Durchgeblättert – „Chanson“ v. Olaf Salié

Mitte der 80ziger Jahre entdeckten wir durch verschiedene Umwege Serge Reggiani, der in Deutschland kaum bekannt war. Seine sensible warme Stimme traf ins Herz. Die Interpretation von Ma Liberté“ (Text und Komposition von Georges Moustaki) öffnete unbekannte Türen im Universum des französischen Chansons.

Es gabe Tage, da erklang bereits beim Frühstück per Zufall im deutschen Radio „Sous le ciel de Paris“ mit Edith Piaf und das trockene Hörnchen schmeckte wie ein frisches Croissant. Bei Liebeskummer half am Besten „Ne me quitte pas“ von Jacques Brel. Ja, und um die Wartezeit auf Urlaub zu verkürzen, versetzte uns Charles Trenet mit „La mer“ bereits an den Strand.

Diese nostalgischen Momente kamen und gingen, verlierten sich in den letzten Jahren, da das Pariser Leben und die französischen Chansons inzwischen zum Alltag gehören. Und plötzlich werden all diese Erinnerungen wieder wach dank Olaf Salié und seinem äusserst elegant wissenswerten Text- und Bildband „Chanson“.

Olaf Salié kennt Frankreich, Paris, liebt die französische Kultur und das französische Chanson. Er war lange Zeit Chefredakteur eines Kölner Wissenschaftsverlages und lebt inzwischen in Berlin.

Leidenschaft, Melancholie und Lebensfreude aus Frankreich, das ist der Untertitel dieses sehr informativen und schön gestalteten Werkes. Dass das Chanson in Frankreich zu einem Kulturgut, gehört steht wohl ausser Frage. Dass es auch eine Art Schutz von Seiten des Staates geniesst, ist vielleicht ausserhalb von Frankreich unbekannt. Durch ein Gesetz wird dafür gesorgt, dass 40 Prozent der im französischen Radio gesendeten Lieder auch wirklich original französischer Herkunft sein müssen. All dies und vieles mehr erfährt der Leser in der Einleitung dieses Buches. Die geschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge, die auch das Chanson massgeblich beeinflusst haben, werden durch das sehr gut ausgewählte historische Bildmaterial anschaulich erläutert. Auch die Bedeutung der französischen Literatur wird nicht vernachlässigt. Ganz im Gegenteil, denn Einige der berühmten Dichter und Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Jacques Prévert, Louis Aragon oder Jean-Paul Sartre waren die Urheber sehr bekannter Chansontexte.

Wir blättern beispielsweise durch die Biographien von Maurice Chevalier, Yves Montand, Charles Aznavour, Georges Moustaki, Gilbert Bécaud. Tauchen ein in das Leben von Juliette Gréco, Barbara, Georges Brassens, Jacques Brel. Lernen auch Léo Ferré genauer kennen, der zu den poetischten Chansonniers gehört. Und machen dann einen Sprung von den sechziger Jahren u.a. mit Jonny Hallyday, Serge Gainsbourg zu den Frauen der siebziger Jahre wie Jane Birkin, France Gall. Am Ende dieses aussergewöhnlichen musikalischen Parcours gibt es noch Einblicke in den Übergang vom klassischen Chanson zum sogenannten „Nouvelle Chanson“, wo natürlich Carla Bruni, Patrick Bruel und ZAZ nicht fehlen dürfen.

Die Porträts dieser Chansonniers/Chansonnières sowohl in Text als auch im Bild machen nicht nur neugierig, mehr darüber zu erfahren. Sie machen vor allem Lust, endlich wieder die alten CDs auszupacken und sich mit diesen lyrischen Hymnen dem Leben und der Liebe zu widmen. Dieses wundervolle Buch von Olaf Salié ist eine grossartige Hommage an das französische Chanson. Ein Buch, das in jeder Lebenssituation Wissen, Genuss und Trost spendet durch eine der poetischsten Formen der Musik, die selbst die Einsamkeit mit „Ma solitude“ von Georges Moustaki in ein Glücksgefühl verwandelt!

Durchgeblättert – „Jeux de Mains“ v. Cécile Poimboeuf-Koizumi & Stephen Ellcock

„Nichts gibt mehr Ausdruck und Leben, als die Bewegung der Hände; im Affekte besonders ist das sprechendste Gesicht ohne sie unbedeutend.“ Gotthold Ephraim Lessing hatte mit diesem Satz bereits die Bedeutung von Händen ganz klar erkannt. Die Bewegung der Hände kann, darf und muss vieles bedeuten. Menschen schreiben mit den Händen, sie malen, sie spielen ein Instrument und sie sprechen mit ihnen. Die Hände können aber auch Angst verbreiten, sie können bestrafen und schlagen. Hände können auch ganz unbewegt bleiben, sie können aber auch streicheln, trösten und Liebe schenken. Hände können fast alles oder nichts. 

In der Kunst ist die Hand das absolute Sinnbild der Kreativität. Und um dieses so unterschiedlich interpretierte Kunstsinnbild einzuordnen, zu bewundern, zu verstehen, zu lieben und zu erleben, haben Cécile Poimboef-Koizumi und Stephen Ellcock ein Werk geschaffen, das dem Namen Kunstbuch mehr als alle Ehre erweist. Cécile Poimboef-Koizumi stammt aus einer französisch-japanischen Familie, sie arbeitet als Verlegerin, hat den Verlag Edition Chose Commune mitgegründet und leitet diesen als künstlerische Direktorin. Stephen Ellcock ist ein in London lebender Schrifsteller, Publizist und Sammler von Bildern. Er hat ein virtuelles Museum auf Facebook und Instagram kreiert. Die Kombination von diesen beiden Ausnahmetalenten hat nun ein wundervolles und sehr beeindruckendes Werk hervorgebracht: „Jeux de mains“, das man mit Handspiele oder Händespiel – je nachdem – übersetzen könnte. 

Dieses Kunstbuch ist gleichzeitig auch ein Werk der Buchkunst. Die japanische Bindetechnik hat einen gewissen Einfluss genommen und nicht alle Seiten dieses Werks sind offen geschnitten. Somit kann der Leser, Betrachter und Kunstgeniesser nach jedem Kunstwerk die Seiten ganz vorsichtig durchschneiden, damit er die dazugehörigen Informationen nachlesen kann.

Die beiden Schöpfer dieses Buch-Objekts haben sich bei der Auswahl der darin vorgestellten Hand-Kunstwerke sehr viele Gedanken gemacht. Mehr als 100 Kunstwerke aus den verschiedensten Bereichen wie beispielsweise Malerei, Fotographie und Skulptur. Unbekannte und sehr berühmte Künstler werden hier in diesem Buch vereint. Ein so aussergewöhnlicher Ansatz, der dem anonymen Unbekannten einen so unfassbar grossen Wert verleiht dank der Nähe zu dem berühmt Bekannten. Auch die Epochen werden so wundervoll durcheinander gewürfelt und die Form der Darstellung zeigt all seine Facetten. 

Der Leser bzw. Betrachter betritt mit diesem besondern Buch ein Museum der besonderen Art, ein wahres „Hand-Museum“. Wir sind erstaunt über die Hand-Vielfalt von Schiele, Rodin, Holbein, v. Menzel, Degas und Ingres. Fasziniert von unbekannten plastischen Werken aus Mexiko oder anonymer Fotokunst, entdecken wir natürlich nebenbei auch Picasso, Alberto Giacometti, Louise Bourgeois, Paul Steinberg, Man Ray, Gerhard Richter, Oscar Munoz und Sophie Calle unter vielen Anderen. 

Beim Betrachten dieser Bilder und Kunstwerke spürt man selbst durch das Blättern und Aufschneiden bzw. Öffnen der Seiten, wie wichtig doch Hände auch beim Lesen sind. Welch ein unbeschreiblich schönes Gefühl es doch ist, mit seinen Händen ein Buch aufzuschlagen, darin zu blättern, die Seiten zu berühren und zu erspüren. Hände sind in diesem Fall eine Art zweites oder manchmal sogar das einzige Auge, um das Wichtige im Leben zu sehen bzw. zu erfühlen. Und gleichzeitig geben diese Hände sehr viel mehr, als man im ersten Moment vielleicht glauben mag, an Ausdruck, Information und Gefühl weiter. 

In den aktuellen komplexen Zeiten, in welchen Hände zur Begrüssung und zur Berührung wegen vorgeschriebener Distanz einen noch höheren Stellenwert bekommen, kann dieses so traumhaft schöne Kunstbuch diesen Mangel ein wenig ausgleichen. Doch vergessen wir nicht, wie wichtig Hände sind, welche Bedeutung sie haben, vor allem dann, wenn wir sie nicht in wichtigen Momenten so benützen können und dürfen, wie wir es gewohnt sind und wie wir es uns so sehnlichst wünschen.

Heinrich Heine meinte „Eine schöne Hand ziert den Menschen“. Ob die Hand des individuellen Lesers schön ist, bleibt jedem in seiner ganz privaten Betrachtungsweise selbst überlassen. Halten Sie, verehrter Leser, einfach dieses so besondere Kunstbuch in Ihren schönen Händen – denn nur dies zählt!

Durchgelesen – „Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain“ v. Alex Lépic

Commissaire Lacroix ist wieder im Einsatz! 

