Durchgelesen – „Träume von Räumen“ v. Georges Perec

Was bedeutet für Sie, verehrter Leser, ein Raum? Ist dieser mehr als nur ein Vakuum zwischen einer Wand und einem Boden? Ist es ein Zimmer, oder sogar eine Wohnung, oder vielleicht gleich ein ganzes Haus, oder sogar eine Strasse, ein Platz, eine Stadt…? Es gibt viel, aber auch wenig Raum, und es gibt Räume, von denen wir gar nicht denken, dass es Räume sind. Und genau dieses allumfassende « Raumthema » erläutert uns auf aussergewöhnliche Weise Georges Perec in diesem kleinen feinen Oeuvre mit dem Titel « Träume von Räumen », welches lange Zeit vergriffen war und nun endlich in der grandiosen Übersetzung von Eugen Helmlé neu aufgelegt wurde.

Georges Perec, geboren am 7. März 1936, gehört zu den wichtigsten Vertretern der französischen Nachkriegsliteratur. Seine Eltern, beide jüdisch-polnischer Abstammung, konnten sich nur sehr wenig um ihn kümmern. Georges verbrachte die meiste Zeit bei der Familie seines Vaters. Dieser wurde während des Krieges im Juni 1940 tödlich verwundet und die Mutter kam 1943 nach Ausschwitz und kehrte aus dem Konzentrationslager nicht mehr zurück. Georges wurde von seiner Tante väterlicherseits adoptiert. Nach seiner Schulausbildung 1946 – 1954 in Paris machte Georges, aufgrund der traumatischen familiären Erlebnisse während des 2. Weltkrieges, ab 1949 eine Psychotherapie bei Françoise Dolto. 1956 nach einem kurzen Versuch eines Geschichtsstudium, der ca. zwei Jahre dauerte, begann er bei Michel de M’Uzun eine Psychoanalyse. Von 1958- 1959 absolvierte er seinen Militärdienst in Pau. 1962 wird er Dokumentalist in Neurophysiologie am Centre national de la recherche scientifique. In den folgenden Jahren begann Georges Perec zu schreiben und machte sich bereits durch seinen ersten Roman « Les Choses : Une histoire des années soixante » in der Literaturszene gleich einen Namen, da dieser Roman 1965 mit dem renommierten Literaturpreis Prix Renaudot ausgezeichnet wurde. 1967 trat Georges Perec der Gruppe l’Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle) bei. Diese internationale Literaturgruppe bestand aus Literaten und Mathematikern. Sie wurde durch den Mathematiker François le Lionnais und von dem Schriftsteller und Dichter Raymond Queneau 1960 gegründet. « La Disparition » war Georges Perecs erster « oulipischer » Roman, der sich durch das Fehlen des Vokals « e » innerhalb des gesamten Textes auszeichnet. Es folgten weitere kleine Werke und unter anderem « Espèces d’espaces » 1974, das wir nun – wie bereits oben erwähnt – neu übersetzt unter dem deutschen Titel « Träume von Räumen » aktuell entdecken dürfen. Bis zu seinem Tode, am 3. März 1982, entstanden noch viele wichtige Texte und Romane wie zum Beispiel « W ou le Souvenir d’enfance » oder « La Vie mode d’emploie ».

« Träume von Räumen » ist kein klassischer Roman, es ist eine raffinierte und äusserst spannende Ansammlung und Aneinanderreihung von Aufzählungen, Texten, Papierschnipseln, Kurzessays und Sprachexperimenten. Man spürt den « oulipischen » Einfluss und lässt sich mitreissen in eine Welt voller Räume, die Georges Perec für sich ganz persönlich entdeckt hat. Bereits im Vorwort erläutert er dem Leser seine Herangehensweise in Punkto Raum:

« Kurzum, die Räume haben sich vermehrt, geteilt und aufgelockert. Es gibt heute Räume in allen Grössen und von allen Sorten, für jeden Gebrauch und für alle Funktionen. Leben heisst, von einem Raum zum anderen gehen und dabei so weit wie möglich zu versuchen, sich nicht zu stossen. »

