Doch eines irritiert ihn fast noch mehr als der Tod von Anne selbst. Das Handy seiner verstorbenen Frau läutet ständig. Immer wieder hört er die Klingelmelodie „Für Elise“ und jedes Mal, wenn er abnimmt, ist auf der anderen Seite der Leitung absolute Stille. Nur manchmal hat er das Gefühl, als würde er in diesem Schweigen eine Frauenstimme erkennen. Er spricht eine neue Ansage auf ihre Mailbox mit seinem Namen. Der Anrufer hinterlässt jedoch nach wie vor keine Nachricht. Am Liebsten würde er das Telefon ausschalten. Seine Freunde raten ihm, es wegzuwerfen. Nein, er behält es und lässt es weiterhin eingeschaltet.

Als er nach einer sehr schmerzhaften Trauerzeit endlich wieder seine Arbeit im Verlagshaus aufnimmt, wird er sehr herzlich von seiner Sekretärin Eva empfangen, die er bis jetzt als Frau nie so richtig wahrgenommen hat. Jean erzählt ihr bei einem Mittagessen von der anonymen Anruferin. Eva, die ihren Chef mehr als verehrt, zeigt sich sofort sehr engagiert und findet heraus, von wem diese Anrufe kommen.

Mit der Adresse ausgerüstet fährt Jean in das 12. Arrondissement. Am Ende einer Sackgasse steht er vor einem Haus mit einem kleinen aber sehr gepflegten Garten und beobachtet die Fenster. Als er läutet und eine junge Frau die Tür öffnet, ist er vollkommen irritiert. Vor ihm steht das perfekte Ebenbild seiner Frau. Diese frappierende Ähnlichkeit und seine Verwirrtheit lassen ihn taumeln. Zuerst noch vollkommen verunsichert, erkennt er plötzlich, dass diese junge Frau mit dem Namen Marie, die Zwillingsschwester seiner geliebten Anne ist. Doch Marie ist blind:

„Ihre Augen. Blassgrau, wie die von Anne, aber eben nur «wie». Ein noch blasseres Grau, verwaschen, fast weiss. Und vor allem unbelebt. Milchig, trotz der Helligkeit. Augen wie Nebel. Je näher er kommt, umso mehr fällt ihm auf, dass ihr Blick ihn noch immer nicht  fixiert, sondern über ihn hinweggeht. Ihm wird klar, dass sie blind ist. Ein Schock, aber auch eine Erleichterung. – Marie Fonesca? – Ja, sagt sie. Sie sind Jean Latran. Ich erkenne Ihre Stimme wieder. Kommen Sie rein. Sie tritt zurück. Gedankenleer, wie ein Automat, geht er hinein.“

Die ganzen Jahre hat er nichts von Anne’s Zwillingsschwester gewusst. Warum hat sie ihm dies verheimlicht? Warum hat sie nie über ihre Familie gesprochen? Jean spürt, dass Anne ein Geheimnis verbarg und dass dieses Geheimnis eventuell mit ihrem Tod zu tun hat. Einerseits fühlt er eine Ablehnung gegenüber Marie, andererseits treibt ihn die Neugierde immer wieder zu ihr hin. Gemeinsam mit seiner Sekretärin Eva, die inzwischen immer mehr ihre Zuneigung zu ihrem Chef zeigt, versucht er, das Familiengeheimnis von Anne aufzudecken. Es geht um die Vergangenheit von drei Frauen, in erster Linie von Anne und Marie, aber auch von Eva, die ihren Chef liebt. Das psychodramatische Geheimnis enthüllt sich Schritt für Schritt…

François Gantheret baut einen subtilen Spannungsbogen auf, der durch seinen psychoanalytischen Blick eine besondere Dimension erreicht. Es geht um Selbstzerstörung und Zerstörung eines Anderen. Gefühle werden unterdrückt und kommen geballt zurück. Schweigen und Reden als Instrument der Psychoanalyse werden hier als Stilmittel eingesetzt. Das Buch ist keine leichte Kost. Man sollte es konzentriert lesen und sich ganz bewusst auf die einzelnen Figuren einlassen, um die emotionale Intensität dieses Romans nachhaltig zu erleben. „Die verborgene Ordnung der Dinge“ bietet dem Leser trotz der menschlichen Tristesse, aber Dank der raffiniert inhaltlichen und sprachgewaltigen Dramatik, ein sehr anspruchsvolles, äusserst fesselndes und unvergessliches Leseerlebnis.

