Durchgelesen – „Die Gierigen“ v. Karine Tuil

Falsche Identität, besessene Liebe, soziale Macht, kompromissloser Erfolg, exzessive Leidenschaft und krankhafter Ehrgeiz bilden neben vielen anderen Themen das Zentrum in diesem herausragenden und äusserst imposanten Gesellschaftsroman von Karine Tuil, der durch seinen Originaltitel „L’invention de nos vies“ (frei übersetzt „Die Erfindung unserer Leben“) den Blick auf die Lebens-Findung bzw. Erfindung noch mehr lenkt, als der deutsche Titel im ersten Moment zu erahnen vermag.

Karine Tuil wurde 1972 geboren und hat Jura studiert und sich auf Medienrecht spezialisiert. Parallel nicht nur neben ihrer Doktorarbeit ist sie als sehr erfolgreiche Schriftstellerin tätig. Inzwischen hat sie neun Romane veröffentlicht. Ihr erster Roman „Pour le pire“ erschien 2000, danach folgten neben Romanen auch ein Theaterstück und verschiedene Kurzgeschichten und Erzählungen. Die ersten Romane zeichneten sich durch ihren komödiantischen Ansatz aus, doch ab 2007 werden die Themen mit ihrem Roman „Douce France“ ernster. Aktuell dürfen wir nun den neunten Roman von Karine Tuil erstmals in deutscher Sprache – dank der fantastischen Übersetzung von Maja Ueberle-Pfaff – mit dem Titel „Die Gierigen“ entdecken. Dieser Roman erschien in Frankreich bereits im Herbst 2013 und stand auf der Auswahlliste für den begehrtesten französischen Literaturpreis – „Prix Goncourt“.

Der Roman spielt teilweise in Paris, hauptsächlich in New York, und ist bei erster Betrachtung wie eine Dreiecksgeschichte aufgebaut, entwickelt sich aber über kurz oder lang zu einem gewaltigen und meisterhaft konstruierten Gesellschaftsroman, der keine sozialen Aspekte auslässt, unterschlägt oder vertuscht. Es gibt drei Personen, die jede für sich allein eine wichtige Rolle in diesem Buch spielen, doch letztendlich ist der eigentliche Hauptprotagonist Samir Tahar. Aufgewachsen in einem Vorort von Paris, Eltern Tunesier, Mutter Schneiderin, Vater Arbeiter (starb nach einer Verhaftung bei einer Vernehmung). Seine Mutter schlägt sich durch und arbeitet bei reichen Leuten im Haushalt, lässt sich auch von einem der reichen Hausherren verführen, wird dabei auch noch schwanger, treibt das Kind jedoch nicht ab und somit bekommt Samir einen Halbbruder.

Samir will raus aus diesem Milieu, strotzt vor fast schon nicht zu bändigendem Ehrgeiz und geht an die Pariser Universität, um Jura zu studieren. Und da trifft er auf Samuel und Nina. Sie sind ein Paar und die zwei weiteren Hauptpersonen dieser unglaublich vielschichtigen Story. Samuel ist der Sohn intellektueller ultra-orthodoxer Juden und träumt von einer Schriftstellerkarriere, die bis jetzt nicht die geringsten Anzeichen erkennen lässt. Nina ist eine unglaublich schöne junge Frau, die sich jedoch für wenig interessieren und engagieren kann und mehr von Tag zu Tag lebt.

Die Freundschaft der Dreien endete nach langem hin und her aufgrund der Affäre zwischen Nina und Samir. Für Samir gab es dann nur ein Ziel, seine Karriere so schnell und gut wie möglich voranzutreiben. Nach erfolgreichen Studienabschlüssen verlässt er Frankreich. Heute ist Samir ein gefeierter Staranwalt in New York, kauft nur noch massgeschneiderte Anzüge, verkehrt in Edelrestaurants und ist mir Ruth Berg – die Mutter seiner zwei Kinder – , einer attraktiven, hoch intelligenten Frau verheiratet, die aus einer der reichsten und einflussstärksten jüdischen Familien Amerikas stammt und die Tochter von Rahm Berg ist. Samir ist durch diese eheliche Verbindung natürlich auch Teil der amerikanischen Elite. Er hätte es nie soweit nach oben geschafft, wenn er nicht bereits vor dem beruflichen Start in den USA seinen Namen den Umständen entsprechend anpasste und sich ab diesem Zeitpunkt Sam Tahar nannte. Er versuchte mit diesem einfachen aber doch sehr wirksamen Schachzug endlich den rassistischen und somit auch karrierefeindlichen Problemen auszuweichen. Den Araber Samir gab es dadurch nicht mehr, sondern nur noch den Juden Sam, denn jeder dachte, das dies die Abkürzung für Samuel war.