Alex Lépic, der Erfinder von „Commissaire Lacroix –  den wir bereits durch seinen ersten Fall mehr als schätzen gelernt haben –  entführt den Leser in seinem gerade frisch erschienen zweiten Fall in die besondere Welt der Pariser Bäckereien!

Hätten Sie gewusst, dass es in Paris 1200 unabhängige Bäckereien gibt und dass jedes Jahr ein Wettbewerb um den „Grand prix de la baguette de tradition française de la ville de Paris“, den grossen Preis hinsichtlich des besten Baguettes von Paris, veranstaltet wird? 

Ja, Paris hat so einige Überraschungen zu bieten und da bleiben auch die Pariser Bäcker nicht verschont. Dieser Preis für das beste Baguette bringt dem Bäcker nämlich auch noch eine besondere Ehre ein – dieser auserwählte Bäcker darf nun für ein Jahr bis zur nächsten Wahl des besten Baguettes den Élysées Palast und somit den Französischen Präsidenten beliefern.

Und über diesen wichtigsten Preis der Stadt Paris konnte sich nun die Bäckerei – Boulangerie Lefèvre in der Rue de Seine, im 6. Arrondissement von Paris – freuen. Doch diese grosse Freude über den – vor allem zum zweiten Mal in Folge hintereinander gewonnenen  – 1. Paris für das beste Pariser Baguette, was es bis jetzt noch nie gegeben hat, wird dramatisch getrübt. Monsieur Maurice Lefèvre ist tot! Nach der Verleihung dieser Auszeichnung früh morgens entdeckt ihn ein Gas-Techniker erschlagen in seiner Backstube.

Commissaire Lacroix ist selbst erschüttert, denn für ihn war Maurice Lefèvre ein rechtschaffener und vor allem sehr fleissiger Bäcker, dessen Baguette äusserst beliebt war und selbst Monsieur le Commissaire einen kleinen Umweg dafür nicht scheute. Unterstützt von seinem engagierten Team mit „Capitaine“ Rio, dem „Commandant“ Pagnelli und natürlich auch mit Gerichtsmediziner Docteur Obert, kann die Tatwaffe – ein Brotschieber aus Holz – schnell gefunden werden. Doch was steckt hinter dieser schrecklichen Tat, was sind die Motive und wer ist der Täter?

Der Fall entwickelt sich als delikat, denn die Bäckerinnung und insbesondere deren Chef und dessen „Handelssekretärin“, beide in gewisse Machenschaften verstrickt, haben einen wichtigen organisatorischen Einfluss auf die Zusammensetzung der Jury des Pariser Baguette-Wettbewerbs. Sie hatten Maurice Lefèvre als Letzte gesehen und waren somit wichtige Zeugen. Und bereits bei der ersten Befragung bemerkte Lacroix eine aufsteigende Nervosität und subtile erste Andeutungen auf eine potentielle Wahlmanipulation innerhalb der Jury. 

Die Situation war angespannt, erste Verdächtigungen wurden ausgesprochen auch in Bezug auf Konkurrenz mit anderen Bäckern. Doch Commissaire Lacroix – wie sein berühmter „Kollege“ Maigret –  liess sich glücklicherweise nicht von den ersten Erkenntnissen zu stark beeindrucken und keineswegs beeinflussen, was auch gut war, denn der Fall hatte es in sich und musste auch in besonderer Rücksichtnahme auf den „Élysées Palast“ als „Kunde“ dieser Bäckerei schnellst möglich aufgeklärt werden…

Alex Lépic ist ein echter Paris-Kenner und Flaneur! Mit dem charmanten, etwas altmodisch angehaltenen Commissaire Lacroix, der übrigens nach wie vor kein Mobiltelefon besitzt und deshalb am Besten über die Festnetznummer seines Stammlokals erreichbar ist, kann man nicht nur einen spannenden Kriminalroman lesen, sondern auch durch Paris „reisen“. Und diese „Reise“ lässt sich nun durch die so schön gestaltete Karte auf der Innenseite des Buchcovers ausgezeichnet vor-  und nachbereiten.

Der zweite Fall spielt schwerpunktmässig im 6. Arrondissement – konkret im Quartier Saint-Germain-des-Près mit seinen Literatencafés und vielen guten Bäckereien und Restaurants. Commissaire Lacroix nimmt nie die Metro, geht vorzugsweise zu Fuss – vor allem zwischen seiner Wohnung im 7. Arrondissement und seinem Arbeitsplatz dem Kommissariat im 5. Arrondissement. Hin und wieder nimmt er den Bus und lässt sich in seinen Polizei-Einsätzen von Capitaine Rio chauffieren, die sich – zu seinem Leidwesen – dem Pariser Fahrstil mehr als angepasst hat. 

In diesem zweiten Kriminalroman kommt der Leser den Haupt-, aber auch den Nebenfiguren immer näher, man wird vertrauter, erkennt die Eigenarten, freut sich über neue Feinheiten und fühlt sich beim Lesen in Paris, bei Commissaire Lacroix, seiner Familie, seinen Kollegen und Freunden im wahrsten Sinne des Wortes „ zu Hause“. 

Doch trotz oder gerade wegen dieser „Wohlfühlatmosphäre“  bleibt  „Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain“ ein ganz ausgeklügelt fesselnder Kriminalroman, bei dem der Leser so en passant mit der Pariser Bäckereikunst verführt und gleichzeitig in ein perfides Verbrechen verwickelt wird.

Eric Lépic und sein „Maigret“ alias Commissaire Lacroix entwickelt sich quasi von „Fall zu Fall“ zu der besonderen neue Kriminalreihe, die intelligent, unterhaltsam, informativ und so mitreissend erzählt wird, dass die Lust auf mehr, hoffentlich bald mit dem dritten Fall gestillt werden kann…

Durchgelesen – „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“ v. Alex Lépic

Durch den berühmten Kommissar Maigret sind wir doch alle ein wenig verwöhnt. Wie sehr hat er uns in den Bann gezogen, nicht nur seine Fälle aufgeklärt, sondern uns auch Frankreich und Paris nähergebracht. Doch endlich gibt es einen würdigen Nachfolger für Kommissar Maigret, den wir Alex Lépic zu verdanken haben.

Alex Lépic ist gebürtiger Franzose, in Deutschland aufgewachsen, und ein echter Paris-Kenner, das man unschwer in seinem ersten in Deutsch geschriebenen Roman „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“ erkennen kann.

Commissaire Lacroix – immer mit Hut, Mantel und Pfeife ausgerüstet – muss sich gleich nach seinem Sommerurlaub mit einem schwierigen Fall beschäftigen. Eigentlich arbeitet er im Kommissariat des 5./6. Arrondissement, das sich ganz nah am Boulevard Saint Germain in der Rue de La Montagne-Sainte-Geniève im 5. Arrondissment von Paris befindet. Es ist ein sehr hässliches Gebäude und verfügt auch noch über das Musée de la préfecture de Police, was so manche komische Begegnung mit Schulklassen etc. mit sich bringt. Doch dieses Mal brauchen die Kollegen aus dem 1. Arrondissement dringend Unterstützung, denn ein Toter Clochard liegt unter der berühmten und ältesten Brücke von Paris, dem Pont Neuf. Er wurde auf perfide und perfektionnistische Art und Weise mit dem Messer getötet.

Zwei Mitarbeiter, eine junge Polizistin – stammt aus dem Überseedépartement Mayotte – und ein Polizist – Korse – unterstützen Lacroix bei seinen Aufgaben und Recherchen. Der Fall ist sehr verzwickt und lässt den schönen Urlaub mit seiner Frau Dominique gleich wieder in Vergessenheit geraten. Aber auch seine Frau, Bürgermeisterin des 7. Arrondissements, ist auch wie immer schnell in ihren Arbeitsalltag zurückgekehrt.

Glücklicherweise kann er noch auf die Unterstützung seines Priester-Bruders Pierre-Richard zurückgreifen, der in Paris gerade in der Obdachlosen-Szene so einige wichtige Kontakte hat. Und dann gab es noch Yvonne, die Wirtin seines Stammlokals „Chai de l’Abbaye“, die sich nicht nur um das kulinarische Wohl während der Arbeitszeiten von Commissaire Lacroix kümmerte, sondern auch Gott und Welt in ganz Paris kannte.

Die ersten Spuren bei dem toten Clochard unter dem Pont Neuf führen zu einer potentiellen Bettler-Mafia, die angeblich Gelder von sämtlichen Obdachlosen in dieser Gegend eintrieben. Der Verdacht fällt auf zwei Brüder und bevor diesem Verdacht genau nachgegangen werden konnte, gibt es schon den zweiten Toten, wieder ein Obdachloser. Die Lage spitzt sich zu, es sieht nach einem Serienmord aus und nun ist auch Commissaire Lacroix trotz seiner grossen Erfahrungen unter Druck…

Alex Lépic ist ein Wunder gelungen, denn Commaissaire Lacroix ist mehr als nur ein würdiger „Nachfolger“ von Maigret. Lacroix ist so perfekt in die aktuelle Zeit gesetzt, dass man es nicht besser machen könnte. Der Krimi ist sehr gut aufgebaut, subtil, fein und äusserst spannend erzählt. Alle Personen in diesem Roman haben ihre Eigenarten, es ist von furchteinflössend, skurill, amüsant und verrückt alles vorhanden.

