Durchgelesen – „Autoportrait“ v. Édouard Levé

Kennen Sie, verehrter Leser, den Unterschied zwischen einer Autobiographie und einem Autoportrait ? Eigentlich wäre es ganz einfach, denn eine Autobiographie ist die Beschreibung der eigenen Lebensgeschichte und gehört zu der literarischen Form, bei der Autor, Erzähler und der Haupt-Protagonist die gleiche Identität haben. Ein Autoportrait – man könnte auch Selbstporträt sagen – ist die Selbstpräsentation eines Malers, Zeichners, Bildhauers oder Photographen. Kurzum eine Kunstform, die nicht mit Worten, sondern mit Farben und Bildern auskommt. Doch Édouard Levé konfrontiert uns auf sehr ausser-gewöhnliche Weise mit seinem « Autoportrait » : es ist eine quasi in Worten und Sätzen « gemalte » und « photographierte » Lebens-Retrospektive, die den Leser aufrütteln und nachhaltig stark, aber auch intellektuell kreativ fordern wird.

Édouard Levé – geboren am 1. Januar 1965 – war ein französischer Schriftsteller, Künstler und Photograph. Er studierte an der École supérieure des sciences économiques et commerciales. 1991 nach Abschluss seines Studiums begann er mit der Malerei, die er aufgrund einer ihn beeinflussenden Reise nach Indien wieder aufgab und sich von nun an der Photographie widmete. Seine erste Photo-Serie erschien 1999 unter dem Titel « Homonymes ». Édouard Levé konnte 2002 sein erstes schriftstellerisches Werk mit dem Titel « Œuvres » in Frankreich veröffentlichen. Von da ab bis zu seinem Selbstmord am 15. Oktober 2007 erschienen in Frankreich noch insgesamt vier Prosawerke und mehrere Photobände. « Autoportrait », bereits 2005 in Frankreich publiziert, wird nun fast 7 Jahre nach dem Selbstmord Levés – dank der hervorragenden Übersetzung von Claudia Hamm – erstmals dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt.

Éduard Levé steigt ganz klar und direkt ein in seine Lebensgeschichte, die in seiner Struktur, seinem nicht vorhandenen chronologischen Aufbau und seiner Kunstform bereits im ersten und in vielen folgenden Sätzen sehr an Georges Perec erinnert :

« Als Jugendlicher glaubte ich, eine Bedienungsanleitung Leben könnte mir beim Leben helfen und eine Bedienungsanleitung Selbstmord beim Sterben. Ich habe drei Jahre und drei Monate im Ausland verbracht. Ich schaue lieber nach links. Einer meiner Freunde befriedigt sch mit Seitensprüngen. Das Ende einer Reise hinterlässt bei mir den selben traurigen Nachgeschmack wie das Ende eines Romans. »

Das Leben « sprudelt » aus ihm heraus, in kurzen Sätzen erfahren wir über seine Interessen, seine Vorlieben und seine Abneigungen. Wir erkennen seine Charakterzüge, wir erahnen seine Seelenzustände :

« Ich habe oft geliebt. Ich liebe weniger als ich von anderen geliebt wurde. Ich staune darüber, dass man mich liebt. »

Er plaudert im Staccatostil über Freunde, Familie und sich selbst, seine Fehlentscheidungen, seine Wünsche, sogar auch ein wenig über seine Hoffnungen. Er berichtet im Stenographenstil über seine Reisen, philosophiert und stigmatisiert. Er beschäftigt sich mit der Gesellschaft, deren Teil er ist oder zu sein scheint. Im Vordergrund steht sein Ich, was dank der Vielzahl von Ich-Sätzen kaum zu übersehen ist. Und genau dieses Ich hat eine ganz eigenartige Wirkung beim Lesen, so dass man im Laufe dieser Sätze immer mehr dieses Ich annehmen könnte und es immer schwerer wird während des Leseprozesses, zwischen Levés und des Lesers Ich zu trennen bzw. zu unterscheiden.

Doch nicht nur dieses Ich hat eine ungaublich sogartige und spannende Wirkung. Auch diese indirekten Fragestellungen und Unterstellungen sich selbst gegenüber bieten dem Leser eine Bühne der Selbstinfragestellung, die in der Literatur ihresgleichen sucht. Besonders bei Sätzen wie diesen, ist man als Leser erstmal geneigt sprachlos innezuhalten, bevor man sich auf die nächste Lebensreise von Édouard Levé einlässt :

« Die Gegenwart interessiert mich mehr als die Vergangenheit, aber weniger als die Zukunft. »

Levé kann mit seinem unglaublich puristischen und manchmal etwas kalt erscheinenden Schreibstil die Intensität und Klarheit seines doch im ersten Moment banalen Lebens fantastisch « erzählerisch » betonen. Es fühlt sich an wie Kunst, wie feinste Pinselstriche, die ein grosses Werk erschaffen. Man denkt sofort an den Pointilismus und an den Maler Georges Seurat. Oder ist dieses Selbstportrait vielleicht auch wie ein Photo, das durch die Anzahl der einzelnen Bildpunkte erst zu einer richtigen Photographie werden kann. Hier kann sich der Leser nun aussuchen, ob jedes Wort von Édouard Levé wie ein Pixel oder Pinselstrich fungiert, den Levé in einer ganz besonderen und gewissen Formvollendung seinem « Autoportrait » zu Grunde legt.

Dieses « Autoportrait » zeigt die differenziertesten Elemente des menschlichen Lebens, vielleicht zur Provokation, aber auch zum Amusement. Wir lernen sehr viel beim Lesen dieses Buches, es öffnet nicht nur die Augen über einen uns bis jetzt unbekannten Menschen und hochbegabten Schriftsteller, sondern auch über uns selbst. Und durch Levés konsequentes, irritierendes und berührendes Schreiben könnte man fast denken, dass er gleichzeitig auch ein Selbstporträt des Lesers, das sowohl nervös macht, als auch sehr inspirierend ist, detailliert « zeichnet ». Lassen Sie sich verführen, in den Sog hineinziehen und seien Sie fasziniert von diesem Buch und ihrem eigenen Leben!

Durchgelesen – „Die Bibliothek des Monsieur Proust“ v. Anka Muhlstein

Lesen ist für viele Schriftsteller eine unabdingbare Voraussetzung für das Schreiben. Dies gilt auch für Marcel Proust, der sich ein Leben ohne Lesen und Bücher nicht im geringsten vorstellen konnte. Somit ist es nicht verwunderlich, dass auch Marcel Proust über eine umfangreiche Bibliothek verfügen musste. Es war eine besondere Bibliothek, denn jeder Leser hatte damals wie auch heute absolut unbegrenzten Zugang zu diesem « Literaturort », einem Bücherschatz der sich nicht zwischen Regalen und Buchstützen befindet, sondern sich in seinem Werk subtil versteckt. Spätestens beim Eintauchen in den Romanzyklus « Auf der Suche nach der verlorenen Zeit » (« Recherche ») dürfen wir diese imaginäre Bibliothek so en passant lesender Weise erobern und kennenlernen.

Anka Muhlstein, französische Historikerin, mit ihrem Mann Louis Begley in New York lebend, – wir kennen sie bereits durch ihre fantastische kulinarische Biographie « Die Austern des Monsieur Balzac » – hat sich dieser aussergewöhnlichen Aufgabe gestellt, Prousts Bibliothek in essaystischer Form zu erforschen und dem Leser charmant und äusserst kurzweilig aufzubereiten.

Laut Anka Muhlstein, war für Marcel Proust das Lesen « die erste und wichtigste Quelle der Freude und der Anregung. Von anderen Autoren unterscheidet er sich jedoch dadurch, dass die Literatur auch in seinen Werken eine ungeheuer wichtige Rolle spielt. » Und das geht soweit, dass Proust fast jeder Romanfigur der « Recherche » eine Lektüre bzw. ein Buch verordnet hatte. Anka Muhlstein tastet sich vorsichtig, aber gleichzeitig analytisch an das Leseverhalten von Proust und an seine Literaturvorlieben heran. Sie zeigt uns als erstes die Leseeinflüsse während seiner Kindheit.

Hier spürt man, dass Proust bereits in sehr jungen Jahren die Literatur und das Lesen auch als eine Art Fluchtmittel gebrauchte. Er durfte als Kind sich die Lektüre aussuchen und da gehörte zum Beispiel der Roman « François le Champi » von George Sand zu einem gewissen Schlüsselwerk, das ganz raffiniert in die « Recherche » eingebaut wurde, in dem der Ich-Erzähler dieses Buch von seiner Mutter vorgelesen bekommt. Proust begeisterte sich auch in seiner Kindheit und Jugend für Théophile Gautiers « Capitaine Fracasse », Alexandre Dumas oder Balzacs « Eugénie Grandet ». Er war auch als Schuljunge ein leidenschaftlicher Lyrikleser von Stéphane Mallarmés und Leconte de Lisle und zeichnete sich dadurch aus, dass er die Gedichte auswendig lernte und jederzeit rezitieren konnte.

Proust wurde als junger Schriftsteller stark von Racine und Saint-Simon beeinflusst, studierte deren Grammatik und Syntax, um mit seiner eigenen Sprache und seinem Stil noch raffinierter spielen zu können : « Fragen des Stils trieben Proust um, aber von der Erinnerung, vor allem dem Phänomen der unwillkürlichen Erinnerung und ihrer potentiellen Rolle für das künstlerische Schaffen, war er wie bessen. » Auch den Einfluss von Charles Baudelaire sollte man keinesfalls unterschätzen, vor allem in Bezug auf die verschiedensten Vorstellungen von Liebe. Diesen Einfluss spürt man deutlich in der « Recherche », jedoch wird er nie offensichtlich dargelegt.