Nach zwanzig Jahren sehen nun Samuel und Nina per Zufall im Fernsehen auf dem Sender CNN einen Bericht über Sam Tahar. Und ganz schnell wird Samuel bewusst, dass Samir durch eine geklaute Identität mehr als Erfolg in seinem Leben hat, vom Geld und Ansehen ganz zu schweigen. Samuel dagegen hatte bis jetzt nicht im Ansatz das erreicht, von dem er immer geträumt hatte. Nina und er beschliessen, dass sie diesem Täuschungsmanöver von Samir unbedingt auf die Spur gehen sollten, ja sich sogar rächen wollten und nehmen mit Samir Kontakt auf. Samuel verfolgt gleichzeitig noch einen für ihn zusätzlich sehr wichtigen Test, um endlich herauszufinden, ob seine Freundin Samir immer noch liebt. Es dauert nicht lange und Samir fliegt nach Paris, um Nina und damit auch Samuel zu treffen und spätestens da wird Samir mit seiner erfundenen Identität konfrontiert. Samuel versucht Klartext zu sprechen:

„Du musst mir nichts erklären. Du hast Teile meiner Vergangenheit geklaut und dir daraus eine Biographie zusammengebastelt! Du hast meine Lebensgeschichte geplündert, um deine auszuschmücken. Das ist pervers! Wie konntest du so was nur tun?“

Ab diesem Treffpunkt wird nicht nur das Leben, die Gefühle und die Erwartungen von Samuel und Nina komplett auf den Kopf gestellt, sondern vor allem die Daseinsberechtigung von Samirs Identität einer extremen existentiellen Prüfung unterzogen. Samir hat nämlich nicht nur seinen ehemaligen Freund hinters Licht geführt, sondern er hat alle angelogen, seine Frau, seine Kinder, seinen Schwiegervater und seinen früheren Mentor in Paris. Alle Menschen, mit denen er bis jetzt konfrontiert war, halten ihn für einen beruflich extrem erfolgreichen jüdischen Anwalt, treuen Ehemann und liebevollen Vater. Samir ist jedoch Araber, gibt sich überall als Jude aus, ist karrierebesessen und sexsüchtig. Er betrügt seit Jahren Ruth mit anderen Frauen. Hat sich sogar ein kleines Appartement in der Nähe seiner New Yorker Kanzlei gemietet, um seine Sucht nach hauptsächlich körperlicher Liebe problemlos – zumindest nach Aussen hin – schnell und unkompliziert ausleben zu können.

Die Geschichte nimmt eine mehr und mehr dramatische Wendung an. Nina trennt sich von Samuel und lässt sich von Samir in die USA einladen, er hält sie quasi als Zweitfrau und dann taucht auch noch sein ungeliebter Halbbruder auf, der seine „Unterstützung“ benötigt. Die Situation kippt vollkommen und die Tragödie setzt sich mit hoch brisanten sozialen und „politischen“ Verwicklungen fort…

„Die Gierigen“ ist ein Buch für Leser, die im wahrsten Sinne des Wortes gierig nach dieser Art von Gesellschaftsroman sind und sollte dies noch nicht der Fall sein, es spätestens nach den ersten Seiten auch sein werden. Diese Story erschüttert und erstaunt, während sich aber gleichzeitig auch irgendwie Mitleid einstellt für diese drei Protagonisten, die Karine Tuil in meisterlicher Weise so pointiert charakterisiert, porträtiert und damit zu echtem Leben erweckt. Die Geschichte ist unendlich komplex, mehr als intensiv und genau deshalb wahnsinnig fesselnd.

Dieses Gesellschaftsdrama bringt Migrationsprobleme zu Tage, wirft Fragen über Benachteiligung auf, geht ausgehend von Lügen hinsichtlich der Rettung und der Befreiung von gesellschaftlichen und persönlichen Zwängen über in die Angst der Offenlegung und der Ehrlichkeit sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber. Dieses Buch zeichnet sich durch eine extrem starke Wirksamkeit und Klugheit aus, die nicht im Geringsten verwundern lassen, dass dieses Werk auf der Auswahlliste für den französischen Literaturpreis „Prix Goncourt“ platziert war.