Alex Lépic schreibt wunderbar, endlich mal wieder ein Krimi, der sich so richtig gut liest und der einem das Paris des 21. Jahrhunderts mit all seinen schönen, aber eben auch mit seinen Problemen und Schattenseiten zeigt. Man taucht ein in die sogenannten Pariser Welten und möchte wegen des so sympathischen Personals und wegen der Spannung und Dramatik gar nicht mir auftauchen. Deshalb hoffen wir sehr, dass nach diesem grandiosen ersten Fall, der Zweite bald folgen wird…!

Durchgelesen – „Unsere Frau in Pjöngjang“ v. Jean Echenoz

Was wäre die Literatur ohne Humor, Witz und Ironie? Natürlich sollte dies alles raffiniert und kreativ literarisch umgesetzt werden. Somit überrascht es nicht, dass dies Jean Echenoz mit seinem aktuell in Deutschland erschienen Roman „Unsere Frau in Pjöngjang“ sehr gut gelungen ist.

Jean Echenoz, geboren 1947, gehört zu den wichtigsten französischen Schriftstellern. Er hat in verschiedenen französischen Städten, unter anderen Lyon, Marseille und Paris, Soziologie studiert und kurz für eine Fachzeitschrift gearbeitet. Seit 1975 lebt er in Paris und 1979 publizierte er seinen ersten Roman „Le Méridien de Greenwich“ bei dem Verlag Éditions de Minuit, dem er bis heute treu geblieben ist und der inzwischen alle seine Bücher veröffentlicht hat. Jean Echenoz wurde mit einer Fülle von Literaturpreisen geehrt. Zu den wichtigsten gehören der „Prix Medicis“ für den Roman „Cherokee“ (1983) und der „Prix Goncourt“ für das Werk „ Je m’en vais“ (1999). In Deutschland wurde er zuletzt sehr bekannt durch sein kleines feines Buch „14“. Sein aktueller Roman –  bei seinem französischen Verleger – unter dem Titel „Envoyée spéciale“ publiziert – ist nun dank der meisterhaften Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel (2004 Celan-Preis, 2015 Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis) in deutscher Sprache erschienen.

„Ich will eine Frau, verkündete der General. Eine Frau brauche ich, so.“ Und ja, genau so beginnt der neue Roman von Jean Echenoz. Der Roman spielt in Paris, in La Creuse – einer eher ländlichen Gegend zwischen Limoges und Clermond-Ferrand – und in Nordkorea, genauer in Pjöngjang. Es gibt einen Erzähler, der dem Leser, diese ungewöhnliche Geschichte näher bringt, aufklärt und als eine Art Mediator fungiert, was sich als sehr praktisch erweist, da er den Leser auf die Feinheiten hinweist, jedoch das Unwichtige galant ignoriert und mit eigenen Kommentaren nicht spart.

Kurzum wir haben mehrere Hauptprotagonisten und dazu gehören in erster Linie Constance, eine junge Frau, die gerade in Trennung von ihrem Mann Lou Tausk lebt, Komponist von vielen sehr berühmten Songs, General Bourgeaud und dessen Leutnant Paul Objat. Es gibt noch einige andere Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Jean-Pierre und Christian, Clément Pognel, Nadine Alcover und Gang Un-ok.

Die Geschichte beginnt mit der Suche nach einer Frau, wie bereits der erste Satz schon verrät, die in ein ganz bestimmtes Schema passen muss: „ Na ja, eine Ahnungslose, nicht wahr, so brachte der General es auf den Punkt. Die nichts begreift, die tut, was man ihr sagt, und keine Fragen stellt. Und möglichst eine Hübsche.“ Und Leutnant Objat, nimmt sich dieser Herausforderung an, hat schon eine grandiose Idee und entführt auf doch eher ungewöhnliche Weise Constance, die gerade dabei ist auf dem Friedhof von Passy einen kleinen Spaziergang zu unternehmen.

Die Entführung klappt, die junge Frau wird in ein ländliches Gebiet im Departement La Creuse gebracht und man versucht, sie so gut wie möglich zu behandeln. Letztendlich ist sie ja die sogenannte Auserwählte für eine geheimdienstliche Aktion in Nordkorea, und das bedarf natürlich unglaublich genauer Vorbereitungen im Hinblick auf diese nicht einfache Mission. Doch nicht alles scheint so zu funktionieren, wie der Leutnant sich das vorstellt und die ersten Hindernisse, Komplikationen, natürlich auch Verzögerungen treten auf…

Dieser Roman ist ein Feuerwerk an Ironie, Spass und Esprit. Dieses Werk hat auch viel von einer Parodie, die subtil viele Fragen zulässt, die jedoch nicht alle während der Lektüre beantwortet werden und damit dem Roman nochmal einen ganz besonderen Kick verleiht. Jean Echenoz zaubert mit der Sprache, verleiht ihr den diskreten ironisch rebellischen Charme, gibt ihr einen musikalisch-rhythmischen Takt vor, der den Leser zu einer Dynamik anstachelt, die sich einfach richtig gut anfühlt.

„Unsere Frau in Pjöngjang“ ist ein sehr komisches und spannendes Buch zu gleich. Eine Art Spionage-Roman, quasi eine „Mission Impossible“ der besonderen Art. Jean Echenoz gibt seinen – trotz des brisanten Auftrags – eher etwas trägen Figuren viel Raum, die sich vielleicht im sogenannten Weltbürgertum bewegen können, dürfen oder müssen. Er konfrontiert den Leser vollkommen spielerisch informativ mit psychologischen Phänomenen wie dem Stockholm-Syndrom und bereichert gleichzeitig diese Geschichte in stilistisch gekonnter Weise mit absurden Episoden, die nicht komischer sein könnten. Kein Wunder, dass dieses Buch purer Lesegenuss ist!

 

Durchgelesen – „Deutschland à la française“ v. Pascale Hugues

Wie französisch ist Deutschland? Eine interessante Frage, die man sich, sei es als frankophiler Deutscher, oder deutschliebender Franzose vielleicht stellen sollte.

Pascale Hugues, geboren in Straβburg, arbeitet seit 1989 als Korrespondentin in Deutschland zuerst für die französische Zeitung „Libération“ und aktuell für das französische Magazin „Le Point“. Gleichzeitig schreibt sie die sehr bekannte Kolumne „Mon Berlin“ im Tagesspiegel, für die sie mit dem Deutsch-Französischen Journalistenpreis ausgezeichnet wurde. Pascale Hugues hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, „Marthe & Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland“ (2008) und „Ruhige Strasse in guter Wohnlage“ (2013) – prämiert mit dem „Prix Simone Veil“ und dem Europäischen Buchpreis. In ihrem neuen Buch „Deutschland à la française“ (wunderbar übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke) geht Pascale Hugues dieser potentiellen Frage nicht nur nach, sondern sie schildert uns voller Charme ihre eigenen Beobachtungen.

Pascale Hugues lebt als Französin zwar schon seit vielen Jahren in Berlin, fühlt sich manchmal immer noch ein wenig fremd und ist des Öfteren verwundert über so manche deutsche Eigenheit im Alltag, in der Sprache und in der Mentalität.

Bereits ganz aktuell im Hinblick auf die Amtseinführung von Emmanuel Macron sieht man die ersten grossen Unterschiede zwischen den beiden Ländern Deutschland und Frankreich. Vergleicht man dazu die Abgabe des Amtseides von Angela Merkel vor dem Bundestag, wird die deutsche Schlichtheit mehr als deutlich. „Ein feierliches Ritual, aber ohne Pathos“ laut Pascale Hugues, im Gegensatz zur „Machtübergabe in Paris mit ihrem monarchistischen Pomp: Man könnte glauben, Frankreich würde den Präsidenten zum König weihen.“ Und so kann man diesen königlichen Stil auch im „Élysée Palast“, dem Amtssitz des französischen Präsidenten, beim einmal im Jahr stattfinden Tag der offenen Tür im Detail erleben. Man denke nur an die goldenen Wasserhähne, prunkvollen Lüster und edlen Möbel, Teppiche und Kamine, wie es sich für ein Schloss eben gehört. Da fühlt sich das Kanzleramt sehr schlicht, aber vielleicht doch funktionaler an. „Eher Bauhaus als Rokoko“, schreibt P. Hugues.

Aber nicht nur im Machtzentrum der einzelnen Länder gibt es Unterschiede, auch im Alltag lässt sich so einiges an Verschiedenheiten feststellen. Da wäre zum Beispiel die „Mülltrennung“. Ein wunderbares klischeebehaftetes Thema, das sich für viele Ausländer perfekt eignet, sich über Deutschland lustig zu machen. Natürlich ist es beispielsweise für Franzosen bereits ein gewisser „Fort-Schritt“, in Frankreich zwischen Restmüll (schwarze Tonne) und Papier/Plastik (gelbe Tonne) zu trennen. Doch letztendlich wird nicht wirklich kontrolliert, weder von Nachbarn noch einer übergeordneten Stelle.

Pascale Hugues hat in Deutschland ihre ersten traumatischen Erfahrungen mit der Mülltrennung gemacht. Sie war gerade ganz neu nach Bonn gezogen und „eines Morgens trommelte es an meine Tür. … Ich öffnete die Tür. Sie hielt die graue Mülltüte in der Hand, die ich gerade in den Müllkeller gebracht hatte. Ich verstand nicht. Sie kippte den gesamten Inhalt der Tüte auf meinen Küchenboden aus.“ Das war der Grund, dass P. Hugues die Richtlinien des Umweltbundesamtes nicht nur studierte, sondern quasi auswendig lernen wollte bzw. musste. Aber letztendlich beobachtet sie auch hin und wieder Deutsche, die sich nicht immer an all diese Richtlinien halten. Ein kleiner Grund für P. Hugues, sich in gewissen regelmässigen Abständen einen kleinen Verstoss zu erlauben.