Aber nicht nur französische Autoren finden wir in Prousts Bibliothek, wobei die deutsche Literatur doch leider eher vernachlässigt wurde und ausser Goethe kein deutschprachiger Autor für Proust eine nachhaltige Rolle spielte. Doch dafür hatten es ihm besonders russische und britische Autoren angetan, allen voran John Ruskin, einer der wichtigsten Kunstkritiker des 19. Jahrhunderts : « Prousts Begeisterung für Ruskin ging so weit, dass er die Arbeit an seinem Roman Jean Santeuil aufgab – der unvollendet und unveröffentlicht liegenblieb -, um Ruskins Werk zu übersetzen. » Genauso fasziniert wie von den englischen Schriftstellern, war Proust von russischen Romanciers wie Tolstoj und Dostojewski. Und auch da erkennen wir die Einflüsse in der « Recherche » und das Sichtbarwerden konkreter Anspielungen.

Doch Anka Muhlstein zeigt uns auch in ihrer « bibliothekarischen » Spurensuche, wie wichtig das Lesen und Leben mit Büchern für Marcel Proust war und welche unterschiedlichen Arten von Lesern in der « Recherche » sich wiederfinden. Sie entdeckt, dass Proust in seinem Romanzyklus eine « sogenannte Rangordnung der Leser » aufstellt, wodurch sehr klar erkennbar wird, wieviele schlechte Leser es in Wirklichkeit gibt : « Einige wenige von Prousts Romanfiguren sind leidenschaftliche Leser. Sie bilden une franc-maçonnerie des lettrés, wie Proust sagt, einen Geheimbund, der eine unmittelbare, anders unerklärliche Komplizenschaft stiftet. »

Und genau zu diesen wenigen leidenschaftlichen und engagierten Lesern gehört – eine der wichtigsten Figuren der « Recherche » – Baron Palmède de Charlus. Er ist wahrlich belesen, beeinflusst auch von Balzac, Mme de Sévigné und Racine, denn irgendwo muss auch seine sehr zerrissene Psyche halt und Zuflucht finden. Auch wenn Proust Balzac nicht unbedingt als bevorzugten Schriftsteller bezeichnen würde, erkennt man laut Anka Muhlstein die « fundamentale Bedeutung der Themen Balzacs in der Recherche ». Besonders wichtig ist noch zu erwähnen, dass der Erzähler – Marcel – in der Recherche so gut wie keine literarische Bildung vorweisen kann im Vergleich zu Baron de Charlus. Neben Charlus ist sicherlich auch Bergotte – erfundener Schriftsteller – eine gewisse Schlüsselfigur im Romanzyklus : « Proust spricht für den Erzähler, wenn er darauf hinweist, dass dieser nach ein, zwei Jahren Bergottes Denkweise und Stil ganz in sich aufgenommen hatte und ihn nichts mehr im Werk verblüffte. »

Dass Racine für die Stilistik der « Recherche » den stärksten Einfluss hatte, wurde bereits erwähnt, doch dass gerade die Gebrüder Goncourt eine eher negative Beachtung für Proust auslösten, ist im ersten Moment etwas verwunderlich, da Proust doch der nach diesem Brüderpaar benannten Literaturpreis (Prix Goncourt) für den Romanteil « Im Schatten junger Mädchenblüte » im Jahre 1919 verliehen wurde. Die Goncourts stehen in der « Recherche » für die « Abteilung » Anekdote, wobei man wissen muss, dass Edmond, der Ältere, und Jules alle ihre Werke immer gemeinsam verfassten und schliesslich neben Romanen auch Kunst- und Theaterkritiken publizierten und eigentlich nur durch ihr Tagebuch (« Journal ») und den von ihnen gestifteten Literaturpreis bekannt wurden.

Anka Muhlstein hat auf intensive und gleichzeitig unterhaltsam prägnante Weise – gerade mal 150 Seiten, im Vergleich zu 5000 Seiten « Recherche » – eine kleine feine Einführung in die Literatur- und Lesewelt von Marcel Proust und seinem Romanzyklus mit ihrem – übersetzt durch Christa Krüger –  im Herbst erschienen Buch vorgelegt. Es zeigt, welche Vielzahl an Literatur, die Proust ganz spielerisch in die « Recherche » eingefügt, ja quasi eingebettet hat, ohne den Leser im negativen Sinne unterrichten zu wollen, sondern ihn auf die literarischen Schönheiten und Kuriositäten seiner verehrten Bücher und deren Schriftsteller aufmerksam zu machen. Mit Esprit und hochkarätigem Literaturverstand bietet Anka Muhlstein mit der « Bibliothek des Monsieur Proust » einen geradezu mehr als aussergewöhlichen und spannenden Leitfaden für die komplexe und vor allem auch literarische Welt innerhalb der « Recherche » und präsentiert bereits zu Beginn des Buches eine äusserst praktische Auflistung der wichtigsten Romanfiguren, welche noch durch kleine Erläuterungen ergänzt werden. Somit ist der Leser mit den Hauptpersonen des Romanzyklus sofort vertraut, die auch in Anka Muhlsteins wunderbarem Buch eine grosse Rolle spielen.

Anka Muhlstein öffnet mit dieser « Bibliothek  des Monsieur Proust » viele neue oder unbekannte Werke von Schriftstellern, die wir vielleicht gar nicht kennen, oder nur am Rande von ihnen gehört bzw. gelesen haben. Man spürt beim Lesen richtig, wie auch Marcel Proust seine Bücher und Autoren entdeckt, mit ihnen gelebt und gelitten hat, teilweise vom Lesen besessen war und diese Erlebnisse direkt oder verspielt subtil in die « Recherche » integrieren konnte. Somit darf der Leser dieses siebenbändigen Oeuvres gleichzeitig in einer gewissen Weise in der « Bibliothek von Monsieur Proust » stöbern und sich literarisch verführen lassen. Anka Muhlstein hat mit ihrem faszinierenden Buch ein wahrlich grandioses literarisch proustsches Lese-Erlebnis geschaffen, das sich im aktuellen Proust-Jubiläumsjahr ( 100. Geburtstag – « In Swanns Welt ») Proustentdecker und Proustkenner keinesfalls entgehen lassen sollten!

Durchgeblättert – „Vom Glück mit Büchern zu leben“ v. Stefanie von Wietersheim

Mit Büchern zu leben, sollte Glück bedeuten, oder Glück verströmen. Auch dann wenn wir oft über Platz- und Zeitmangel in Punkto Büchern sprechen, ist es doch ein unbeschreiblich schönes Gefühl, umgeben von Büchern sein Leben gestalten und geniessen zu können. Und genau diesem Gefühl sind Stefanie von Wietersheim und Claudia von Boch nachgegangen, in dem sie zwanzig ganz unterschiedliche Persönlichkeiten in ihrem Zuhause und somit auch bei ihren Büchern besucht haben.

Stefanie von Wietersheim hat in Passau und Tours Kulturwissenschaften studiert und arbeitet inzwischen als freie Autorin in München, Paris und Toulouse. Ihre Schwerpunkte liegen bei Kultur, Interiors und Reisen. Claudia von Boch ist als freiberufliche Fotografin für verschiedene Projekte und Magazine tätig und hat ihren Focus auf Interiors, Gärten und Reiseportagen gelegt. Jetzt haben sich die zwei Frauen zu einem ganz besonderen Buchprojekt vereint, das sich mit der Liebe zu Büchern, dem daraus entstehenden Glück und noch vielem mehr beschäftigt.

In diesem wirklich fantastisch gestalteten Buch werden wir Leser so en passant für einen gewissen und ganz bestimmten Moment eingeladen, die bibliophilen Oasen von zwanzig verschiedenen Menschen, die sowohl auf irgendeine Weise mit Büchern arbeiten oder sie als Ausgleich zu ihrem Beruf erleben, kennenzulernen. Jeder dieser « Buchmenschen » wird in Bild und Text  vorgestellt. Es werden die Hintergründe der Buchleidenschaft erläutert und berufliche oder private Zusammenhänge erklärt. Ergänzt durch grandiose Photographien sei es von den Privatbibliotheken, den Menschen selbst beim Lesen oder von den buchreichen bzw. buchfreien Lebensräumen an sich, haben wir als Leser beim Betrachten dieser Bilder und beim Lesen der dazugehörigen Texte das Gefühl, als wären wir hautnah mit dabei. Am Ende jedes dieser Porträts erfahren wir noch ganz persönliche Leseerlebnisse, die unter anderem, wie « mein schönster erster Satz ; ein Buch, das mein Leben verändert hat ; ein Klassiker, der mich zu tode langweilte ; oder auf meinem Nachttisch liegt », ganz konkrete Details in Punkto Leben und Glück mit bzw. durch Büchern zum Vorschein bringen, wie folgende Beispiele zeigen :

So ist es wunderbar festzustellen, dass sich Felicitas von Lovenberg (FAZ-Chefredakteurin Literatur) in schwierigen Momenten sich Hilfe bei den Gedichten von Emily Dickinson holt.

Johanna Rachinger (Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek) zieht dagegen für etwas melancholischen Stunden « Anna Karenina » von Leo Tolstoi zu Rate.

Blanca Bernheimer (Galeristin) hat ihren schönsten letzten Satz bei Eichendorff in dem Gedicht « Mondnacht » gefunden :
« Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus ».

Die Buchhändlerin Regina Moths hätte folgendes Buch gerne geschrieben : « Ralf Vollmann Romanverführer. Das ist meine liebste Berufsbezeichnung, aber ich möchte nicht wirklich Bücher schreiben. Ich möchte sie am liebsten palettenweise verkaufen. »

Gleich zwei Männer in dieser Runde, Oliver Jahn (Journalist und Chefredakteur von AD) und Ivo Wessel (Kunstsammler) sind sich in Punkto « mein schönster erster Satz » einig : « Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen » (Auf Suche nach der verlorenen Zeit, von Marcel Proust)

Ja und Wolfram Siebeck (Gourmetkritiker) hat dagegen mit Proust so seine Schwierigkeiten und ordnet die « Suche nach der verlorenen Zeit » eher unter « Klassiker, die mich zu tode langweilen » ein.