Karine Tuil ist eine begnadete Schriftstellerin, die mit ihrem unglaublich rasanten Stil den Leser packt. Sie schreibt markant, zackig und unterstreicht dies mit raffiniert eingesetzten Techniken, wie beispielsweise die Aneinanderreihung von Wörtern mit Slash- Zeichen(„/“), statt klassisch das Komma zu verwenden. Folglich wird dadurch die Beschreibung der Situation oder der Person noch klarer und bestechender, was die Sogkraft dieses Romans weiterhin steigert. Trotz dieser unerschütterlichen Direktheit und unübertreffbaren Prägnanz, gelingt es Karine Tuil bravourös dieser irrsinnigen Geschichte eine unglaublich betörende Eleganz und äusserst kraftvolle Sensibilität zu verleihen.

„Die Gierigen“, ist ein unvergängliches und vor allem unvergessliches Werk: spannend wie ein Thriller, aufklärend wie eine Gesellschaftsreportage und leidenschaftlich wie eine Liebesgeschichte. Ein Roman, der einen aufwühlt, berührt und verführt und dadurch sicher zu einem der besten Bücher dieses Literaturherbstes in Deutschland avanciert. Mehr als empfehlenswert!!

Durchgelesen – „84 Charing Cross Road“ v. Helene Hanff

Bücher sind wahrlich gute Freunde, aber auch durch Bücher können wunderbare Freundschaften entstehen. Und dass dies über Kontinente hinweg auch funktionieren kann, zeigt uns auf äusserst zauberhafte Weise Helene Hanff mit ihrem Briefwechsel „84 Charing Cross Road“, der zum ersten Mal 1970 in New York erschienen ist und nun aktuell in der grandiosen Übersetzung von Rainer Moritz wieder aufgelegt wurde.

Helene Hanff – geboren 1916 in Philadelphia und gestorben 1997 in New York – war eine amerikanische Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie arbeitete nach ihrem abgebrochenen Englischstudium als Schreibkraft, Lektorin und Drehbuchautorin für Fernsehserien und Theater. Bekannt wurde sie hauptsächlich durch ihren Briefwechsel mit einem Buchantiquariat in London, den sie genauestens dokumentiert hatte. Daraus entstand dann der Bestseller „84 Charing Cross Road“, der sogar 1986 mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt wurde. In Deutschland wurde dieses Werk zum ersten Mal 2002 veröffentlicht.

„84 Charing Cross Road“ ist ein ganz besonderer Briefwechsel, ja vielleicht sogar eine Art kleiner biographischer „Briefroman“, der am 5. Oktober 1949 in New York beginnt. Helene Hanff ist nicht nur aus beruflichen, sondern auch aus privatem Interesse auf der Suche nach wichtiger Literatur, welche nach dem zweiten Weltkrieg nicht günstig und einfach zu finden war. Sie entdeckte in einer Zeitungsannonce per Zufall das Londoner Antiquariat Marks & Co. in der Charing Cross Road, Nummer 84. Das war im wahrsten Sinne ihre Rettung und somit schreibt sie an diese englische Buchhandlung, die besonders auf Bücher spezialisiert ist, welche bereits vergriffen bzw. nicht mehr lieferbar sind. Sie möchte lieber günstige, aber dafür schöne Buchausgaben erwerben, da sie sonst bei Barnes & Noble auf neuwertige „Schulausgaben“ zurückgreifen müsste. Diesem ersten Brief fügt sie eine Bücherliste bei und begrenzt ihr Budget auf 5 Dollar pro Buch.

Nach zwanzig Tagen erhält Helene ihre erste Antwort und zwei ihrer Buchanfragen konnten damit gleich erfolgreich ausgeführt werden, so dass Helene am 3. November 1949 ihre Freude über diese wunderbaren Bücher an Marks & Co. weitergeben konnte:

„Sehr geehrte Herren!
Die Bücher sind wohlbehalten angekommen; die Stevenson-Ausgabe ist so schön, dass sie mein Bücherregal aus Orangenkisten beschämt. Ich fürchte mich fast davor, solche schweren cremefarbenen Velinseiten anzufassen. Da ich an das kalte weisse Papier und an die steifen Pappumschläge amerikanischer gewöhnt bin, wusste ich gar nicht, was es für eine Freude sein kann, ein Buch zu berühren. …“

Ja und so nimmt der anfangs doch erst noch eher sehr geschäftliche Briefwechsel seinen Lauf. Helene legt bei jedem Brief und einer neuen Bestellung das Geld bar anbei. Doch Helene lässt auch dem Antiquariat ihren Unmut spüren, wenn sie ein Buch erhält, das nun nicht im Geringsten ihren Anforderungen entspricht.