Neben vielen Alltagssituationen und gesellschaftlichen Unterschieden, liegen natürlich auch die Besonderheiten in der Sprache und in ihren Bedeutungen. Viele deutsche Wörter haben eine unglaubliche Kraft und Klarheit – denke man beispielsweise an das deutsche Wort „Donnerwetter“ -, die Franzosen wie Pascal Hugues begeistern und beeindrucken. Es gibt auch viele verdeutschte französische Wörter, die jedoch so manchen Franzosen fast schon zur Verzweiflung bringen. Nehmen wir das Wort „Niveau“. Im Französischen ist „Niveau“ ein Ergebnis-Mess-Intrument in der Schule. Doch im Deutschen gibt es Niveau fast überall. Bereits im Kaufhaus gibt es das 1. oder 2. Niveau, was wesentlich schicker klingt, als Etage. Interessant ist auch die Verwendung des deutschen „Niveaus“ hinsichtlich einer gesellschaftlichen Ebene bei der Suche eines geeigneten Lebenspartners, wie P. Hugues treffend auf den Punkt bringt: „Aber nirgends ist „mit Niveau“ schöner als auf der Website von ElitePartner: Partnersuche für Akademiker mit Niveau.“

Pascale Hugues durchforstet die deutschen, aber natürlich auch die französischen Eigenarten. Sie vergleicht und entdeckt interessante Unterschiede, aber auch kleine Anpassungsmerkmale von beiden Seiten, die das Leben vereinfachen, verbessern, und/oder bereichern können. Sie lässt kein aktuelles Thema aus, wie beispielsweise Streik und Korruption. Ihr messerscharfer Blick für die Feinheiten aus diesen Nachbar-Welten zeigt den Leser einen wunderbaren Querschnitt des Lebens auf beiden Seiten des Rheins. Durch ihren unglaublich subtilen, aber auch unheimlich direkten klugen Witz taucht der Leser in die doch manchmal schwere deutsche Seele aus Sicht einer Französin mit schwungvoller Leichtigkeit ein und spürt im gleichen Lese-Atemzug den koketten französischen Esprit.

„Deutschland à la française“ ist ein sehr kompetentes, amüsantes und aber vor allem  wichtiges Buch in den aktuell nicht einfachen Zeiten einer neu zu belebenden und vertiefenden deutsch-französischen Freundschaft!

Durchgelesen – „Der Eiffelturm“ v. Roland Barthes

Warum sollte man ausgerechnet ein Essay über den Eiffelturm lesen ? Genügt es denn nicht, sich an den Bildern von dieser Sehenswürdigkeit zu erfreuen oder den Turm direkt in Paris selbst zu entdecken ?

Der Eiffelturm – das Wahrzeichen der Stadt – international bekannt, beliebt und gerne besucht – steht im vornehmen 7. Arrondissement in Paris. Gebaut anlässlich der Weltausstellung in Paris 1889, ist der Turm 324 m hoch. Es gibt insgesamt drei Etagen, wobei die ersten zwei Etagen neben Aussichtsplattformen – bei der im Winter sogar eine kleine Eisfläche zum Schlittschuhlaufen vorgesehen ist – , Restaurants und Geschäfte anbieten. Der Eiffelturm gehört seit 1991 auch zum Weltkulturerbe mit anderen historischen Bauwerken in Paris und hat im Jahr 2015 mehr als 7 Millionen Besucher empfangen. Seit der Eröffnung 1889 konnten bereits mehr als 250 Millionen Touristen dieses architektonische Wunderwerk besuchen. Und nicht nur für diese vielen Touristen auch für Roland Barthes ist der Eiffelturm ein unübersehbares Objekt !

Roland Barthes, geboren 1915 in Cherbourg und gestorben 1980 in Paris, zählte zu den wichtigsten Philosophen und Literaturkritikern Frankreichs im 20. Jahrhundert. Er war Direktor der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) und Professor am Collège de France. Er machte am berühmten Gymnasium « Lycée Louis le Grand » sein Abitur und schrieb sich im Anschluss daran an der Sorbonne für das Studium der klassischen Literatur ein. Trotz seines Lungenleidens arbeitete er nach seinem Studienabschluss als Lehrer an verschiedenen Gymnasien in Paris, musste jedoch immer wieder durch Aufenthalte in Sanatorien unterbrechen. Aufgrund schwieriger finanzieller Verhältnisse lebte er bis zum Tode seiner Mutter (1977) mit ihr zusammen in einer Wohnung. 1977 erschien dann sein erstes äusserst kommerziell erfolgreiches Werk « Fragments d’un discours » (« Fragmente einer Sprache der Liebe » 1984), obwohl er durch sein in Frankreich bereits 1957 veröffentlichtes Buch « Mythologie » (« Mythen des Alltags » 1964) den Grundstock für sein Schwerpunktthema die kritische Semiotik gelegt hatte. Ja und auch der Eiffelturm ist für Roland Barthes eine Art Mythos des Alltags.

Der Eiffelturm war zur damaligen Zeit, gleich nach Fertigstellung, alles andere als ein beliebtes Baudenkmal. Der Turm wurde teilweise gehasst, er sollte am Besten nach der Weltausstellung wieder abgerissen werden. Viele Künstler und Autoren konnten sich keineswegs mit diesem Turm anfreunden und versuchten alles Mögliche, um ihn nicht sehen zu müssen. Roland Barthes beginnt sein Essay mit einer kleinen charmanten Anekdote über Maupassant :

« Maupassant ass häufig im Restaurant des Eiffelturms zu Mittag, obwohl er den Turm nicht mochte : « Es ist die einzige Stelle in Paris, von wo aus ich ihn nicht sehe » pflegte er zu sagen. In der Tat muss man sich in Paris grosse Mühe geben, den Eiffelturm nicht zu sehen. »

Der Eiffelturm war und ist präsent und gehört im Pariser Alltagsleben einfach dazu, ob man will oder nicht. Und somit versucht Roland Barthes den Sinn dieses Turms in genau diesem Alltagsleben in seinem Essay in ganz unterschiedlichen Ansätzen zu ergründen, wie zum Beispiel: « Der Turm ist freundschaftlich. »

Er hat aber auch verschiedene Aufgaben, sowohl im wirtschaftlichen als auch im technischen Bereichen und ist gleichzeitig jedoch vollkommen unnütz. Doch noch viel interessanter ist der Blickwinkel von Seiten des Turms. Der Besucher blickt vom Turm aus in die Natur, in die Stadt. Doch auch « der Eiffelturm betrachtet Paris », wie Barthes kurz und klar zusammenfasst.

Aber es geht um mehr als nur um Blicke auf und von dem Eiffelturm, es ist nicht nur das grandiose « Panorama », was hier zählt, es ist der Bedeutungsunterschied zwischen Objekt und Symbol. Und genau durch diesen Unterschied kann wiederum eine ganz neue Funktion entstehen, nämlich die einer « Vermittlungsfunktion, die eines historischen Objekts ».

Der Eiffelturm ist das Symbol von Paris, er ist aber zu allererst auch ein Technik-Objekt, ein Zeichen von kühnster Modernität, ein architektonisches Kunstwerk und er besitzt trotz allem eine im gewissen Sinne « menschliche Silhouette ». Denn für die Franzosen ist der Eiffelturm eine Dame (une tour), er bzw. sie ist die Dame aus Eisen (la dame de fer):

« Der Turm ist eine über Paris wachende Frau, die die Stadt zu ihren Füssen versammelt hält, sitzend und stehend zugleich kontrolliert und schützt, überwacht und behütet sie sie. »

Roland Barthes hat mit diesem Essay einen wahren Klassiker geschaffen, der nun endlich nach über 50 Jahren auch in Deutschland dank der wunderbaren Übersetzung von Helmut Scheffel veröffentlicht werden konnte. Dieses kleine feine Buch – im Anhang mit Abbildungen zur Entstehung – ist mehr als nur ein Essay. Es ist der Versuch als Strukturalist diesen Turm in den unterschied-lichsten Facetten zu « erforschen » und gleichzeitig damit eine noch grössere Bedeutung diesem Turm anzuerkennen aufgrund der äusserst überraschenden und  bedeutsamen « Forschungs-ergebnisse ».

Letztendlich zählt nicht das Objekt allein, sondern der Mensch, was er aus dem Objekt, in diesem Fall dem Turm macht :

Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt. »

Mehr lässt sich dazu fast nicht mehr sagen bzw. schreiben, ausser dass wir dem Leser diesen ausgesprochen eindrucksvoll zeitlosen und stilistisch eleganten Essay sehr zur Lektüre empfehlen, besonders vor der Besichtigung bzw. Besteigung dieses Turms !

Durchgelesen – „Riviera Express“ v. Gaëlle Josse

Wie elegant hat uns bereits Marcel Proust mit seinem Zitat « Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit anderen Augen zu sehen » auf die eigentliche Bedeutung einer Reise aufmerksam gemacht. Doch nicht weniger charmant und poetisch dürfen wir mit dem gerade aktuell erschienenen Roman « Riviera Express » von Gaëlle Josse eine ganz besondere Reise antreten, die nicht nur für die Hauptfiguren dieses Werks, sondern auch für uns Leser schöne, unerwartete und spannungsreiche Überraschungen bereit hält.