Unterschiedlicher könnten die Antworten und Buchempfehlungen für bestimmte Lebenssituationen gar nicht sein. Und genau das macht den Charme dieses wundervollen Buches aus. Es zeigt Menschen, wie sie mit ihren Büchern in ihren Wohnungen bzw. Häusern leben, sie erleben und zu ihrem ganz persönlichen Leben erwecken. Hier geht es weniger um das Wohnen bzw. um die innenarchitektonisch gestalteten Privatbibliotheken, wobei diese natürlich trotzdem wunderbar anzusehen sind, sondern hier geht es um das Leben mit dem gedruckten Werk und seinen Autoren. Hier wird das Glück mit Büchern zelebriert, hier wird die aufrechte Liebe zum Buch und zur Literatur, welche auch immer es sein mag, auf erzählerisch äusserst stilvolle, empathische und in Punkto hochwertigen Bildmaterial photokünstlerische Weise vermittelt.

Spätestens nach der Lektüre und dem Durchblättern dieses auch herstellerisch sehr wertvollen Text- und Bildbandes betrachtet man seine Bibliothek bzw. Bücherregale von einer ganz neuen Seite, überlegt sich Antworten auf die neugierig machenden Fragen und kommt letztendlich zu dem Entschluss, dass ein Leben mit und unter Büchern wahres Glück bedeutet. Und damit der Nachschub an helfenden, tröstenden, beglückenden und bereichernden Büchern nie ausgehen mag, findet man als kleinen krönenden Abschluss auf den letzten Seiten dieses Prachtbandes noch die Auflistung der Lieblingsbuchhandlungen der vorgestellten Protagonisten.

« Vom Glück mit Büchern zu leben » ist ein traumhaft schönes Buch, das man nicht verschenken, sondern sich als leidenschaftlicher Leser, Buchliebhaber und Literaturfreund  unbedingt selbst zum Geschenk machen sollte. Es verführt in neue buchaffine Lebenswelten, lässt den Leser interessante Literaturempfehlungen entdecken und regt an, sein dauerhaftes Glück nicht irgendwo zu suchen, sondern zwischen zwei schlichten kartonierten oder auch edel in Leinen gebundenen Buchdeckeln !

Durchgelesen – „Leben und Ansichten von Maf dem Hund und seiner Freundin Marilyn Monroe“ v. Andrew O’Hagan

Wer kennt sie nicht, Marilyn Monroe, eine Ikone, ein Mythos, eine Schauspielerin, aber auch eine sehr verletzliche Frau, die immer auf der Suche war! Bestimmt wären viele Menschen ihr sehr gerne nahe gewesen, wie eine Freundin bzw. ein Freund oder besser noch wie ein Hund, der er ihr treu ergeben wäre, aber auch sich instinktiv um ihr Seelenheil kümmern würde. Umso mehr freuen wir uns als Leser, nun die literarische Bekanntschaft mit genau so einem vierpfotigen und bellenden Begleiter machen zu dürfen, der uns das Leben an der Seite von Marilyn Monroe auf äusserst intellektuelle und empathische Weise erläutert.

Dieses grandiose Buch über eine unglaubliche « Freundschaft » schenkt uns Andrew O’Hagan (geboren 1968 in Glasgow). Er zählt zu den neuen aufstrebenden und inzwischen auch wichtigsten Schriftstellern Grossbritanniens und ist Creative Writing Fellow am King’s College London. Seine Erzählungen und Romane wurden bereits in 15 Sprachen übersetzt und seine Essays und Artikel erscheinen unter anderem in der London Review of Books, New York Review of Books, The Guardian und im New Yorker. Darüberhinaus ist er auch noch als Botschafter bei UNICEF tätig. Mit seinem Roman « Leben und Ansichten von Maf dem Hund und seiner Freundin Marilyn Monroe », der bereits 2010 in Grossbritannien erschienen ist, gewann er den Glenfiddich Spirit of Scottland Award.

Die Geschichte wird aus der Sicht des Hundes rückwirkend erzählt und beginnt 1960 in Grossbritannien. Ein kleiner weisser, reinrassiger Malteserhund erblickte das Licht der Welt in Charleston. Er wuchs bei der Schwester von Virginia Woolf auf und wurde liebevoll von deren Haushälterin Mrs Higgins betreut. Doch lange sollte er nicht in England bleiben, sondern nach Amerika reisen. Eines Tages erwartete man die Hundeliebhaberin Mrs. Gurdin, eine russische Emigrantin und Mutter des Filmstars Natalie Wood, die sich sehr für Malteser interessierte, denn bei dieser Rasse handelte es sich um ganz besondere Hunde:

« Jeder Hund, der sein Futter wert ist, ist ein Quell der Expertise, was seinen Stammbaum angeht. Uns Maltesern – dem bichon maltais, dem Hund der römischen Damen, dem alten King Charles Spaniel, dem Malteser Löwenhund oder Malteser Terrier – lässt man es durchgehen, das wir uns für die Aristokraten der Hundewelt halten. »

Mrs. Gurdin brachte den weissen Malteser mit einem kleinen Zwischenstopp in London per Pan-American-Flug nach Los Angeles. Aber nicht nur der Malteser noch ein paar andere Hunde wurden von Mrs. Gurdin aufgenommen. Die Fahrt von der Quarantänestation entwickelte sich zu einem interessanten « Gesprächsaustausch » so unter Vierbeinern, ein Schnauzer äusserte sich dabei ganz konkret :

« “ In Wahrheit wissen die Menschen, dass wir sie studieren“, sagte er, “ und die schlauen wissen auch, dass wir über sie reden. Die Menschen sind nicht dumm. Sie verhalten sich nur so, als ob sie es wären.“ »

Jetzt galt es die Zeit ein wenig zu überbrücken, bis dieser Malteser endlich sein neues Frauchen kennenlernen durfte. Es dauerte nicht lange und Natalie Wood – Tochter v. Mrs. Gurdin – erklärte ihrer Mutter, dass Frank Sinatra einen Hund kaufen möchte und bald vorbeikäme. Frank holte den Hund persönlich ab :

« „He, ich war etwas daneben, Freund“ sagte er, streichelte und schnippte mein Ohr. “ Ich hätte hallo sagen sollen, als ich gekommen bin. He, Junge. Du bist das Geschenk für Marilyn.“ »

Und so begleitete der Malteser zuerst Frank in sein Haus und war mehr als pikiert über die Wohnsituation, die Farben und den Umgangston von Frank. Da konnte man als Hund nur noch überleben, wenn man sich an die grossen Philosophen wie beispielsweise Descartes erinnerte und Autoren wie Adorno einem immer wieder in den Sinn kamen. Endlich ging es nach ein paar Tagen per Privatflugzeug mit Frank Sinatra nach New York und der Malteser konnte nun bald seine neue « Freundin » treffen. Bereits die Dienstboten hatten bei der Begrüssung von Frank ihre Entzückungsrufe über diesen Hund ausgedrückt und auch Marilyn konnte ihre Begeisterung kaum zurückhalten und freute sich sehr über dieses « tierische » Geschenk. Er gefiel ihr sofort, sie meinte er hätte Stil und Charme und wäre ein stattlicher kleiner Bursche. Jetzt fehlte nur noch der passende Name :

« „Er ist ein hartgesottener kleiner Kerl, nicht war ? Ich werde ihn Mafia nennen – Mafia Honey.“ »

Der Malteser wurde nun Mafia Honey genannt, kurz einfach nur Maf. Er war glücklich, endlich nach so vielen Reisen bei seinem richtigen Frauchen angekommen zu sein. Er hatte sich schnell heimisch gefühlt, wurde buchstäblich mit den besten Köstlichkeiten verwöhnt, als würde er im Paradies leben. Doch trotz dieser vielen Annehmlichkeiten, liess er sich nicht ablenken und versuchte Marilyn und ihre drei « Leben » als Mensch, Frau und Filmstar genauer unter die Lupe zu nehmen, sie zu beobachten, zu verstehen und in schwierigen Situationen zu unterstützen und zu trösten. Nach kurzer Zeit spürte Maf, dass die Trennung zwischen Arthur Miller und Marilyn Monroe nicht spurlos an seinem Frauchen vorübergegangen war. Doch trotz allem wurde auch ein Hauch von Befreiung erkennbar, der sowohl Marilyn als auch ihm, als Hund und treuen Gefährten gut tat :

« Marilyn nahm mich überallhin mit. Wir hatten grossen Spass dabei, die Avenues entlangzugehen, Marilyn trug manchmal ein Kopftuch und eine Sonnenbrille, niemand erkannte sie, und wir liefen mit offenen Mündern gegen den Wind und hungerten nach Erfahrungen. Ich glaube, uns war ein Gespür für die Nöte der Zeit gemeinsam, der Instinkt, die Distanz zwischen oben und unten aufzuheben, etwas, was sich im Lauf der entwickelte und die Tiefe unserer Freundschaft erklärte. »

Und so begann die fast zwei Jahre andauernde « Freundschaft » zwischen Marilyn Monroe und dem Malteser Maf, die geprägt war durch absolutes Vertrauen, da Maf ein wahrer « Hunde-besitzerinnenversteher » war, und sich auszeichnete durch eine bedingungslose Offenheit, die es sicherlich in dieser Form selten unter Menschen geben kann und wird…

Maf, der Hauptprotagonist, dieses Romans hatte nun die Ehre einer Ikone, eines Stars wie Marilyn Monroe, sehr nahe zu sein. O’Hagan hat mit dieser vierbeinigen « Figur » einen wahren Glücksgriff erzielt. Es ist eine absolut grandiose Idee, Marilyn Monroe aus der Sicht eines Hundes zu charakterisieren, zu erleben, zu beschreiben, quasi hautnah kennenzulernen. Unvoreingenommen kann der Hund all seine Gedanken in den Raum stellen, über die Filmbranche, die Politik und vieles andere nicht nur Tacheles reden, sondern sich auch auf philosophische Weise lustig machen. Es wird ihm keiner verüblen, vor allem nicht sein Frauchen, selbst dann nicht, wenn er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen Hund und Mensch – seine « Freundin » natürlich ausgeschlossen -, dem « Zweibeiner » als Reaktion mit seinen Zähnen einen klaren « Kommentar » in der Wade hinterlässt.