Helene Hanffs Freunde und Nachbarn erzählen ihr von der Rationierung der Lebensmittel in England, was sie kurzer Hand dazu veranlasst über eine britische Firma in Dänemark ein kulinarisches Weihnachtspaket an Marks & Co. zu senden. Bis dahin war der Unterzeichner aller Briefe aus dem Antiquariat ein „FPD“, obwohl die Buchhandlung zwei Eigentümer hatte, ein Herr Marks und ein Herr Cohen. Ja und dieses zwei Herren sind doch so grosszügig, dass das wunderbare Geschenk von Helene unter den Mitarbeitern aufgeteilt werden konnte, was auch Frank Doel, alias FPD, im Namen der Belegschaft Helene brieflich mitteilte.

Ja und so entwickelt sich ganz langsam aus der zu Beginn doch sehr geschäftlichen Beziehung eine wahre Brieffreundschaft, nicht nur zwischen Frank Doel, sondern auch mit einigen anderen Kollegen aus dem Antiquariat, die alle mehr als begeistert sind von Helene Hanffs Grosszügigkeit, die sich durch regelmässige Geschenkpakete sei es zu Ostern, Weihnachten oder auch zwischendurch erkennen lässt. Unabhängig davon erfahren wir in den Briefen neben den Ereignissen aus der Familie Doel, ein wenig über die Thronbesteigung von Elisabeth II. und über die Zeit der 50ziger und 60ziger Jahre in England. In all diesen Briefen, gibt es immer wieder ein wichtiges Thema und das ist der Besuch von Helene Hanff in London bei Marks & Co., den alle Kollegen so sehr herbeisehnten. Doch leider kommen ständig irgendwelche Probleme dazwischen, sei es beruflicher, finanzieller oder gesundheitlicher Natur. Somit kann sich Helene nur über Freunde, die diesen Laden im September 1951 besucht haben, berichten lassen:

„Das ist der reizendste alte Laden, gerade so, als wäre er einem Dickens entsprungen. Du würdest darüber völlig aus dem Häuschen geraten. …; man riecht den Laden, bevor man ihn sieht. Es ist ein herrlicher Geruch, den ich nicht einfach in Worte fassen kann, doch er verbindet den Geruch von Most, Staub und Alter mit dem von Holzregalen und Parkett.“

Die Brieffreundschaft wird noch lange fortgesetzt nicht nur mit Worten, sondern inzwischen auch mit Dankesgaben der Belegschaft von Marks & Co. an Helene, bis zum plötzlichen Ende aufgrund des vollkommen überraschenden Tods von Frank Doel 1969.

„84 Charing Cross Road“ ist mehr als eine Hymne auf die Literatur und Freundschaft. Es ist ein sehr persönlicher und origineller Austausch zwischen einer sehr skurril sympathischen Amerikanerin und einem äusserst kundenorientierten Londoner Antiquariat über gute Bücher, über den Wert von Büchern und über die Freude und Lust am Lesen. Helene Hanff schwärmt von schönen Bindungen, feinem Papier, lässt sich nicht mit einfachen Ausgaben abspeisen, sondern ist immer auf der Suche nach dem Besonderen. Und genau dabei hilft ihnen diese geniale Belegschaft des Antiquariats Marks & Co., allen voran Frank Doel. Man spürt, dass Frank Doel eben nicht nur ein klassischer Buchhändler ist, nein er ist mehr als das: er ist gebildet, belesen, engagiert und von einer bemerkenswert englischen Höflichkeit, die mehr als angenehm und faszinierend ist. Aber auch Helene Hanff mit ihrer manchmal etwas ruppigen Art, aber trotzdem das Herz am richtigen Fleck, ist eine grossartige Frau, für die Bücher und Lesen nicht nur die Grundlagen ihres Berufes, sondern auch ihres Lebens sind. Dieser wunder-bare Briefwechsel sprüht nur so vor Literaturfreude, Herzenswärme und höchster Wertschätzung, die trotz dieser grossen räumlichen Entfernung so nah und greifbar ist.

Verehrter Leser, versäumen Sie keinesfalls dieses literarische Juwel und erfahren Sie auf humorvolle und charmant melancholische Weise nicht nur die Liebe zu Büchern und die unendliche Lust am Lesen, sondern „schmökern“ Sie quasi gemeinsam mit Helene Hanff in diesem ganz besonders heimeligen Antiquariat in London. Und vielleicht entdecken Sie dadurch nicht nur neue Literatur, sondern erfahren dabei auch den unverwechselbaren Charme und die zeitlos anhaltend wichtige Bedeutung Ihres ganz persönlichen Buchhändlers vor Ort!