Gaëlle Josse, geboren 1960, hat Jura, Journalismus und klinische Psychologie studiert. Sie schreibt ab 2005 ihre ersten Gedichte. 2011 erscheint ihr erster Roman « Les Heures silencieuses »  und 2015 wird sie für ihren Roman « Le Dernier Gardien d’Ellis Island » mit verschiedenen Preisen, wie den Prix de Littérature de L’Union Européenne, ausgezeichnet. Nun endlich können wir auch auf Deutsch – dank der wunderbaren Übersetzung von Mayela Gerhardt – den in Frankreich 2013 veröffentlichten Roman « Noces de neige » unter dem deutschen Titel « Riviera Express » entdecken.

Der Roman ist komponiert wie eine Art « Spiegel-Roman », der in zwei verschiedenen Jahrhunderten und in einem besonderen Zug, der jedoch auf der gleichen Strecke zwischen St. Petersburg und Nizza verkehrt, spielt. Eine russisch-französische Geschichte mit zwei Frauen als Schlüsselpersonen, die sich in vielen Bereichen unterscheiden und trotzdem in wenigen Dingen gleichen. Sie sind beide auf der Suche nach dem Glück, verbunden mit der grossen Liebe. Die Unterschiede mögen im ersten Moment sehr markant erscheinen, wenn man bedenkt, dass Anna – Tochter einer reichen russischen aristokratischen Familie – in Nizza im März 1881 in den Zug steigt und die Heimreise nach St. Petersburg mit ihrer Familie antritt. Ja und Irina, eine eher mittellose Frau ohne Familie, im März 2012 die Reise in St. Petersburg in Richtung Nizza beginnt.

Die Reise in diesem besonderen Zug dauert mehr als 2 Tage, ist je nach Vermögen und Klasse entweder eine Luxusreise oder nur eine « normale » Reise von A nach B, so in dem Fall für Irina. Doch Irina hat dieses Fortbewegungsmittel für sich gewählt, weil sie Flugangst hat und nun endlich nach über sechs Monaten äusserst regen Email-Austausch ihren zukünftigen Mann persönlich kennenlernen möchte, der in Nizza lebt und laut Internet-Kontakt-Börse ein in London arbeitender erfolgreicher Banker sein soll. Irina hat nur ein Ziel, sie möchte endlich ein besseres Leben führen und geliebt werden.

Bei Anna sind die Voraussetzungen für die Reise etwas anders, denn sie kann in der Luxusklasse diesen vielen Kilometer nach St. Petersburg wesentlich entspannter entgegensehen. Sie träumt nicht von einem besseren Leben im Allgemeinen, da sie ja nicht ums Überleben kämpfen muss, nein sie träumt von einem Leben, das mit Pferden zu tun hat, denn nur auf dem Rücken der Pferde hat sie das Gefühl zu existieren. Und auch sie möchte geliebt werden, von einem Mann, in den sie sich bereits verliebt hat und den sie so bald als möglich nach Ankunft in St. Petersburg zu heiraten erhofft.

Zwei Frauen auf dem Weg zu ihrer potentiellen Hochzeit, auf dem Weg in ein unbeschreibliches Glück, obwohl sie sich beide gar nicht schön finden, vielleicht ein wenig begabt, jede auf ihre Weise. Doch eine lange Reise in einem Zug, der keine Fluchtmöglichkeiten bietet, der eine Art « rollender silberner oder goldener Käfig » darstellt, kann so manche unvorhergesehene emotionale « Reise-Ziel-Änderung » auslösen, die nicht nur für befreiende und beglückend erkenntnisreiche sondern auch für absolut unerwartet dramatische Entwicklungen sorgt…

Gaëlle Josse gelingt es kunstvoll und feinfühlig auf gerade mal 140 Seiten nicht nur zwei Jahrhunderte, sondern auch Russland und Frankreich trotz der mehreren tausend Kilometer langen Entfernung zu verknüpfen und sie gleichzeitig auch gegenüber zu stellen. Das Thema « Leben » wird übertragbar und somit auch zeitlos. Es geht um die gleichen Fragen der Identität, der Entscheidung und der Wahrheit, die letztendlich auch noch viele eher im ersten Moment unwichtig erscheinen Punkte, wie die Schönheit betrifft. Die äussere Schönheit an die wir denken ist oft von grosser Bedeutung. Doch eine Schönheit, die durch ein eben geformtes Gesicht, prachtvolle Haare und eine zarte Figur definiert wird, ist nicht immer die Schönheit, die uns hilft ein glückliches und ehrlich erfülltes Leben zu führen. Der Vater von Anna hat es mit diesem Satz, den er ihr nach einem dramatischen Vorfall im Zug nahe legt, auf den Punkt gebracht :

« Geben Sie auf Ihre Seele acht, sie allein ist es, die uns Schönheit verleiht. »

« Riviera Express » ist eine intensive Reise über viele Länder und während unterschiedlicher Zeiten. Und es ist eine Reise, voller Poesie und Erstaunen durch die Seelen besonderer Menschen. Mit sensibelster Selbstbeobachtung der einzelnen Hauptdarsteller gelingt es Gaëlle Josse den Leser, in eine unglaublich subtil entstehende und berührend dramatische Geschichte zu verwickeln, ohne auch nur einen Hauch sentimental zu werden. Der Roman ist eine wunderbare literarische Entdeckung und deshalb sehr empfehlenswert!

Durchgelesen – „Adèle“ v. Irene Ruttmann

Die Schlacht an der Somme (Fluss im Norden Frankreichs) vom 1. Juli bis 18. November 1916 zählte zu den grössten Schlachten an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Durch die britisch-französische Grossoffensive gegen die deutschen Truppen war dies die mit mehr als einer Million getöteten, verwundeten und vermissten Soldaten verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs. Ist es denn möglich trotz der vielen dramatischen Erlebnisse genau nach dieser Zeit Gefühle für einen Menschen zu entwickeln, der durch Zufall in ein vollkommen zerstörtes und eher zukunftsloses Leben tritt? Ja, denn dank der erzählerischen Kunst von Irene Ruttmann dürfen wir in ihrem neuen Roman „Adèle“ eine solch aussergewöhnliche Begegnung entdecken.

Irene Ruttmann, geboren 1933 in Dresden, studierte in Leipzig, Ost-Berlin und Frankfurt a. Main Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Sie promovierte in Frankfurt und war von 1972 bis 1976 Dozentin an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt. Seit dieser Zeit arbeitet sie als freie Mitarbeiterin für den Rundfunk und verschiedene Verlage. Bekannt wurde sie durch ihre Kinder- und Jugendbücher. Ihr erster Roman für Erwachsene „Das Ultimatum“ erschien 2001. Sie lebt in Bad Homburg.

Der Roman „Adèle“ ist eine Art Tagebuchroman. Der Hauptprotagonist heisst Max, ein junger zwanzigjähriger Infanterist aus Dresden. Max hätte gerne Medizin studiert, aber sein Vater war dagegen. Als Alternative durfte er eine Lehre als Drogist machen, die seine Begeisterung für Pflanzen und Kräutern im Hinblick auf das Anrühren verschiedensten Salben stillen konnte.

Max erwachsene Tochter entdeckt diese Tagebucheintragungen, die rudimentär im Sommer 1916 beginnen, wo sich ihr Vater Max freiwillig zum Sanitätsdienst gemeldet hatte und glücklicherweise statt an die Front als Hilfspfleger eingesetzt wurde. Dann gibt es Lücken und die Aufzeichnungen setzen Anfang Oktober 1916 wieder ein. Max ist Krankenträger. Danach ist wieder eine Schreibpause und die nun ersten ausführlichen Tagebucheintragungen beginnen am 11.Dezember 1916 und Max beschreibt die kurzfristige Erleichterung nach den dramatischen Tagen bei Chaulnes (eine Stadt an der Somme).

Er war in einem Gutshof, konnte sich endlich etwas ausruhen. Die Bedingungen waren besser als erwartet, es gab Feldbetten, Öfen und so gar ein Kino. Doch Max wollte lieber schreiben und zeichnen. Leider war das Papier so knapp, so dass er immer auf der Suche nach Material war. Dabei lernte er Bruno kennen, einen jungen Maler aus Berlin. Bruno war begeistert von der „guten Bohème“ in Dresden und freute sich, dass Max die Maler Heckel, Kirchner und Schmitt-Rottluff kannte. Bruno besorgte ihm Papier und ein Heft und Max unterhielt sich gerne mit ihm. Er könnte sich jetzt so einfach um seine Geschichten kümmern, wenn nicht die vielen Probleme in der Krankenstation wären. Viele seiner Kameraden litten an extremen Bauchkrämpfen und es gäbe doch nichts besseres, als Kräuter wie Salbei, um diese zu lindern.