Für Georges Perec ist der erste Raum, ja vielleicht der „Grundraum“ ein ganz besonderer, nämlich das unbeschriebene Blatt bzw. eine Seite. Es hat eine bestimmte Grösse, man könnte auch ausrechnen wie viel Holz für dieses Blatt benötigt wurde etc. Auch wenn das Blatt erst mal nur weiss und leer ist, beginnt es zu leben, sobald es mit Wörtern gefüllt wird:

« Ich schreibe : ich bewohne mein Blatt Papier, ich statte es aus, ich durchlaufe es. »

Aber auch ein Bett ist nach Georges Perec ein Raum, egal in welcher Form und auf welcher Seite man es auch benutzt, es hat eine wahrlich sinnstiftende und tragende „Rolle“:

« Das Bett ist also der Individualraum par excellence, der elementare Raum des Körpers (das Monaden-Bett), der Raum, den selbst der bis über den Hals in Schulden steckende Mensch behalten darf: die Gerichtsvollzieher haben nicht die Macht, Ihr Bett zu pfänden; … »

Ein Bett kann in jedem Zimmer stehen, aber vor allem in einem Schlafzimmer; doch finden sich auch dort noch andere Dinge und Möbel, die ein Zimmer vielleicht erst zu einem Raum machen. Und mehrere Zimmer lassen sich dann zu einer Wohnung entwickeln. Aber auch da sollte man wirklich sehr darauf achten, dass man zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, denn:

« 1. Jede Wohnung besteht aus einer veränderlichen, aber begrenzten Anzahl von Räumen;
   2. Jeder Raum hat eine besondere Funktion. »

Für Georges Perec ist die Funktionalität eines Raumes doch eindeutig das Wichtigste, auch wenn er sich damit nicht wirklich ernsthaft beschäftigen möchte, wird dies für ihn ein äusserst intensives Thema. Er konzipiert ein sehr fiktives Modell, das einen sehr wichtigen Aspekt verdeutlicht :

« …bei diesem Modell wird man also feststellen, dass zum einen Wohnzimmer und Schlafzimmer kaum eine grössere Rolle spielen als der Besenschrank (in den Besenschrank kommt der Staubsauger; ins Schlafzimmer kommen die erschöpften Körper: beides verweist auf die gleichen Erholungs- und Pflegefunktionen), … »

Es gibt viele weitere Überlegungen von Georges Perec, die Zimmer einer Wohnung nicht nur zu analysieren, sondern sie regelrecht zu sezieren. Wir kommen vom «überflüssigen Raum » zu den Themen « Einziehen » und « Ausziehen », aber nicht nur « Türen » und « Treppen », auch « Wände » haben hier ihre elementare Bedeutung :

« Bilder löschen die Wände aus. Aber die Wände töten die Bilder. »

Dass Wohnungen nicht alleine bleiben, sondern zu einem « Mietshaus » sich formieren können, sollte auch uns Leser inzwischen nicht mehr neu sein. Doch noch viel essentieller ist die Aneinanderreihung verschiedener Wohnhäuser in einer « Strasse », wobei es einen Punkt diesbezüglich ganz besonders zu beachten gibt :

« Im Gegensatz zu Wohnhäusern, die fast immer jemandem gehören, gehören die Strassen im Prinzip niemandem. »

Ach ja und die Strasse befindet sich in einem « Viertel » und das Viertel wiederum in einer « Stadt ». Für Georges Perec ist dies Paris, eine Stadt, die er liebt, auch wenn er nicht genau definieren kann, was er an ihr so mag und verehrt. Es gibt aber auch noch fremde Städte, die es zu erobern gilt, aber auch « das flache Land » ist in seinem Sinne ein wahrer « Vergnügungsraum », ein regelrechter Anziehungspunkt – dank der Zweitwohnung „à la campagne“ -, hauptsächlich für Städter. Und letztendlich erreichen wir das eigentliche « Land », in diesem Fall Frankreich, Georg Perecs « Vaterland », was wiederum ein Teil des wahrlich finalen und allumfassenden Raumes, der « Welt », ist.