Diese Kunst, den Hund sprechen, ja fast schon « Mensch » werden zu lassen, mag ein Autor in dieser brillanten Form nur dann zu realisieren, wenn er sich in der Hunde- und Filmwelt auskennt. Dieser Roman ist keinesfalls eine leichte Geschichte aus Hundeperspektive. Umso wichtiger ist es, dieses Buch nicht falsch einzuschätzen. Dieses Werk ist äusserst anspruchsvoll, das mit Ruhe und Aufmerksamkeit gelesen werden sollte. Denn nur dann kann man die Affinität von Maf zur europäischen Kultur, die vielen Literatur-Zitate und die « belesene » Dekadenz dieses Hundes verstehen und aufnehmen. Und dieser Roman ist nicht nur eine Teilbiographie von Marilyn Monroe als Einzelperson, es die Geschichte des intellektuellen Amerikas Anfang der 60ziger Jahre, die durch viele Persönlichkeiten aus Literatur, Film und Politik beeinflusst wurde.

« Leben und Ansichten von Maf dem Hund und seiner Freundin Marilyn Monroe » ist ein absolut unvergleiches, aussergewöhnliches und faszinierndes Porträt einer der brühmtesten Blondinen der Welt. Es eignet sich nicht nur für jeden Literaturliebhaber, der auch einen Faible für Marilyn Monroe hegt, Hunde als die besten Freunde des Menschen ansieht und offen ist für einen subtil intelligenten Witz und philosophischen Sarkasmus. Besonders aktuell anlässlich des 50. Todestages am 5. August 2012 von Marilyn Monroe ist dies ein ideales Buch für besonders kulturinteressierte Menschen, welche dieser Frau auf einer sehr klaren, aber äusserst liebenswerten und literarisch empathischen Weise nochmals oder vielleicht auch zum ersten Mal lesenderweise begegnen möchten.

Durchgeblättert – „Lady Earl Grey“ v. Hanns Zischler

Der Mensch ist eigentlich ein sehr tierliebes Wesen. Er bevorzugt Katzen und Hunde, doch manchmal wird er nicht ganz freiwillig von manch anderen tierischen Untermietern, wie Ameisen und Mäusen, konfrontiert. Dies löst in der Regel Entsetzen aus und der spontane Hilferuf nach einem Kammerjäger liegt sehr nahe. Ausser man begegnet so ganz – en passant – in seinem Haus einer sehr gebildeteten und äusserst charmanten Mäusedame, wie sie Hanns Zischler in diesem zauberhaften Märchen für Erwachsene zum Leben und vor allem zum Sprechen erweckt hat.

Hanns Zischler (geb. 1947) zählt zu den bedeutendsten Filmschauspielern Deutschlands. Er hat in mehr als 50 Filmen mitgewirkt und mit Regisseuren wie beispielsweise Wim Wenders, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Steven Spielberg, Caroline Link gearbeitet. Doch Hanns Zischler ist neben diesem Beruf auch noch Hörspielsprecher, Dramaturg, Fotograf, Übersetzer und Essayist. Nach seinem Abitur studierte er neben Ethnologie und Musikwissenschaft auch Philosophie und Germanistik. Bevor er sich dem Theater widmete, arbeitete er bereits als Lektor und Übersetzer von französischen Philosophen. 1996 wurde sein Werk « Kafka geht ins Kino » veröffentlicht, welches Zischler auch als Autor berühmt machte. Er  wurde mit dem Heinrich-Mann Preis und mit dem deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Ganz aktuell ist nun sein neuestes Buch « Lady Earl Grey » erschienen, das er zusammen mit dem Maler und Grafiker Hanno Rink kreiert hat.

« Lady Earl Grey » ist die Geschichte einer – wie der Name schon sagt – besonderen Dame von adeligem Geschlecht. Ja es handelt sich hier um eine ganz ungewöhnliche Lady, nämlich um eine kleine, aber dafür sehr intellektuell wirkende Maus. Russla, der Hausbesitzer, begegnet ihr ganz zufällig eines Morgens auf der Treppe. Er ist gerade – noch etwas schlaftrunken – auf dem Weg in die Bibliothek und da steht sie plötzlich vor ihm, diese kleine Maus, und wartet darauf, was passiert. Russla erkundigt sich ganz entspannt nach ihrem Namen. Lady Earl Grey stellt sich vor und erklärt ihm gleich, dass sie obdachlos ist, da ihr altes Zuhause durch ein Feuer vernichtet wurde. Tja und so kommen die beiden ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass Lady Earl Grey nicht nur neugierig, sondern sich auch sehr für Literatur interessiert und deshalb unbedingt wissen möchte, welches Buch Russla denn in seiner Hand hielt. Er las gerade « Das Kummerfell » von Balzac. Lady Earl Grey ist begeistert, berichtet von ihren französischen Vorfahren und ihrer Liebe zu Balzac. Russla ist ganz hin und weg und kann es kaum glauben, dass eine Maus auch noch lesen kann :

« „Ob Wir lesen können ?! Es gibt ja noch etwas anderes als Leseratten in der Welt ! Unser Volk hat sich ganze Bibliotheken einverleibt. Alle reden von Alexandria… Von Uns spricht keiner – oder nur verächtlich. Geschriebenes wie Gedrucktes, Wir schrecken vor nichts zurück. In Papierdingen sind Wir buchstäblich Allesfresser.“ »

Nach weiteren intensiven Diskussionen über das Lesen und die Bedeutung des Menschen, klingelt es an der Tür und eine Katze mit rot samtigen Fell stürzt in das Haus und schmeichelt sich an Russlas Beine. Der Kater – sehr selbstbewusst – marschiert in die Küche, während Lady Earl Grey sich ganz schnell in der Morgenmanteltasche von Russla versteckt hatte.

Eine Maus und eine Katze in einem Haus und dann noch so « nah » vereint, welch ungewöhnliche Konstellation. Es war fast wie eine Art Gipfeltreffen unter Feinden. Ein Katz- und Maus-Spiel oder ein Maus-Katz-Spiel. Jetzt war Russla gefordert. Rotpetar, das war der Name des Katers, konnte seine Kommentare nicht zurückhalten und merkte sofort, dass hier in diesem Haus noch jemand anderes gewesen sein musste :

« „Wer war hier ??“ Er starrte mich mit grossen Augen an.
„Lady Earl Grey „, sagte ich.
„Du kennst Lady Earl Grey??!!“, rief Rotpetar aus, „du kennst die Königin der Mäuse?!“»

Lady Earl Grey hatte es also faustdick hinter ihren kleinen Öhrchen, das wusste bereits der Kater, nur Russla war vollkommen ahnungslos und liess sich von « seiner » charmanten Mäusedame vollkommen um den Finger wickeln ….

Mit « Lady Earl Grey » hat Hanns Zischler ein so charmantes kleines « Bilderbuch-Märchen » für Erwachsene geschrieben, das sich nicht nur mit dem Thema Lesen, sondern auch mit der Philosophie des Lebens auf ganz besonders espritvolle Weise beschäftigt. Selten werden wir als Leser eine so originelle und freche Heldin in der Literatur wiederfinden, wie diese kleine und kluge Treppenmaus.

Hanns Zischler jongliert gekonnt wie ein Artist mit dem Facettenreichtum der Sprache, versetzt uns ein wenig in die vornehme adelige Zeit und präsentiert uns eine Maus, die mit ihrer distinguierten Rhetorik alle Register zieht und uns von der ersten Sekunde an begeistert und beglückt. Die traumhaft schönen Pinselzeichnungen von Hanno Rink unterstreichen die Eleganz dieser wundervollen märchenhaften Geschichte und geben nicht nur der Hauptprotagonistin, sondern auch allen Mitwirkenden dieses Märchens ein prägnantes Profil.

« Lady Earl Grey » ist das ideale Buch für Liebhaber besonderer und amüsant feinsinniger Literatur. Dieses kleine grosse Werk vermittelt auf höchst vergnügliche Weise interessante Erkenntnisse über die Frage : wer ist eigentlich der Herr im Hause? Und es verzaubert den Leser und entlässt ihn nach der Lektüre mit einem beschwingten Lächeln und einem so wunderbar warmen und märchenhaften Glücksgefühl !

Durchgeblättert – „Wozu lesen?“ v. Charles Dantzig

« Wozu lesen? » Diese Frage sollte man sich als Leser unbedingt stellen, auch wenn es mehr als schwierig sein könnte, die richtige und vor allem persönliche Antwort darauf zu finden. Bevor Sie jetzt jedoch zu sehr ins Grübeln kommen, nehmen Sie einfach dieses Buch von Charles Dantzig und folgen Sie ihm auf eine ganz besondere «  Lese-Reise ».

« Wozu lesen » ist eine sehr bibliophil (edelster Leineneinband) gestaltete Sammlung kleiner feuilletonistischer Essays, die sich mit der im Titel gestellten und äusserst nachdenkenswerten Frage beschäftigt. Es geht hier jedoch nicht um das Lesen im Allgemeinen, sondern nur um das Lesen von Literatur.

Charles Dantzig gibt in diesem teilweise sehr amüsant bissigen Werk keine konkret allgemein gültige Antwort auf die Frage, sondern er schreibt seine ganz persönliche Meinung über sein Leseverhalten und den Leser an sich, die positiv, negativ, ironisch und teilweise sehr böse ausfällt, aber letztendlich immer das Wichtigste aller Ziele nie aus den Augen verliert, nämlich das Lesen!