Max machte sich auf zur Apotheke, welche jedoch verbarrikadiert war, und entdeckte dabei per Zufall ein Haus mit einem grossen Garten immer auf der Suche nach einem Kräuterbeet. Doch plötzlich hörte er eine Stimme. Max vollkommen irritiert stand einer jungen attraktiven Frau gegenüber, gekleidet in einem für ihn so schönen roten dicken Mantel. Sie war Französin, Max sprach fast kein Französisch und versuchte mit Händen und Füssen zu erklären, dass er nur Salbeikräuter suchen würde. Sie verstand seine Zeichensprache und konnte ihm seine dringend erwünschten Salbeibüschel geben. Wie glücklich er plötzlich war, nicht nur wegen der gesuchten Kräuter. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit dieser Begegnung. Die Nacht konnte er nicht schlafen, immer wieder sah er das hübsche Mädchen vor sich. Und am nächsten Tag ging er wieder hin, er holte nochmals Salbeibüschel, diesmal soviel er wollte und war noch entzückter, als sie plötzlich ein paar Worte sagte. Sie war überrascht über seine schwarze Haarfarbe und braunen Augen, so wie sie, obwohl er doch deutsch war. Auch Max sah erstmals ihre Haare und Augenfarbe. Nach diesem kurzen doch eher stillen Austausch ging er wieder in Richtung Gutshof:

„ « À demain », sagte sie und verschwand in der Tür. « Demain » heisst morgen, « aujourd’hui » heisst heute und ist schwierig zu schreiben. Und « gestern » fiel mir nicht ein. Ich brauchte es auch nicht. « Demain » heisst morgen. À demain, à demain, à demain!“

Max war beseelt von dieser so unerwarteten Begegnung und er besuchte das Mädchen wieder, am nächsten Tag. Diesmal lud sie ihn ein, ihr Haus zu betreten, er bekam einen Cognac und etwas zu essen und dabei stellte sich heraus, dass sie eine gewisse Zeit im Elsass verbrachte und ein bisschen Deutsch verstand. Ihr Name war übrigens Adèle. Bis jetzt hatte Max nur wenig Glück bei den jungen Frauen, er langweilte sie mit seinen Gesprächen über Museen und Literatur. Und hier bei Adèle konnte er gar nichts erzählen, es lag nicht an seinen fehlenden Französischkenntnissen, nein selbst in seiner Muttersprache hätte er nichts sagen können. Und vielleicht war genau das ihr Geheimnis, das Besondere zwischen ihm und Adèle…

Irene Ruttmann hat unbeschreibliche Empathie, die sie so wunderbar an ihren Hauptprotagonisten Max weitergibt und dabei gelingt es so raffiniert unaufgeregt die vollkommen unerwartete Begegnung zweier Menschen in Zeiten des Krieges vorsichtig und klar zu entwickeln, dass selbst die Kriegsszenerie für gewisse Momente so erleichternd unwichtig in den Hintergrund rückt. Die Sprache ist sowohl von zarter und unprätentiöser Klarheit und kann dabei der so charmanten Sprachlosigkeit zwischen Max und Adèle und dem daraus so grandios entstehenden Schweigen eine kaum zu übertreffende Intensität verleihen.

Als Leser geniessen wir diese so stilvolle Sinnlichkeit die sowohl von Max als auch von Adèle ausgeht und fühlen uns trotz der wahrlich sehr widrigen Kriegszustände mit ihnen und ihrer Situation so unglaublich wohl. Besonders gelungen ist ein Treffen, bei dem Adèle Max etwas auf Französisch vorliest, da er doch sehr gerne Bücher mag. Und es gibt noch so viele schöne andere Szenen in diesem Roman, der gerade mal 156 Seiten umfasst, dass man bei der letzten Zeile angekommen geneigt ist, das Buch gleich noch ein zweites Mal zu lesen.

„Adèle“ ist ein berührendes, anrührendes und sehr beeindruckendes Buch. Dieser Roman ist ein literarisches Bijou und gehört sicherlich zu den besten Neuerscheinungen in diesem Leseherbst.

Durchgelesen – „Hôtel du Nord“ v. Eugène Dabit

Hotels sind heute und waren damals nicht nur gute, exklusive und schicke Übernachtungsmöglichkeiten, um eine andere Stadt zu erkunden oder sich zu erholen. Hotels können und konnten vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts den Menschen, eine Art Ersatz-Zuhause bieten und wurden als so genannte Wohn-Hotels genutzt. Und genau von so einem Hotel und deren Bewohnern erzählt der bereits 1929 veröffentlichte Roman „Hôtel du Nord“ von Eugène Dabit.

Eugène Dabit (1898 – 1936) wuchs in Paris als Kind von Arbeiter-Eltern auf und erlebte eine zwar einfache aber nicht weniger glückliche Kindheit, obwohl die Eltern oft wegen ihrer Arbeitsstelle umziehen mussten. 1911 hatte er mit dem Certificat d’études primaires seine für ihn doch eher langweilige Schulzeit beendet und konnte 1912 seine Lehre als Schlosser beginnen. Jedoch wurde diese durch den 1. Weltkrieg schlagartig unterbrochen. Er versuchte mit Vortäuschen von psychischen Problemen und einem Selbstmordversuch dem Militärdienst zu entkommen. Er wurde jedoch bei Kämpfen in der Nähe von Reims verwundet und konnte danach nur noch in einem Büro der Armee arbeiten. Bereits während der Lehre wurde Dabits zeichnerisches Talent erkennbar und somit begann er ab 1919 ein Studium der Malerei an zwei verschiedenen Pariser Akademien.
Über Freunde entdeckte er neben der Malerei auch die Literatur und las neben Baudelaire, Rimbaud, Stendhal auch Gide. 1923 kauften seine Eltern mit der Hilfe eines Kredits von einem Onkel ein Hotel in Paris, das Hôtel du Nord, in der Nähe des Canal St. Martin am Quai des Jemmapes im 10. Arrondissement. Anfänglich arbeitete er dort als Nachtportier, letztendlich wurde er später selbst Geschäftsführer dieses Hotels, welches ihn in seinen schriftstellerischen Arbeiten stark beeinflusste. Alle seine Beobachtungen und Erfahrungen als Mitarbeiter und Hotelier können wir nun – dank der hervorragenden Neuübersetzung von Julia Schoch – in seinem bis heute in Frankreich als absoluten Klassiker zählenden Roman „Hôtel du Nord“ miterleben, durch den übrigens 1931 Eugène Dabit mit dem Prix du Roman populiste als erster Preisträger überhaupt ausgezeichnet wurde.

Der Roman spielt in der gleichen Zeit, während welcher die Eltern von Eugène Dabit dieses Hotel in Paris erworben hatten. Die Hauptdarsteller sind zum einen die neuen Besitzer des Hotels – Emile und Louise Lecouvreur – und natürlich die zum Teil doch lang verweilenden und aber auch regelmässig wechselnden Hotelgäste.

Das Hotel war ein besonderer Ort, es war ein sogenanntes Wohn-Hotel, in dem Gäste nicht nur für ein oder zwei Nächte blieben, hier wohnten die Gäste zum Teil für mehrere Wochen oder Monate, konnten in ihren Zimmern, die teilweise mit einer kleinen Kochecke ausgestattet waren, sich selbst versorgen. Auch wenn das Hotel über ein gut bürgerliches Restaurant verfügte, zog doch so mancher Gast die Intimität beim Essen in seinem Zimmer vor.

Louise und Emile Lecouvreur haben mit Hilfe eines Maklers und durch die finanzielle Unterstützung der Familie dieses Hotel erwerben können. Der Vorbesitzer suchte dringend einen Nachfolger und somit war das Geschäft in doch sehr kurzer Zeit abgewickelt. Mit viel Engagement und Herzblut hatten die Lecouvreurs sehr schnell eine gute und angenehme Atmosphäre in ihrem neuen Zuhause und damit auch in ihrem Hotel nicht nur sich selbst sondern auch ihren Gästen bereiten können. Sie suchten ein neues Dienstmädchen, kümmerten sich um die Langzeitgäste nicht weniger intensiv, als um die Kurzbewohner und die reinen Tagesgäste im Restaurant, sei es nur zum unkomplizierten Frühstück oder doch auch zum reichlich und schmackhaft gekochten Mittagsmahl. Aber auch all abendliche Kartenspieler wurden genauso herzlich bedient und fühlten sich im neu geführten Hôtel du Nord wohl. Manchmal gab es jedoch auch Probleme mit den Gästen, die nicht immer sofort und unkompliziert gelöst werden konnten:

„Lecouvreur war im Kneipengewerbe noch ein Neuling. Er wusste nicht, wie man Nervensägen loswird, die ihn wegen einer Runde anpumpten, oder Besoffene, die stundenlang am Tresen rumhingen. Jeden Abend vor Ladenschluss landete irgendein Säufer bei ihm, Kutscher oder Auslader.“

Die Probleme lagen aber nicht nur an den täglichen und eher kleinen Schwierigkeiten mit so manchem Gast, der nicht wusste, wann es genug war oder nicht. Nein, die Probleme gingen zum Teil soweit, dass ausgerechnet auch noch das erst kürzlich eingestellte Dienstmädchen schwanger wurde. Und so war auch Madame Lecouvreur mehr als nur in ihrer Funktion der Hotelchefin gefragt und musste sich nicht nur in diesem Fall um zwischenmenschliche Probleme und Sorgen sowohl bei ihren Angestellten als auch bei den Gästen kümmern…

Dieser Roman ist – wie bereits oben schon erwähnt – ein französischer Klassiker, denn er zeigt Paris von einer ganz anderen Seite, und bietet nicht nur den neuen Hotelbesitzern, sondern auch den Gästen eine grosse Bühne für all ihre Befindlichkeiten, ob positiv oder negativ. Dieser Roman ist fast wie eine Art Theater-Stück konzipiert, das die verschiedensten Rollen vergeben hat, um uns Leser an den einzelnen Schicksalen zu dieser Zeit und in dieser besonderen Gesellschaft teilzuhaben.