Spätestens am Ende der Lektüre kann man klar und deutlich erkennen, welcher Raum ein Raum sein kann, was einen Raum zum Raum macht und welchen Stellenwert der Raum selbst entwickelt. Georges Perec beobachtet messerscharf, vermischt dies mit analytischem Charme, subtilen Witz und differenzierter Abstraktion, so dass wir mehr als literarisch « unterhaltsam » in eine Art philosophisch-soziologisches « Fachbuch » eintauchen, um anschliessend sowohl leicht verunsichert, als auch äusserst neugierig vielleicht so gar in einem Raum wieder auftauchen zu können. Dieses Buch eignet sich deshalb hervorragend für einen ersten Einstieg in die surrealistische Literatur des Georges Perec.

« Träume von Räumen » ist ein geniales Buch, denn es rüttelt auf, und es lädt nicht nur zum Nachdenken ein, sondern fordert den Leser quasi richtig heraus, seine Gehirnzellen so zu programmieren, dass wir die Räume auch finden, von denen Georges Perec vielleicht nicht nur „träumt“. Allein durch die explosive Sprachkomposition und das spielerische Talent Georges Perecs wird der Leser in eine Welt entführt, die viele Fragen offen lässt, um Platz zu haben für neue und eigene Räume und für die dazugehörigen Unsicherheiten, denn eines ist laut Georges Perec klar:

« Der Raum ist ein Zweifel : ich muss ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen ; er gehört niemals mir, er wird mir nie gegeben, ich muss ihn erobern. »

Durchgelesen – „Wir werden zusammen alt“ v. Camille de Peretti

Lassen Sie uns ganz unvoreingenommen hinter die Türen eines Altersheimes blicken, und Sie werden feststellen, dass das Alter weder einfach, noch kompliziert ist und weder langweilig, noch kurzweilig sein muss. Eines ist jedoch wahr, dass alt werden und alt sein mit Glück und Geheimnis verbunden sind. Umso faszinierender ist es für uns Leser – dank Camille de Pretti, die für uns in ihrem Roman „Wir werden zusammen alt“ 64 Türen einer französischen Seniorenresidenz öffnet – diesen Lebensabschnitt auf äusserst sensible, aber durchwegs sehr humoristische und direkte Art zu entdecken.

Camille de Peretti ist 1981 in Paris geboren, studierte Philosophie, arbeitete im Finanzbereich einer Bank und war Fernsehköchin für französische Küche in Japan. Inzwischen lebt sie als freie Schriftstellerin in Paris. Ihr erster Roman „Thornytorinx“ erschien 2005, danach folgte 2006 „Nous sommes cruels“ und 2008 „Nous vieillirons ensemble“, der durch die geniale Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel nun mit dem Titel „Wir werden zusammen alt“ erstmals auf deutsch erscheint.

Der Roman spielt in einem Pariser Altersheim namens „Les Bégonias“ und  ist nach einer besonderen literarischen Technik konzipiert, die auch am Ende des Buches sehr genau und detailliert beschrieben wird. Der Struktur des Textes liegt ein literarisches Virtuosenstück von Georges Perec zu Grunde, nämlich dem Werk „Das Leben . Gebrauchsanweisung“, welches für einen Tag ein Mietshaus öffnet, als wäre es nur der  Querschnitt des Gebäudes ganz ohne Mauern und wo der Leser alles über die Wohnungs-einrichtungen und die Bewohner verfolgen kann. Die Grundbasis dazu war ein Schachbrett, mit 10 mal 10 Feldern und jedes Feld entspricht einem Zimmer oder Teil des Gebäudes. Camille de Peretti hat dieses System übernommen und das Erdgeschoss dieses Altersheims zu einem Schachbrett mit 8 mal 8 Feldern eingeteilt. Somit entstehen insgesamt 64 Kapitel  bzw. Räume, welche nicht klassisch angeordnet, sondern nach dem sogenannten Rösselsprung (wie im Schachspiel zwei vor, einer seitlich oder umgekehrt) eingeteilt werden. Infolgedessen bewegt sich der Leser quasi für einen Tag von morgens 9.00 Uhr fast jede viertel Stunde bis 00.45 Uhr  von einem Raum zum Nächsten.