Durchgelesen – „Liebe mit offenen Augen“ v. Jorge Bucay

Wie lösen wir unsere Partnerprobleme, mit einer Therapie oder einer Geschichte? Vielleicht mit diesem Buch, denn es ist ein Ratgaber für Paarbeziehungen, allerdings wunderbar verpackt in einen originellen und fesselnden Roman.

Der Protagonist Roberto hat wie immer Probleme mit Frauen, im Moment mit Christina. Doch eines Tages erhält er E-Mails von einer Laura, die nicht an ihn gerichtet sind, sondern für einen Fredy bestimmt sind. Er löscht sie anfänglich, aber die Mails von Laura erreichen ihn weiterhin und deshalb fängt er an, sie ihn Ruhe zu lesen.

Es stellt sich heraus, dass Laura und Fredy Therapeutenkollegen sind. Laura schreibt über die Probleme in der Liebe, die Veränderung am Anfang einer Liebe – sprich Verliebtheit – und über die Möglichkeiten seine Beziehung, neu zu entdecken. Sie erklärt aber auch die Phasen der Lieblosigkeit und die zum Teil unerfüllten Wunschvorstellungen in der Liebe. Roberto fühlt sich total angesprochen und er fängt an über seine Erfahrungen in Punkto Liebe nachzudenken:

„Und womit hatten eigentlich die Frauen, auf die er sich eingelassen hatte, ihn getäuscht? Waren sie nicht, wie er sie sich phantasiert hatte – begehrenswert, traumhaft oder auch liebesbedürftig? Laura behauptete: «Wenn die Verliebtheit vorüber ist, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich mit der Realität des anderen zu konfrontieren.» Das war hart. Ihm gingen die Worte Liebe, Beziehung, Illusion, Enttäuschung, Täuschung weiter durch den Kopf.“

Doch Roberto ist so fasziniert von Laura und ihren therapeutischen Ideen, dass er sich kurz über lang entschliesst, auf ihre Fragen zu antworten. Er nimmt eine andere Identität an und tritt ein in einen virtuellen Dialog über Beziehungen. Und im Laufe der Zeit kommen sich die zwei Protagonisten immer näher, nicht nur gedanklich und therapeutisch. Es wird spannend und geheimnisvoll, ohne mehr verraten zu wollen!

Jorge Bucay ist in Buenos Aires, Argentinien geboren und gehört heute zu den weltweit angesehensten Psychotherapeuten. „Liebe mit offenen Augen“ ist sein erster Roman. Ein wunderbares Buch, das den Leser anregt, über seine eigene Beziehung nachzudenken. Ein kluger, aber auch sehr unterhaltsamer Roman mit einer grossen therapeutischen Wirkung.


Durchgelesen – „Führer, Narren und Hochstapler“ v. Manfred F.R. Kets de Vries

Manfred F.R. Kets de Vries, hat mit seinem Werk „Führer, Narren und Hochstapler“ – aufbereitet in sieben Essays –  einen Klassiker der Führungspsychologie geschrieben.

Er selbst, ausgebildeter Psychoanalytiker und langjähriger Management-Berater, fragt nach den unbewussten Motiven, die Verhalten und Handlungen von Führungspositionen bestimmen können. Er setzt dabei das Motiv des „Hofnarren“ ein, um die Probleme der Führung zu entzerren.

Es ist ein sehr kurzweiliges Stück Managementliteratur und wird durch die Berichte aus der Praxis mit viel (schwarzen) Humor und grosser Anschaulichkeit aufgelockert. Er zeigt mit seiner kraftvoll-anschaulichen Sprache den Typus des Führers in ganz verschiedenen Varianten: als Geltungssüchtigen, als Autisten, als emotionalen Analphabeten, als Hochstapler und auch als „Normalen“.

Dies ist wahrlich ein beeindruckendes und nachwirkendes Buch für psychologisch interessierte Führungskräfte, aber auch für den interessierten Laien!