Der Erfolg dieses Romans – auch stark beeinflusst durch die Fürsprache von André Gide – öffnet dem Autor Eugène Dabit eine ganz besondere und wichtige Tür im Bereich der Literatur. Damit durfte er von nun ab Artikel für die grosse und berühmte Literaturzeitschrift „La Nouvelle Revue Française“ schreiben, die dem berühmten Pariser Verleger Gallimard gehörte. Ab 1930 wurden dann alle Bücher von Dabit in diesem Verlagshaus veröffentlicht, was eine sehr grosse Anerkennung bedeutete.

„Hôtel du Nord“ ist einerseits eine romaneske Gesellschaftsstudie der Stadt Paris der zwanziger Jahre, andererseits auch eine Art Gemälde vor allem dieses Quartiers, wo man die malerische Begabung des Autors bei jedem fast wie mit dem Pinsel geführt geschrieben Wort verspürt. Hier treffen wir noch auf einfache Berufsstände, wie Kutscher und Wäscherinnen, die heute in dieser Form nicht mehr existieren. Eugène Dabit öffnet einen ganz anderen Blick auf die auch schon damals grosse Metropole Paris, der eine ganz neue und unverbrauchte Suche nach dem Glück vermittelt, die für uns aktuell nicht mehr vorstellbar ist.

Dieser Roman beeindruckt nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich, ab der ersten Seite und es ist ein wahrer literarischer Glücksfall, dass dieses wichtige Werk der französischen Literatur nun endlich in dieser fabelhaften Neuübersetzung dem deutschsprachigen Publikum präsentiert werden kann. Und wer in Paris nicht nur auf den klassischen Touristenpfaden wandern möchte, kann dieses Hotel noch heute am Quai de Jammapes entdecken oder sich auch mit der berühmten Romanverfilmung (1938) von Marcel Carné in das Paris von Eugène Dabit verführen lassen!

Durchgelesen – „Unterwerfung“ v. Michel Houellebecq

Natürlich ist dieser Roman seit geraumer Zeit in aller Munde. Es gibt zahlreiche und vor allem unterschiedlichste Reaktionen in den Medien. Inzwischen ist der Roman nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland zum sogenannten Bestseller aufgestiegen. Doch wie das Wort schon sagt, ist der Bestseller mit Betonung auf „Seller“, das meist verkaufte und nicht unbedingt das meist gelesene Buch. Ob das nun wirklich zutrifft, lässt sich nur mit einem Fragezeichen beantworten. Denn versucht man das neue Werk Houellebecqs vollkommen abstrakt von den letzten Ereignissen in Frankreich als Roman bewusst zu lesen, bedarf es nicht nur einer gewissen intensiven und sehr aufmerksamen Lektüre dieses neuen Werks, sondern auch einer nicht ganz unwichtigen Kenntnis, aber vor allem einem grossen Interesse an französischer Polit-Soziologie und an französischer Literatur im Allgemeinen und im Besonderen der des 19. Jahrhunderts!

Michel Houellebecq, geboren 1956 auf La Réunion, ist ein französischer Schriftsteller, Essayist, Dichter und Romancier. Er gehört seit den 90ziger Jahren in der ganzen Welt zu den am meisten übersetzten Autoren Frankreichs. Er ist aber auch noch Sänger, Schauspieler und Regisseur. 2014 kam sein Film „L’Enlèvement de Michel Houellebecq“ („Die Entführung des Michel Houellebecq“) heraus, der auch auf Arte gezeigt wurde. Zu seinen wichtigsten Romanen zählen die „Ausweitung der Kampfzone“, „Elementarteilchen“, „Plattform“ und „Karte und Gebiet“, für den Houellebecq 2010 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Aktuell ist nun – dank der Übersetzung von Norma Cassau und Bernd Wilczek – sein neuer Roman „Unterwerfung“ fast zeitgleich in Frankreich und Deutschland erschienen.

Der Roman spielt in Frankreich im Jahre 2022. Der Hauptprotagonist und gleichzeitig auch Ich-Erzähler, François, ist 44 Jahre alt. Er lehrt an der Pariser Universität Literatur des 19. Jahrhunderts und hat seine Dissertation über das Thema „Joris-Karl Huysmans oder Das Ende des Tunnels“ verfasst. Somit ist er nicht nur der Huysmans-Spezialist in wissenschaftlicher Hinsicht, nein Huysmans ist auch der Schriftsteller, der François bereits seit seiner Jugend begleitet und er diesen dadurch über die Jahre hinweg als seinen wahren „Gefährten“ bezeichnen kann. Für den doch eher einsam erscheinenden François hatte die Literatur schon immer eine sehr grosse Bedeutung und sie:

„…vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist, mit allem, was diesen Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Grösse, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiert, erregt oder abstößt.“

Neben seiner Literatur und den Büchern sind Frauen für François ein nicht ganz unwichtiges Thema. Als Universitätsprofessor sitzt er quasi an der Quelle der Jugend, obwohl er junge Leute eigentlich gar nicht wirklich mag. Myriam, eine Studentin, war aber einfach anders. Seine Ex-Freundin wollte er nun unbedingt wiedertreffen, denn der Sex mit ihr hatte doch irgendwie nachhaltig positive Spuren bei ihm hinterlassen. Doch Myriam entschloss sich – auch durch ihre Eltern forciert – Frankreich in Richtung Israel zu verlassen. Für François war dies überhaupt kein Thema und somit musste er sich früher oder später mit der Trennung von Myriam abfinden.

François leidet schwer durch seine nicht wirklich lebensbedrohlichen Krankheiten, aber vor allem wegen seiner Einsamkeit nicht nur durch die fehlende Liebe zu einer Frau, insbesondere zu Myriam. Nein, auch seine Eltern hat er bereits über Jahre nicht gesehen. Als er erfährt, dass sein Vater stirbt, bevor er jemals nochmal mit ihm sprechen konnte, wird er bereits nachdenklich. Doch spätestens durch die administrative Mitteilung über die Beerdigung seiner Mutter auf der Armen-Parzelle des Friedhofs bekommt das Wort „Erbärmlichkeit“ eine andere Bedeutung. François fährt in den Ort „Rocamadour“ im Südwesten von Frankreich und spürt zum ersten Mal den Verlust seiner spirituellen Gefühle nachdem er in der Kirche vor der „Schwarzen Madonna“ gebetet hatte.

Die politische Situation in Frankreich war bereits vor seiner Reise ziemlich angespannt und François hat die Entwicklungen, obwohl er eigentlich politisch gar nicht so interessiert ist und die Literatur für ihn den weitaus höheren Stellenwert hat, trotzdem genauestens verfolgt. Die Regierung von François Hollande nach einer zweiten Amtszeit ab 2017 ist nun abgewählt und der neue Präsident der Französischen Republik heisst Mohammed Ben Abbes. Er kommt von der berühmten Fakultät ENA und hat über Mandela promoviert. Die Regierung besteht nun aus einer Koalition von Mitte-Rechts-Bündnis und der Muslimbruderschaft. Durch den neuen Präsidenten bekommt nun der Islam eine neue und andere Bedeutung in Frankreich und besonders innerhalb der französischen Gesellschaft, so dass die Universität ab sofort nur noch von einem Dekan geleitet werden kann, der sich zum muslimischen Glauben bekennt. Das gleiche gilt natürlich auch für das Lehrpersonal, die Professoren. Somit stellt sich nun die Frage, ob François seine bereits von der neuen Leitung der Universität Paris vorgeschlagene erstaunlich hohe Pension trotz des noch jugendlichen Rentenalters in Anspruch nehmen wird, oder ob er doch zum Islam konvertiert, um seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen zu können. Doch in wie weit bei dieser Entscheidung sein langjähriger literarischer Weggefährte Joris-Karl Huysmans hilfreich sein kann, lässt sich nicht so einfach auf den Punkt bringen…!

„Unterwerfung“ ist auf ersten Blick sicherlich ein politischer Roman, ein echter Polit-Science-Fiction. Gleichzeitig präsentiert uns Michel Houellebecq aber auch einen durchaus provokant zynischen Entwicklungsroman, der sowohl die französischen Politiker, als auch die französische Gesellschaft durchaus in gewisse Bedrängnis bringen könnte. Doch nicht vergessen sollte man auf jeden Fall, dass dieses Werk auf geradezu taktisch durchdacht angelegte Weise auch eine Art französische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist, allen voran mit Joris-Karl Huysmans. Diesen bemerkenswerten Schriftsteller kennen wir bereits durch sein kleines feines Oeuvre „Monsieur Bougran in Pension“. Der Ich-Erzähler in Houellebecqs neuem Roman „Unterwerfung“ ist genauso wie André Breton begeistert von Huysmans:

„Er ist selbstlos, er lässt dem Leser einen Vorsprung, lädt ihn ein, sich im Voraus über den Autor zu mokieren, über die Exzesse seiner greinenden, grauenhaften oder komischen Beschreibungen.“

Mit dem Blick auf Huysmans öffnet der Roman nicht nur politisch visionäre Türen, er öffnet auch Türen zu einer Literatur, die vielleicht einigen Lesern – vor allem deutschsprachigen – doch im ersten Moment eher unbekannt erscheinen mag. Aber gerade wegen dieser brillant konstruierten Verbindung zwischen Literatur, Politik, Religion und Gesellschaft, wird dieses Buch zu einem anspruchsvollen und intellektuellen Polit-Sozio-Thriller, der sich letztendlich durch die unübersehbare Neutralität des Ich-Erzählers François auszeichnet und dadurch eine ganz eigene Form der „Verantwortlichkeit“ des Schriftstellers gegenüber dem Leser vermittelt.