Während dieses literarisch und stilistisch virtuosen Rundgangs lernen wir die Bewohner, Besucher und Mitarbeiter dieser Seniorenresidenz kennen. Da gibt es zum Beispiel die drei alten Damen Madame Alma, Madame Buissonette und Madame Barbier. Irgendwie können sie sich nicht leiden, aber sie können auch nicht ohne die jeweils andere. Wir lernen Geneviève Destroismaisons kennen, die man als Baronin bezeichnet, obwohl sie gar keine ist. Sie ist die jüngste Bewohnerin und lebt hier, obwohl das Altersheim keine geeignete Einrichtung für Alzheimer-Kranke ist. Aber dafür wohnt ihr Mann gleich in der Nähe und kümmert sich rührend um seine geliebte Frau. Thérèse, eine eher zurückhaltende und feine alte Dame findet hier in „Les Bégonias“ die Liebe ihres Lebens. An Bord dieser Residenz ist auch noch der selbsternannte Kapitän Dreyfus, der Madame Alma und den zwei anderen Damen immer irgendwelche Anweisungen gibt, damit sie sich auch hier auf dem „Alten-Schiff“ richtig benehmen.

Auch das Personal ist bei dieser spannenden Truppe ganz schön gefordert. Philippe Drouin, der Direktor dieses Altenheims, ist Junggeselle und sammelt Briefmarken, seitdem er sich über das Verschwinden seiner ehemaligen Freundin hinwegtrösten muss. Er ist ständig in Alarmbereitschaft und kümmert sich vorwiegend um die grossen Probleme, wie zum Beispiel um die defekte Kühlung, die so einiges Chaos verursacht, nachdem die Leiche einer Bewohnerin zu wenig gekühlt wurde und nun überall Ameisen herumlaufen.

Die Besucher kommen und gehen, manchmal nur für zehn Minuten, andere erst nach vier Wochen. Alle haben immer irgendwie ein schlechtes Gewissen, dass sie sich zu wenig um die Alten kümmern. Wie zum Beispiel Camille, die ihre Tante immer in „Les Bégonias“ besucht, und feststellt, dass sie all dies, was ihre Tante für sie getan hat, niemals wiedergutmachen könnte. Hier spürt der Leser eindeutig die auto-biographischen Züge des Romans und die echten Erfahrungen, die Camille de Pretti selbst gemacht hat, als sie ihre Großtante in einem Altersheim regelmässig besuchte.

Wir werden zusammen alt“ ist ein sprachliches und literarisches Kunststück, ja fast schon ein Kunstwerk, welches mit Witz, Humor, Ironie und ungeschönter Klarheit ein sehr brisantes und nicht unbedingt einfaches Thema beschreibt. Wer möchte schon gerne alt werden, wer freut sich auf das Alt sein und wer sehnt seinen Lebensabend in einem Altersheim herbei? In diesem Roman werden viele Schicksale beschrieben, doch auch wenn sie vielleicht im ersten Moment eher traurig und deprimierend erscheinen, löst Camille de Peretti mit ihrer unglaublichen Virtuosität und ihrem Charme beim Leser nicht nur Schmunzeln, sondern lautes Lachen aus. Man sollte dieses Buch langsam lesen, sich mit grosser Aufmerksamkeit auf diesen besonderen Rundgang durch ein mit herrlich französischen Flair ausgestattetes Altersheim begeben und jede Zeile dieses hervorragenden Schreibstils aufsaugen. Vielleicht können wir uns mit Hilfe dieses wunderbaren Romans einer dreissig Jahre jungen Schriftstellerin auf das unverhinderbare alt werden vorbereiten, es versuchen anzunehmen, um letztendlich das alt sein mit Lust und Freude zu geniessen, bevor es zu spät ist!