Charles Dantzig, geboren 1961, studierte nach dem Abitur Jura, krönte sein Studium mit einer Doktorarbeit in Toulouse, ging anschliessend nach Paris – wo er auch heute noch lebt – und begann als Lektor bei « Belles Lettres ». Hier veröffentlichte er zum ersten Mal auf französisch eine Gedichtsammlung von F.S. Fitzgerald. Er publizierte eine Fülle von Romanen, Essays und Lyrik. Dantzig wird mit vielen Literaturpreisen geehrt. 2005 erhielt er unter anderem für sein Werk « Dictionnaire égoïste de la littérature française » den Prix de l’Essai de l’Académie française. 2010 wird er mit dem Grand Prix Jean-Giono für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Charles Dantzig gehört zu den ganz Grossen der französischen Kulturszene. Seit September 2011 ist er, neben seiner langjährigen Tätigkeit als Lektor im Verlag Grasset, Feuilletonist bei der Zeitschrift « Magazine littéraire ». Zum allerersten Mal erscheint nun mit dem Werk « Wozu lesen ? » ein Buch von Charles Dantzig in deutscher Sprache, das von Sabine Schwenk hervorragend übersetzt wurde!

Charles Dantzig berichtet in mehr als 70 kurzen und prägnanten Essays über seine Lesegewohnheiten, Leseerfahrungen und seine Vorstellungen, was es überhaupt bedeuten könnte, ein guter Leser zu sein.

Die erste Antwort auf die Frage « Warum lese ich ? » lautet: « Ich lese wohl so, wie ich auch gehe. » Charles Dantzig gehört zu den Menschen, die auch beim Gehen lesen, auch wenn er immer mal wieder beispielsweise durch eine Parkuhr mehr oder minder schmerzhaft abgebremst wird. Lesen ist für ihn eine besondere Form der « Bewegung », nämlich seine Bewegung, denn als Kind hat es er schon immer vorgezogen, ein Buch zu lesen, als im Garten zu spielen, geschweige denn Sport zu treiben.

Lesen ist eine intensive Beschäftigung. Bei mancher Lektüre könnte man meinen, dass das Lesen den Leser irgendwie positiv verändert, doch das sieht Dantzig nun gar nicht :

« Das Lesen verändert uns kaum. Vielleicht veredelt es uns ein bisschen, aber ein Drecksack ist und bleibt ein Drecksack, auch wenn er Racine gelesen hat. Aus einem ungebildeten Drecksack ist dann allenfalls ein aufpolierter Drecksack geworden. »

Auch wenn die Veränderung durch die Lektüre nicht zutrifft, ist für Charles Dantzig eines ganz klar: Lesen hat etwas mit Liebe zu tun, ja man könnte sagen, dass es gut ist, wenn man nur aus Liebe liest. Aber nicht nur Liebe, auch wahre Freundschaft kann zwischen dem Leser und dem Schriftsteller entstehen.

Dantzig liest ständig. Sein Leben ist das Lesen. Und genau deshalb will er uns keinesfalls die hundert besten Tipps zum sinnvollen und erfüllenden Lesen liefern. Er berichtet von seinen Lesemomenten, von Schriftstellern, von Buchhandlungen, von Träumen und Visionen, was uns Leser jedoch ungewollt animiert, über unsere ganz persönlichen Leseerfahrungen nachzudenken. Wir spüren bei der Lektüre dieser feuilletonistischen Miniaturen seine fast schon grenzenlose Liebe zu Balzac, Proust und Stendhal, seine differenzierte Verehrung für Thomas Bernhard, seine Probleme mit Marguerite Duras, aber auch seine klare Abneigung zu Céline und anderen Autoren, bei denen es eigentlich nur um sogenannte Beststeller-Produzenten geht. Hier, in diesem Buch, dreht sich alles um die wahre Liebe zum Lesen und um die Rettung der Literatur :

« Gute Leser müsste man einsperren, damit sie lesen ! Man würde ihnen ein Gehalt zahlen, und sie täten nichts anderes als lesend Literatur retten ! »

Aber Lesen ist leider nicht immer sehr gesellschaftsfähig. Der Leser, – nein man muss genauer sagen -, der Büchernarr wird schnell als Exot hingestellt. Gerade deshalb ist es um so wichtiger, sich in die Literatur zu stürzen, um der Isolation etwas zu entfliehen und als Vielleser mit Glück in den Romanfiguren doch noch so manchen Freund zu finden.

Eines der essentiellsten Aspekte beim Lesen ist natürlich die Auswahl der Lektüre, denn Bücher können einen in die Irre führen, der Titel kann vieles versprechen und nicht halten und genau deshalb ist es laut Charles Dantzig sehr wichtig, nicht kompliziert, sondern ganz pragmatisch vorzugehen:

« Eine Lektüre muss man anprobieren wie Schuhe. Wir dürfen niemals denken, dass wir für diese oder jene Lektüre nicht gut genug seien. Aber es gibt durchaus Bücher, die für uns nicht gut genug sind. »

Auch wenn wir all die Ratschläge und Erfahrungen von Charles Dantzig uns zu Herzen nehmen, sind wir dann als Leser mit der Frage « Wozu lesen ? » eigentlich einen Schritt weitergekommen? Es gibt ein ganz klares JA, denn die wichtigste Erkenntnis, die wir durch die Lektüre dieses Buches gewinnen, lautet : « Lesen bringt keinen Nutzen. Genau deshalb ist Lesen etwas Grossartiges. »

Es ist noch viel mehr als etwas Grossartiges, dass der Mensch heutzutage seine oft auf die Sekunde durchgeplante Zeit noch mit etwas vollkommen Nutzlosen verbringen kann. Es lebe die Literatur ! Und genau deshalb sollten Sie sofort mit diesem arrogant-bösen und intellektuell-unterhaltsamen Liebesplädoyer für die Lektüre beginnen. Mit sprachlicher Eleganz wird dieses Werk zu einem charmant-sarkastischen und sehr intelligent verpackten «Marketingbrevier» für das Lesen. Doch eines sollten Sie bei der Lektüre dieses Werkes nie vergessen – den Bleistift. Nicht nur, weil « ein guter Leser schreibt, während er liest », sondern weil Sie jedes Zitat von Charles Dantzig – einer der brillantesten Wort-Jongleure und Fabulierkünstler – unterstreichend festhalten möchten.

« Wozu lesen ? » wirbt für das Lesen und die Literatur ! Wir machen «Werbung» für dieses Buch, damit Sie verehrter Leser nie vergessen werden, warum Sie lesen !

Durchgeblättert – „In 80 Büchern um die Welt“

„In 80 Büchern um die Welt“ ist der Titel eines sehr schönen und informativen literarischen Reiseführers, der den Leser natürlich sofort an das Buch „In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Verne erinnert. Doch handelt es sich hier nicht um einen einzigen Abenteuerroman, viel mehr um einen aussergewöhnlichen Text-Bild-Band, der uns einlädt, in und mit Büchern um die Welt zu reisen. Das Besondere an diesem Werk ist die Tatsache, dass uns nicht ein Autor durch die Welt führt, sondern gleich eine ganze Autorengruppe, nämlich die belesenen und vielgereiste Absolventen des Aufbaustudiengangs Buchwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Eine Reise beginnt in der Regel mit dem Einchecken bei Flughafen oder Bahnhof und hier ganz stilgerecht mit einem Vorwort, welches der Autor und Essayist Feridun Zaimoglu nicht besser eröffnen hätte können, als mit diesem alten und sehr schönen deutschen Sprichwort:

„Reisen wechselt das Gestirn, aber weder Kopf noch Hirn.“

„In 80 Büchern um die Welt“ bietet eine besondere literarische Weltreise, die in die Kontinente Europa, Asien, Ozeanien, Afrika, Südamerika und Nordamerika führt. Innerhalb dieser Kontinente entdeckt der Leser Orte und Länder, die er vielleicht bereits besucht hat, die er aber auch ganz neu erobern kann, nicht nur durch einen direkt gebuchten Flug oder Zug, sondern auch durch ein Buch bzw. durch einen Roman.

Man spürt sofort beim ersten Durchblättern die Reise- und Leselust der Autoren, die uns auf diesen Weg ganz intellektuell, aber auch spielerisch neue Kulturen und Menschen näherbringt. Die Werke, die uns um und durch die Welt begleiten, wurden sehr bewusst und gut überlegt ausgewählt. Es handelt sich dabei um 80 grosse Romane des 20. Jahrhunderts. Dabei entdecken wir die Literatur wieder, die man sicherlich zu manchem Pflicht-Werk zählen könnte, oder die bereits als Schullektüre Lust auf andere Städte gemacht hat, wie zum Beispiel „Paris – Ein Fest fürs Leben“ von Ernest Hemingway oder „Die Stimmen von Marrakesch“ von Elias Canetti.

Doch mit diesem ungewöhnlichen literarischen Reiseführer stöbern wir auch eher unbekannte Autoren auf, die sicherlich nur selten einen Platz in der heimischen Bibliothek finden. Denken wir zum Beispiel an folgende Werke:

„Geh nicht fort“ von Margaret Mazzantini: Ein Roman, der im Rom der Jahrtausendwende spielt und sich um einen erfolgreichen Chirurgen namens Timotheo dreht, der in einer sehr grossen Lebenskrise steckt.

„Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew: Die Geschichte des Trinkers Wenedikt, der mit einem Koffer voller Alkohol seine Zugreise von Moskau nach Petuschki unternimmt und dabei schwer ins Philosophieren gerät.

„Ketala“ von Fatou Diome: Ein bewegendes Schicksal einer senegalesischen Frau, die eigentlich nach dem Abitur Literaturwissenschaft studieren möchte, dann aber von ihrem Vater gezwungen wird, einen wesentlich älteren Mann zu heiraten und nur noch Ehefrau und Mutter sein kann.

Jedes dieser 80 vorgestellten Bücher erweckt Neugierde und Wissensdurst! Wir erkunden das Land bzw. die Stadt, in welcher der Roman spielt. Gleichzeitig erfahren wir auch etwas über den Autor des Romans und bekommen Informationen über das vorgestellte Werk. Zitate, schöne Fotos und länderspezifische Literaturtipps runden diesen lebendigen Text-Bild-Band noch zusätzlich ab.

