Die „Zartheit zwischen zwei Menschen ist nichts anderes als das Bewusstsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen“ hatte bereits Theodor W. Adorno in seinem Werk „Minima Moralia“ definiert. Vielleicht kann die Strahlkraft dieses Adorno-Zitats durch den gerade aktuell erschienen Roman „Die Zartheit der Stühle“ von Jürg Beeler bestätigt werden.
Jürg Beeler, in Zürich geboren, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Er lebt und schreibt sowohl in Südfrankreich als auch in der Schweiz. Vielfach ausgezeichnet hat er zwei Gedichtbände und inzwischen sieben Romane veröffentlicht.
Matteo, die Hauptfigur in Beelers neuen Roman, ist ein ehemaliger Clown, Pantomime und Schauspieler. Aufgewachsen in einem Bündner Dorf, lädt er den Leser ein in sein Leben zwischen Schweigen, Beobachten, Sprechen, Lieben und Trauern.
Zuhause im Alltag ist Matteo eher schweigsam, nur auf der Bühne, lernte er später als Schauspieler mit der Sprache und den Worten zu spielen. Insbesondere bei Shakespeares Hamlet oder King Lear war er dank seines aussergewöhnliches Gedächtnisses in seinem Element. Doch dann passiert etwas, vor dem sich wirklich jeder Schauspieler in seinem Bühnenleben fürchtet. Er hatte seinen Text verloren, eine Gedächtnislücke, die selbst mit Hilfe der Souffleuse nicht mehr geschlossen werden konnte. Es passierte genau in der dritten Vorstellung nach dem Begräbnis seiner langjährigen Lebenspartnerin Zofia.
Zofia war für Matteo eine elegante Polin, die in seinen Augen zu den Frauen gehörte, die am Besten zuhören konnten. Nun war sie tot und Matteo zieht sich von der Bühne zurück:
„Vom Rampenlicht trat ich in ein Dunkel hinaus.“
Er flieht von Berlin nach Lerone, einer kleinen süditalienischen Stadt. Vor dreissig Jahren kam Matteo an diesen Ort, lernte dort per Zufall seinen inzwischen guten Freund Ettore kennen, der ihn als Anwalt dabei unterstützte, eine passende Wohnung zu kaufen. Lerone sollte ihm helfen, den Verlust von Zofia zu verarbeiten. Sie hatten gemeinsam hier viele intensive Momente verbracht, oft auch jeder für sich. Matteo auf seinem Lieblingsplatz der Piazza d’Oriente.
Und genau auf diesem Platz begegnet ihm jetzt nach seiner Flucht eine fremde Frau, die ihn anspricht. Sie nennt sich Vera, sie kam von Montréal nach Paris und sucht hier in Lerone Ruhe für ihre Komposition. Sie kommen ins Gespräch. Und dann steht Vera plötzlich vor seiner Wohnungstür. Sie bleibt ein paar Tage und dann ist sie wieder weg, worüber Matteo sich fast schon freute:
„Ich war gerne mit mir allein, wenigstens wusste ich, was ich an mir hatte.“
So ganz allein war Matteo jedoch auch in Lerone nie, denn Zofia war immer bei ihm. Er spürte gerade in Lerone ihre fünfzehnjährige Verbindung, aber auch die Probleme, die sie zusammen hatten. Sie zogen nach Berlin, nach dem sie sich in Paris bei einer Veranstaltung kennenlernten. Zofia war Musikerin, Pianistin, Cembalistin. In Matteos Augen war es ein grosser Fehler gewesen, gemeinsam nach Berlin zu gehen. Sie lebten jedoch in getrennten Wohnungen. Vielleicht war er es genau dies, was die Liebe so komplex gestaltete. Er hatte sich während ihrer Krankheit zu wenig um sie gekümmert und letztendlich, nachdem sie keine weitere Behandlung mehr wollte und mit ihrem Leben abschloss, hatte sie sich von ihm getrennt.
Matteo versuchte mit ihrem Tod umzugehen, sein schlechtes Gewissen zu analysieren und neuen Mut zu fassen, um Vera genauer zu verstehen. Irgendwie spürte er, dass Vera nicht zufällig in Lerone war und seine Nähe suchte…
All die Beziehungen, die Matteo in seinem Leben hatte, mit Zofia, mit Vera, waren, wenn man an das Zitat von Adorno denkt, vollkommen zweckfrei. Eines ist sicher, Matteo ist ein Mensch, der intensiv lebt und gelebt hat. Dabei von der Vergangenheit immer wieder eingeholt wurde, die Gegenwart aber nicht ignorierte und behutsam in eine noch ungewisse Zukunft blickte.
Selten wird in der Gegenwartsliteratur mit soviel Feingefühl, ja mit so einer unglaublichen Zartheit das Leben, Leiden und Lieben eines Mannes und zweier Frauen aufgezeichnet. Matteo teilt neben Zofia und Vera seine Gedanken, Gefühle, Sorgen und Wünsche ganz vorsichtig mit dem Leser, ohne ihn dabei zu überfordern. Natürlich wirkt er dabei oft verletzlich und ein wenig hilflos, denn auch Matteo stürzt ab und versucht sich zurück zu kämpfen.
Jürg Beeler ist ein Sprachkünstler und Wort-Jongleur. Der Leser spürt den Dichter, den Lyriker und freut sich bei jeder Zeile, wie die Sätze durch ihre Eleganz und ihre Musikalität die sensible Lebens-Dramatik ohne jeglichen Kitsch in eine sehr anrührende und vielschichtige Liebesgeschichte verzaubern. Matteo lernt seine Schmerzen zu ertragen und dem Leben eine neue Ordnung zu geben, die in dieser so besonderen sprachlichen Atmosphäre zwischen achtsamer Melancholie und romantischer Heiterkeit eine unerwartete Sorgwirkung auslöst, der sich der Leser nicht entziehen kann.
„Die Zartheit der Stühle“ ist ein grandioses Buch. Ein sanfter und starker Roman zugleich, der in diesem Literatur-Frühling zu den wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen zählt. Ein wahres literarisches Bijou, dem wir ein grosses Lesepublikum und einen hoch verdienten Buchpreis wünschen.