„In 80 Büchern um die Welt“ ist ein sehr anregendes und inspirierendes Buch für Weltenbummler und solche, die es noch werden wollen. Es macht nicht nur Lust auf Reisen, sondern auch auf Bücher und Lesen. Denn Lesen ist – wie wir alle bereits wissen – eine ganz besondere Reiseart: die Augen wandern von Buchstabe zu Buchstabe und von Wort zu Wort. Der Gedanke fliegt und der Geist schwebt in anderen Welten. Die Autoren, sprich die Absolventen der Uni München, haben dem Bücherliebhaber und Reisefreudigen ein wunderschönes, kompaktes und sehr ansprechendes Buch geschenkt, das uns zu literarischen „Kurztrips“ rund um den Globus verführt und den Duft von fernen Ländern einatmen lässt!

Durchgeblättert – „Bilder des literarischen Lebens“ v. Isolde Ohlbaum

„Bilder des literarischen Lebens“ ist eine fantastische und kompetente Bild-Chronik des Autorenlebens aus vier Jahrzehnten. Ein geistiges Archiv in Form einer „literarischen“ Photo-Enzyklopädie, die es jemals in dieser Form gegeben hat.

Isolde Ohlbaum wurde in Oberbayern geboren und lebt seit 1953 in München. Sie absolvierte Anfang der siebziger Jahre eine Ausbildung an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie und arbeitet seitdem als freischaffende Photographin. Ihr Spezialgebiet ist das Porträt. Sie hat viele Preise gewonnen und ihre Bilder sind regelmässig in internationalen Ausstellungen zu bewundern.

Mit diesem prachtvollen Photo-Bildband hat sie ein wahres Wunderwerk geschaffen. Über vier Jahrzehnte photographierte sie in Deutschland ansässige Autoren und Autorinnen wie zum Beispiel Achternbusch, Heym, Zuckmayr. Jedoch auch Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus den verschiedensten Ländern, die Deutschland besuchten, hier Preise in Empfang nahmen und Vorträge hielten wie unter anderen Marguerite Duras, Umberto Eco, wurden von ihr porträtiert.

Isolde Ohlbaum war bzw. ist unermüdlich gewesen in ihrer photographischen „Verfolgung“, denn sie hat keine Buchmesse, keine Autorenlesung, keine Preisverleihung und kein Festival verpasst, um fast alle wichtigen literarischen Persönlichkeiten vor die Linse bringen zu können. Diese Ausdauer gehört neben der ästhetischen Photographiekunst zu der Grundbasis dieses unglaublich hochwertigen Buches, für welches aus 357 Schwarz-Weiss- Bildern 352 ausgewählt und alphabetisch geordnet wurden.

Isolde Ohlbaum nützt bei jedem ihrer Porträts die Gunst des Augenblicks und eröffnet damit dem Betrachter unvergessliche, ungeschönte und sehr authentische Momente im Leben eines Schriftstellers bzw. einer Schriftstellerin. Die Bilder haben eine gewisse Theatralik, die teilweise inszeniert, teilweise aber auch ganz spontan entstanden ist. Genau dies erklärt in einem sowohl sachkundigen als auch poetischen Einführungstext Cees Nooteboom mit bewundernder Sensibilität.

„Bilder des literarischen Lebens“ ist ein „Familienalbum“ aus der Welt der Literatur. Ein faszinierender Bildband, der in keinem buchhändlerischen oder literarischen Haushalt fehlen sollte. Ein Kompendium feinster Porträt-Photographie, das jeden Liebhaber besonderer und formvollendeter Photokunst begeistern wird.

Durchgelesen – „Frühstück mit Proust“ v. Frédérique Deghelt

„Frühstück mit Proust“ ist ein charmanter Roman, in dem zwei Frauen – eine Grossmutter und eine Enkelin – die Hauptrolle spielen. Frédérique Deghelt erzählt eine wunderbare Geschichte, die sich um die Fragen des Älterwerdens dreht und warum Bücher und Lesen ein wichtiges Lebenselixier sein können.

Frédérique Deghelt hat bereits viele Romane veröffentlicht und arbeitet als Journalistin und Fernsehregisseurin. Sie lebt in Paris, nur wenn Sie gerade mal nicht auf Reisen ist, denn sie ist eine wahre Kosmopolitin.

Der Roman wird erzählt aus der Perspektive der Enkelin Jade und aus der Sicht der Grossmutter Jeanne, die Jade Mamoune nennt. Die Geschichte beginnt dramatisch, da Jade’s geliebte Grossmutter nach einem Sturz in ihrem Haus in ein Pflegeheim umziehen soll. Mamoune’s Mann war vor drei Jahren gestorben, sie hatte seitdem allein gelebt und fühlte sich etwas hilflos. Das Pflegeheim wurde organisiert durch ihre zwei Töchter (Jade’s Tanten), das in ein raffiniertes Probewohnen verpackt wurde, aber letztendlich als Dauerlösung sich entwickelt hätte. Mamoune liebte ihr Haus und vor allem ihren Garten, deshalb wäre das Pflegeheim sicherlich ihr Untergang. Doch es kommt anders als Mamoune jemals gedacht hätte. Jade entschliesst sich, ihrer Grossmutter zu helfen und sie vor dem Altersheim zu retten. Sie entführt Mamoune nach Paris, wo sie lebt und gründet mir ihr eine nicht ganz ungewöhnliche WG.

Jade möchte all die Liebe, die sie als Kind von ihrer Grossmutter bekommen hat, wieder zurückgeben. Bis jetzt war Mamoune für sie eine warmherzige Frau: eine Bäuerin, eine Frau ohne Bildung und eine beliebte Kinderfrau. Doch plötzlich entdeckt Jade ganz neue Seiten an ihrer geliebten Grossmutter. Jade arbeitet als Journalistin freiberuflich in Paris und hat einen Roman geschrieben, der bereits von verschiedensten Verlegern abgelehnt wurde. Sie ist besonders überrascht, als ihr Mamoune angeboten hatte : „Ich könnte dir vielleicht helfen …“ Jade war irritiert, denn wie sollte sie ihr helfen wollen. Ja und dann erklärte ihr Mamoune warum sie ihr die Hilfe anbieten möchte und auch könnte:

„«Ich habe immer viel gelesen, schon vor ganz langer Zeit. Ich bin eine begeisterte Leserin, ein richtiger Büchernarr, kann man sagen. Bücher waren meine heimliche Liebe, mit ihnen habe ich deinen Grossvater betrogen, der unser ganzes gemeinsames Leben lang nichts davon wusste.»“

Sie erzählte Jade, wann und wie sie heimlich gelesen hatte, damit es ja auch niemand mitbekam. Denn für die Tochter eines Bergbauerns und später als Frau eines Arbeiters war es eher ungewöhnlich, Lesen zu können und zu wollen. Literatur war für die Reichen und Gebildeten, und nichts für jemanden, der gerade mal die Grundschule besucht hatte. Somit musste sich Mamoune etwas einfallen lassen. Immer dann, wenn sie die Babys und Kinder gehütet hatte, las sie ihnen vor: Auszüge von Hugo, Flaubert und Joyce. Sie verwendete die Bibel als „Schutzumschlag“, um diskret Proust lesen zu können. Und so tauchte sie ganz langsam und heimlich ein in die Welt der Literatur.

Jade ist überrascht und begeistert zu gleich. Die zwei Damen verstehen sich immer besser und kommen sich auf eine ganz besondere Weise durch die gemeinsame Leidenschaft des Lesens immer näher. Mamoune hilft im Haushalt, kocht und räumt auf, um Jade das Leben so schön wie möglich zu machen. Aber sie entdeckt auch Paris, das Viertel am Montmartre, wo sie nun lebt. Sie lernt mit dem Internet umzugehen, besorgt sich eine Email-Adresse, begibt sich ganz besonnen auf die Suche nach einem Verleger für Jade’s Roman und sie verliebt sich zu ihrer eigenen und Jade’s Überraschung….

„Frühstück mit Proust“ ist eine entzückende Geschichte über das Lesen und das Alter. Raffiniert und feinfühlig enthüllt Frédérique Deghelt viele Fragen, mit denen wir konfrontiert werden und die wir uns sicherlich immer wieder stellen müssen: Wie gehen wir mit älteren Menschen um? Ist das Altersheim die richtige Lösung? Können Jung und Alt unter einem Dach leben? Der Roman ist keines-falls trivial oder sentimental, nein er ist sehr realistisch. Auch die verschiedenen Erzählperspektiven von Seiten der Enkelin und Grossmutter eröffnen dem Leser ganz überraschende Sichtweisen, die Fréderique Deghelt intelligent und weise beschreibt. Das Buch ist keine intellektuelle Diskussion über Autoren und Literatur, sondern ein sehr herzliches und bewegendes Buch über den Sinn des Lebens.

„Frühstück mit Proust“ ist ein bezaubernder und einnehmender Roman, der sich wunderbar für seelenerwärmende Stunden in den eher kühlen und grauen Novembertagen eignet, aber auch sehr zum Nachdenken anregt, spätestens dann, wenn man den Epilog am Ende des Buches gelesen hat.

Durchgelesen – „Der Zauber der ersten Seite“ v. Laurence Cossé

Wünschen wir uns als Bücherliebhaber, Lesebegeisterte und Literaturkenner, nicht schon immer eine Buchhandlung, die nur gute Literatur bzw. gute Romane verkauft? Eine Buchhandlung, die sich abhebt vom Mainstream-Angebot, die sich durch keine Bestsellerlisten beeinflussen lässt, geschweige denn Bestseller in ihr Sortiment aufnimmt. Kann eine Buchhandlung, die nur ausgewählte Literatur, zum Teil schon vergessene Werke, Klassiker und Erstausgaben auf Lager hat, überleben und eventuell sogar Erfolg haben? All diese Fragen mögen wir uns als Kunde und Leser stellen. Die Antworten finden wir hier in diesem überaus charmanten Roman, der den Leser in eine ganz besondere Welt der Bücher eintauchen lässt, wie wir sie uns nur in unseren kühnsten Träumen wünschen können.

Laurence Cossé, geboren 1955 in Boulogne -Billancourt, arbeitet als Kolumnistin, Hörfunkautorin und Schriftstellerin. Sie hat mit ihrem Roman „Der Zauber der ersten Seite“ (im Original „Au Bon Roman“), der nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt, laut der französischen Tageszeitung Le Figaro „Eine Hymne auf das Lesen und die Einzigartigkeit des Lebens!“ geschrieben. Sie veröffentlichte bereits neun Romane. Ihre Novellen-Sammlung „Vous n’écrivez plus?“ wurde mit dem Prix de la Nouvelle de L’Académie Française 2007 ausgezeichnet.

„Der Zauber der ersten Seite“ beginnt sehr spannend! Drei berühmte Autoren werden jeweils Opfer eines hinterhältigen und subtilen Anschlags. Der Erste ist Paul Néon, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Chambéry lebt. Er wird von zwei Unbekannten in den Wald geschleppt, mit Alkohol vollgepumpt und in der Kälte mit der Flasche in der Hand einfach liegen gelassen. Der zweite Anschlag gilt der Schriftstellerin Anne-Marie Montbrun. Sie wird bei einer ihrer täglichen Autofahrten durch ein plötzlich querstehendes Auto auf der Strasse überrascht, kommt von der Strasse ab und stürzt einen Abhang hinunter. Glücklicherweise überleben sowohl Paul, als auch Anne-Marie, das Attentat. Armel Le Gall, das dritte Anschlagopfer, fühlt sich bei seinem morgendlichen Spaziergang von zwei jungen Männern verfolgt und bedroht. Zuerst nimmt er es gar nicht so ernst, doch die Angst wird bei jedem Spaziergang grösser, die Männer warten auf ihn und er kann gerade noch rechtzeitig fliehen und sich retten. Doch er ist so durcheinander, dass er beschliesst Ivan Georg anzurufen:

„«Doch gestern geht’s wieder los, die beiden Kerle warten auf mich. Es regnet, kalter Nieselregen. Meine Nerven flattern. Zehn Meter vor ihnen packt mich die Angst, und ich mache kehrt. Ich will ehrlich sein: Ich mache mich so schnell wie möglich davon, in sehr schnellen Schritten. Aber nicht schnell genug, um nicht noch jemanden grölen zu hören: Fast wie in einem schlechten Krimi, was Le Gall? Mit ordinären Personen und einem grob gestrickten, richtig dümmlichen Plot. Armer Le Gall, wo er die gute Literatur so liebt. Das ist kein guter Roman, was? Können Sie sich das vorstellen, Van? Sie betonten das gut. Gar kein guter Roman…»“

Ab jetzt befindet sich der Leser in einem einzigartigen Krimi, der nicht nur Schriftsteller als Opfer bietet, sondern die gute Literatur an sich. Da hilft nur noch eins: die Polizei muss eingeschaltet werden. Mit Kommissar Heffner wird der Fall aufgerollt und bis ins Detail untersucht. Und damit beginnt die eigentliche Geschichte der besonderen Buchhandlung „Der gute Roman“.

Ivan Georg, ein Buchhändler aus Leidenschaft mit einem nicht ganz konventionellen buchhändlerischen Lebenslauf, und Francesca Aldo-Valbelli, eine junge Mäzenin aus reicher Familie mit grosser Liebe zur Literatur und verheiratet mit einem profitgierigen Manager, gründen gemeinsam die Buchhandlung „Der gute Roman“. Eine Buchhandlung, die sich vom klassischen umsatzgesteuerten und nach Massenware orientierten System unterscheiden soll. Ein Ort, der nur gute Romane zu bieten hat, die von einem ausgewählten Komitee vorgeschlagen werden. Insgesamt besteht dieses Komitee aus acht grossen Romanciers, die sich entschlossen haben, die Idee des „Guten Romans“ zu unterstützen. Sie alle wissen untereinander nicht von ihrer Mitgliedschaft, sie haben sich alle der Anonymität untergeordnet, welche eine der Grundprinzipien dieses Komitees ist. Jeder Autor hat ein sogenanntes Codewort, was er im Falle einer Kontaktaufnahme benutzen muss. Alle acht Autoren wurden vor der Eröffnung der Buchhandlung aufgefordert, eine Liste mit 600 Romanen aufzustellen, ohne die sie niemals auf eine einsame Insel ziehen würden. Und diese acht Listen wurden dann zu einer Gesamtliste vereint, welche letztendlich das Sortiment “ Des guten Romans“ verkörpern wird. Für Ivan, die geniale Idee und die Basis des neuen Buchhandlung- Konzepts:

„«Unser Vorhaben ist radikal. Eine Revolution der kulturellen Sitten. Alle Welt ist heute der Meinung, es würden zu viele überflüssige Bücher veröffentlicht. Dieses Phänomen betrachten wir als geistige Umweltverschmutzung, deshalb sagen wir einfach: Es reicht! Hören wir auf, uns unseren Geschmacks-sinn abstumpfen zu lassen. Sorgen wir für frische Luft. Atmen wir. Wir glauben, wir haben eine gute Chance, Gleichgesinnte zu finden.»“

Die Buchhandlung wird im Erdgeschoss eines sehr schönen Hauses in der Rue Dupuytren, in der Nähe vom Place d’Odéon, im 6. Arrondissement von Paris Ende Sommer kurz vor der literarischen Rentrée eröffnet. Begleitet von einem nahe zu genialen Marketingauftritt und Werbeplan, der von Francesca lanciert und betreut wurde, ist die Buchhandlung ab dem ersten Tag ein wahnsinniger Erfolg. Die Menschen strömen in den Laden, lesen sich fest und kaufen die Regale leer. Jeder ist glücklich, der diesen Ort betritt. Endlich eine Buchhandlung, die gute Romane empfiehlt und nur solche verkauft. Und dazu ein Buchhändler, der alles gelesen hat, was in seiner Buchhandlung steht. Ein Konzept, das keine Bestseller wie zum Beispiel Dan Brown vorsieht und das sich nicht durch die Neuerscheinungspakete der Verlage irritieren lässt, indem sie einfach ganz galant abgelehnt werden.

Doch dieser Erfolg wird leider nicht nur mit wohlwollenden Augen betrachtet. Die Konkurrenz und der Neid sind nicht weit entfernt. Deshalb versucht Kommissar Heffner die Drahtzieher der Anschläge und der verbalen Attacken in der Presse und im Internet herauszufinden und zu enttarnen. Die Freunde des „Guten Romans“ lassen sich jedoch nicht beirren, bleiben ihrer Buchhandlung treu und unterstützen sie soweit es geht. Doch die Rache der „normalen“ Buchhandlungen lässt nicht nach, sie provozieren und versuchen alles, um diesen Erfolg zu unterbinden und dem sogenannten Elitären ein Ende zu setzen. Es geht schliesslich soweit, dass neben des „Guten Romans“ noch zwei weitere Buchhandlungen eröffnet werden mit den Namen „Freude am Roman“ und „Der exzellente Roman“. Wer steckt dahinter, und warum ist der „Gute Roman“ eine solche Bedrohung? Dies alles und noch mehr, vor allem aber auch was das Leben und die Liebe nicht nur zur Literatur betrifft, erfährt der Leser in diesem wahrlich grandiosen und aussergewöhnlichen Buch aus der Welt der Buchstaben.

„Der Zauber der ersten Seiten“ ist ein magischer Roman, den man in der Fülle der Auswahl an guter Literatur erst lange suchen muss. Man unterliegt dem Charme, der Idee, der Wirkung und der Spannung dieses Werkes bereits ab der ersten Seite. Der Leser spürt die Leidenschaft, die von dieser Geschichte ausgeht, die sich mit der harten Realität der Buchhandelswelt auseinandersetzt und einen Gegenpol schafft, der nicht besser als die in diesem Buch beschriebene Ideal-Buchhandlung, die sich viele Leser und Buchhändler sicherlich wünschen, sein könnte. Laurence Cossé schreibt äusserst sensibel und respektvoll in ihrem Roman über eine Fülle von anderen mehr oder weniger bekannten guten Romanen, die der Leser neu entdecken oder wieder entdecken kann. Somit tritt der Leser ganz unbeabsichtigt eine Reise an voller Inspiration und Leidenschaft durch die gute Literatur (mit Schwerpunkt der Französischen Literatur), welche ihn zwischen Faszination und Spannung taumeln lässt. Selten wurden die Themen Buchhandel und Literatur so gut in Szene gesetzt und mit der Form des Kriminalromans in einen äusserst mitreißenden Pageturner verwandelt, bei denen es sich in der Regel ja sonst nur um sogenannte Bestseller handelt.

„Der Zauber der ersten Seite“ sollte sich nicht zum Bestseller im Sinne des meistverkauften Werkes entwickeln, sondern es sollte das meistgelesene Buch werden, um verstehen zu können, wie eine Ideal-Buchhandlung aussehen könnte. Möge die Utopie einer Buchhandlung wie „Der gute Roman“ nicht nur Utopie bleiben in der heutigen Zeit von Grossketten und Stapeltiteln, sondern wenigsten zum Nachdenken anregen! Vielleicht gehen Träume in Erfüllung für den belesenen Kunden und den leidenschaftlichen Buchhändler und möge deshalb vor dem reinen Profit die Liebe zu Büchern und zur Literatur immer an erster Stelle stehen!

Durchgelesen – „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ v. Pierre Bayard

Sie kennen weder Marcel Proust, Robert Musil noch Oscar Wilde? Sie haben nicht mal „Der Name der Rose“ von Umberto Eco gelesen, geschweige denn wissen Sie etwas über Graham Greene und Michel de Montaigne. Dies sollte ab sofort kein Problem mehr sein, denn Sie können nun auch ohne Kenntnisse niveauvoll über Literatur plaudern, wenn Sie dieses Essay von Pierre Bayard lesen!

Der französische Literaturpapst Bernard Pivot hat es bestätigt: „Das Buch schlechthin! Wunderbar, man muss in diesem Leben nur noch Bayard lesen. Sein Buch ersetzt alle anderen, alte, neue, zukünftige.“

Ob Pivot Recht hat, sollten Sie selbst feststellen, in dem Sie in dieses grandiose Essay eintauchen und erkennen, was der Unterschied  und die Grenzen zwischen Lesen und Nichtlesen sind.

Pierre Bayard ist Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker. Und dieses Werk ist eine Art Analyse des Lesens, der Bücher, der Bildung und der Gesellschaft in unserer mit Informationen und Literatur überfrachteten Zeit.

Das Buch hat drei zentrale Teile, die wiederum in vier Unterkapitel eingeteilt sind. Bereits in seinem Vorwort schreibt Bayard über die Schwierigkeit, sich der Verpflichtung, Bücher zu besprechen, die er nicht gelesen hat geschweige denn aufgeschlagen hat, zu entziehen. Man ist irgendwie unter Zwang und weiss nicht, wie man dieses Problem lösen soll:

„Dieses Zwangsystem aus Pflichten und Verboten hat zu einer allgemeinen Scheinheiligkeit in Bezug auf die angeblich gelesenen Bücher geführt. Ich kenne nur wenige Bereiche des Privatlebens, von Geld und Sexualität einmal abgesehen, über die man so schwer verlässliche Informationen bekommt wie über Bücher.“

Somit ist es hilfreich, sich gleich dem ersten Teil dieses Essays zu widmen, das sich mit den „Arten des Nichtlesens“ beschäftigt. Es geht darum, dass man „Bücher, die man nicht kennt“, wengistens an einer Figur des Werkes einordnen kann. Diese Figur kann auch eine Nebenfigur sein, wie zum Beispiel der Bibliothekar in Robert Musil’s Mann ohne Eigenschaften. Genauso reicht es vollkommen aus, nur „Bücher, die man quergelesen hat“ zu kennen. Selbst Paul Valéry – ein „Meister des Nichtlesens“ konnte einen Artikel über Marcel Proust verfassen, obwohl er nicht einen einzigen Band der berühmten „Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen hatte. „Bücher, die man vom Hörensagen kennt“ waren für Umberto Eco ausreichend, um darüber sich unterhalten zu können. Und genauso einfach ist es auch für „Bücher, die man vergessen hat“. Da sollte man sich nicht grämen, sondern es wie Michel de Montaigne halten, der sagte: “ Wenn ich also ein Mensch bin, der einiges gelesen hat, so doch einer, der nichts behält“.

Als Nächstes sollte man sich unbedingt der im Leben schwierigen „Gesprächssituationen“ bewusst werden, die Pierre Bayard in seinem zweiten Teil sehr humorvoll erläutert. „Im Gesellschaftsleben“ werden oft Dinge erwartet, die man erst nicht glaubt erfüllen zu können und dann am Beispiel von Graham Greene, der sich vor Leuten über Bücher äussern sollte, die er nicht gelesen hat, sieht, dass es funktioniert. Auch „einem Lehrer gegenüber“ ist es nicht nötig, ein Buch zu lesen bzw. aufzuschlagen, um kluge Anmerkungen geben zu können. Am Schwierigsten jedoch ist, sich richtig „dem Schriftsteller gegenüber“ zu verhalten, wenn man merkt, dass der Autor nicht mal sein eigenes Buch gelesen hat. Und besonderes Fingerspitzengefühl ist erforderlich, wenn man „der oder dem Liebsten gegenüber“ seine ganze Verführungskunst zu Füssen legen möchte, in dem man ihm oder ihr mit Hilfe eines Gesprächs über Literatur imponieren möchte, die der andere zwar sehr schätzt, von der man selber aber keinen blassen Schimmer hat.

Um aus all diesen Fallen, Fettnäpfchen und anderen unguten Situationen schadlos entschlüpfen zu können, ist sicherlich der letzte Teil über die „empfohlenen Haltungen“ der Schlüssel des Nichtlesens. Jetzt heisst es als Erstes, „sich nicht schämen“, das auch schon David Lodge in einem seiner Romane bestätigt hat. Dann sollten wir als Nichtleser eine Eigenschaft haben, nämlich „sich durchsetzen“, was Balzac uns in seinem Roman „Verlorene Illusionen“ geschickt vorführt. Es bleiben die  Alternative „Bücher erfinden“ oder der letzte Ausweg „von sich sprechen“, was Oscar Wilde  – „ein entschiedener Nichtleser“ – wörtlich genommen hat, in dem er der Meinung ist, dass „die angemessene Lesedauer eines Buches zehn Minuten beträgt, da man sonst vergessen könnte, dass die Begegnung mit einem Text hauptsächlich eine Anregung ist, seine eigene Biographie zu schreiben.“

Am Ende des Essays merken wir als Leser, dass Pierre Bayard alles andere als ein Nichtleser ist. Mit Witz, Ironie und Klugheit klärt er uns auf über die Unmöglichkeit des Nichtlesens und gibt spannende Einblicke in den Literaturbetrieb. Bayard macht sich lustig über eine buchlose Bildung. Nach der Lektüre dieses Werkes werden Sie als Leser, mit einem Augenaufschlag souverän Proust zitieren, sich über Balzac unterhalten und aus dem Leben von Oscar Wilde erzählen können. Was will man mehr? Doch ohne Humor sollte man sich diesem Buch auf gar keinen Fall widmen, denn spätestens jetzt wird jeder zum lesenden „Nichtleser“.

Durchgelesen – „Die Überlebensbibliothek“ v. Rainer Moritz

Rainer Moritz – Leiter des Hamburger Literaturhauses und Vorstandsmitglied der Marcel Proust Gesellschaft – schreibt in seinem wunderbaren Werk, wie viele Romane die Macht haben, uns und unser Leben zu verändern. Romane sind unsere Freunde, unsere Seelentröster, zum Teil unsere Therapeuten.

In verschieden kleinen Lebens-Kapiteln zeigt uns Rainer Moritz, die dazu passende Lektüre. Im Bereich „Mit sich selbst klar kommen“, sollte beispielsweise wer sich selbst unterschätzt, „Das hässliche Entlein“ von Hans Christian Andersen lesen; oder im Kapitel: „Mit Schwächen und Lastern leben“, sollte man sich bei Eifersucht mit Marcel Proust, „Eine Liebe von Swann“ beschäftigen. Oder im Kapitel: „Mit anderen Menschen zurechtkommen (oder auch nicht)“, wäre es für denjenigen, der beabsichtigt mit seiner Mutter dauerhaft zusammenzuleben, sinnvoll „Die Klavierspielerin“ von Elfriede Jelinek zu lesen.

Kurzum für jede Befindlichkeit, für jeden Seelenzustand, für jede Lebensveränderung, findet Rainer Moritz, das passende Buch, denn er ist der Überzeugung, dass Bücher wahre Hilfe leisten.

„Die Überlebensbibliothek ist ein Plädoyer für die Macht der Lektüre“ bestägtigt er selbst.

Es ist wie ein kleines Lebenshilfe-Handbuch, das Leben und Literatur auf sehr mutige und angenehme Weise verbindet. Es liest sich wie der literarische Beipackzettel und kann ohne Einnahme der Tabletten gleich als Therapie verwendet werden. Und es hilft dem Leser, bekannte und weniger bekannte Literatur wieder neu zu entdecken.

Robert Gernhardt – Gedicht

„Leiden und Leben und Lesen und Schreiben“ von Robert Gernhardt

Ich will alles sagen dürfen,
Wort aus jeder Wunde schürfen:

Scheiss der Hund drauf, das Gelingen
lässt sich einfach nicht besingen.

Wer will vom Gelingen lesen?
Höchstens reichlich flache Wesen.

Lieber sprech ich doch zu jenen,
die sich nach was Tiefem sehnen.

Die, wenn die Geschäfte laufen,
gerne etwas Schicksal kaufen.

Seiten voller Schmerz und Wunden
adeln allzu satte Stunden.

Verse voller Pein und Leiden
nützen letzten Endes beiden:

Die da bluten, die da blättern,
beide sehnen sich nach Rettern.

Deshalb muss es beide geben,
die da leiden, die da leben.

Die da lesen, soll man rühren
weiter sowie höher führen.

Und die andern, wir, die schreiben,
sollten auf dem Teppich bleiben.

Durchgelesen – „Die souveräne Leserin“ v. Alan Bennett

„Die souveräne Leserin“ von Alan Bennett ist zu aller erst eine wunderbare Hommage an das Lesen, die Literatur und die englische Königin.

Die Queen wird mittels eines Spazierganges mit ihren Hunden zu einem Bibliotheksbus geführt, der einmal wöchentlich vor ihrem Schloss parkt. Sie ist neugierig und betritt den Bus, und sieht auch noch einen ihrer Mitarbeiter ( der Küchenjunge Norman), der begeistert in den Büchern schmökert und sich etwas ausleiht. Sie zeigt sich höflich und leiht sich auch ein Buch aus, obwohl sie sich nie so richtig fürs Lesen interessiert hat und eigentlich ja selbst eine sehr bedeutende Bibliothek besitzt.

Ja und so begibt sich der Leser und „die souveräne Leserin“ (Queen) auf eine gemeinsame Reise durch die Literatur gespickt mit entzückenden Anspielungen, verpackt in sehr schöner Sprache und gewürzt mit einer guten Portion englischen Humors.

Eines der schönsten Zitate in diesem Werk ist:

„«Hat jemand von Ihnen Proust gelesen?», fragte die Queen in die Runde.“

Dieses 115 Seiten literarisch starke Büchlein bietet einen vergnüglichen, teilweise auch was die Literaturgeschichte betrifft sehr lehrreichen, aber vor allem unverwechselbaren Lesegenuss.

„«Man liest zum Vergnügen», sagte die Queen. «Lesen ist keine Bürgerpflicht.»“