„Unterwerfung“ ist ein spannender und literarisch ambitionierter Roman, der einen ausgeprägten Wissensdrang in vielerlei Hinsicht provoziert und für ausreichend Gesprächsstoff sorgt. Es ist aber auch ein Buch, das gleichzeitig fordert, empört, irritiert und amüsiert und somit sicherlich einen bleibenden Stellenwert in der Literatur des 21. Jahrhunderts erlangen wird!

Durchgelesen – „6 Uhr 41“ v. Philippe Blondel

Sie sollten sich beeilen, verehrter Leser, sonst fährt der Zug um „6 Uhr 41“ ohne Sie ab, und das wäre doch zu schade. Zugfahrten sind hauptsächlich praktisch. Sie bringen einen von A nach B. Aber sie können auch meditative Wirkung erzeugen und geben uns dadurch Zeit und Muse, Bücher zu lesen, die Landschaft und die Mitreisenden zu beobachten und das Leben Revue passieren zu lassen. Jean-Philippe Blondel lädt uns mit seinem gerade in Deutschland aktuell veröffentlichten Roman „6 Uhr 41“ ein, in diesem Zug mit zu reisen – ganz ohne Gepäck, aber mit viel Neugierde auf die Vergangenheit und die Gegenwart.

Jean-Philippe Blondel, geboren 1964 in Troyes, unterrichtet Englisch an einem Gymnasium in der Nähe von seinem Geburtsort. Seit Jahren ist er nicht nur Lehrer, sondern auch Schriftsteller, sowohl für die Bereiche Belletristik und Jugendbücher. Er wurde mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Prix Charles Exbrayat“ und dem „Prix Amerigo Vespuccio Jeunesse“.

Der Roman „6 Uhr 41“ spielt in einem Zugabteil während der Fahrt von Troyes nach Paris. Erzählt wird aus zwei Ich-Perspektiven, der von Cécile Duffaut und von Philippe Leduc.

Cécile, verheiratet, eine Tochter, lebt und arbeitet in Paris. Sie besucht das Wochenende ihre Eltern in Troyes. Um mit ihren Eltern auch noch den Sonntagabend verbringen zu können, nimmt sie aus praktischen Gründen den Zug am Montag um 6 Uhr 41. Doch das Wochenende gestaltete sich sehr anstrengend und somit sitzt sie mehr als erschöpft in diesem Frühzug. Neben ihr ist noch ein einziger Platz frei, und genau diesen wählt ein Mann aus, den Cécile sofort erkennt. Es ist ihr ehemaliger Freund Philippe Leduc, Vater von zwei Kindern, inzwischen geschieden. Sie verhält sich diskret und tut so als würde sie ihn nicht erkennen. Und genau das hofft Philippe auch für sich:

„Denn als ich sah, dass der einzige freie Platz ausgerechnet neben Cécile Duffaut war, packte mich ein leichter Schwindel, wie diese Romanheldinnen des 19. Jahrhunderts, und ich habe mir gesagt, nein, das gibt’s nicht, und ich war drauf und dran, mein Glück im nächsten Waggon zu versuchen.
Aber ich bin mir so gut wie sicher, dass sie mich nicht erkannt hat. Denn ich bin praktisch nicht wiederzuerkennen.“

Doch auch wenn Philippe nun nicht mehr der ranke und schlanke Mann war, wie vor fast siebenundzwanzig Jahren, als sie beide das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, war sich Cécile vollkommen sicher nun neben ihrem ehemaligen Freund zu sitzen und während der nächsten eineinhalb Stunden die Zugfahrt quasi mit ihm gemeinsam zu verbringen.

Sowohl Cécile als auch Philippe schweigen, trauen sich nicht im Geringsten den anderen anzusprechen, sondern beginnen nun jeder für sich, ihre drei bis viermonatige Beziehungszeit in Gedanken zu rekonstruieren, die sich mit einer Reise nach London sehr dramatisch entwickelte. Jeder der beiden versteckt sich hinter Erinnerungen, um ja nicht mit dem Anderen ins Gespräch kommen zu müssen. Lebenserfahrungen, ehemalige einschneidende Ereignisse, Freuden und Enttäuschungen ziehen vorbei wie die Landschaft, die man aus dem Zug beobachten kann.

Man denkt ganz unbewusst beim Lesen an Sartre und sein Theaterstück „Huis Clos“ („Geschlossene Gesellschaft“). In diesem Roman werden wir nicht wie bei Sartre in einen geschlossenen Raum geführt, sondern in ein Abteil, das durch die Fahrt des Zuges eine ganz besondere  – im wahrsten Sinne des Wortes – bewegende Atmosphäre erhält. Wir lernen neben der kurzen intensiven Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptdarstellern auch andere Frauen kennen, mit denen Philippe sowohl verheiratet als auch liiert war. Cécile stellt uns ihre Eltern vor, die sie nur noch langweilen und Philippe erzählt von seinem Freund Mathieu, der nun – obwohl er  im Vergleich zu ihm der coolere Typ war – auf Philippes Unterstützung angewiesen ist.

Das Besondere an Jean-Philippe Blondels faszinierend subtiler, differenzierter und feinfühliger Erzählperspektive ist, dass man durch genau diese intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von Cécile und Philippe auch ganz automatisch mit seiner eigenen Lebensgeschichte – ob positiv oder negativ – konfrontiert wird. Man fängt sogar an sich beim Lesen selbst Fragen zu stellen, ob man nun Gutes, Richtiges, Schönes, Falsches und Wichtiges bis jetzt erlebt und erfahren hat. Dabei kommt einem doch sofort der Satz von Theodor W. Adorno in den Sinn: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Während Cécile und Philippe erzählen, fühlen auch wir uns genau wie diese zwei Hauptprotagonisten in diesem Zugabteil eingesperrt, fahren mit Ihnen von Troyes nach Paris und lernen aber dabei so en passant, wie wichtig es doch ist, letztendlich Frieden mit seinem ganz persönlichen Leben zu schliessen, egal welche vermeintlichen Fehler wir vor zig Jahren auch begannen haben. Denn sowohl Cécile als auch Philippe spüren durch diese ungewollte Nähe ganz neue Gefühle des Verzeihens und des Bedauerns, so dass dieses Wiedertreffen vielleicht bei Ankunft am Pariser Gare l’Est noch nicht ganz zu Ende sein könnte…

Es ist keinesfalls überraschend, dass dieser Roman von Jean-Philippe Blondel bei Erscheinen in Frankreich 2013 nach kürzester Zeit zum Lieblingsbuch der französischen Buchhändler wurde und es auch bis heute noch ist. „6 Uhr 41“ ist ein raffiniertes, emotionales und literarisch komödiantische Kammerspiel, wie es die Franzosen lieben. Feinsinnig, tiefgehend ohne zu überzeichnen, fesselnd, einnehmend und auf wunderbare Weise inspirierend. Glücklicherweise können wir diesen Roman – dank der hervorragenden Übersetzung von Anne Braun – nun endlich auch auf Deutsch entdecken und das Lesevergnügen mit unseren französischen Nachbarn teilen!

Durchgelesen – „Ein Tag zu lang“ v. Marie NDiaye

Planung ist das halbe Leben. Dies ist nicht nur eine leere Floskel, sondern diese Einstellung wird auch sehr oft umgesetzt. Und was plant der Mensch am Liebsten, genau seinen Urlaub. Alles wird organisiert, der Ankunftstag, die Uhrzeit und natürlich auch der Abreisetag. Doch was passiert, wenn man spontan seinen Urlaub um einen Tag verlängert ? Nichts, sollte man meinen. Doch dass eine solche banale Abreiseverzögerung gleich das ganze Leben einer Familie bzw. eines Mannes komplett auf den Kopf stellt, werden wir spätestens durch diesen grandiosen Roman erkennen.

Marie NDiaye ist am 4. Juni 1967 in Pithiviers geboren. Ihre Mutter ist Französin und der Vater Senegalese, der Frankreich wieder in Richtung Afrika verlässt, als sie gerade mal ein Jahr ist. Marie NDiaye wächst in der Pariser Banlieu auf, wird hauptsächlich von Ihren Grosseltern mütterlicherseits erzogen, da Ihre Mutter beruflich als Lehrerin für Naturwissenschaften sehr engagiert ist. Bereits im Alter von 12 Jahren fängt sie an zu schreiben und wird nach ihrem Schulabschluss mit 17 Jahren von Jérôme Lindon entdeckt. Er ist der Gründer des Verlages « Éditions de Minuit », bei welchem NDiayes erstes Werk « Quant au riche avenir » 1985 veröffentlicht wird. Sie schreibt vier weitere Romane, unter anderem « Un temps de saison » 1994, der nun ganz aktuell unter dem Titel « Ein Tag zu lang » nach über acht Jahren – dank der Übersetzung von Claudia Kalscheuer – in deutscher Sprache erschienen ist. Damals schrieb bereits das Magazin « L’Express », das es sich bei der Autorin um eine Frau handelt, auf die man schriftstellerisch in Zukunft zählen könnte. Und das war bzw. ist auch so, denn Marie NDiaye wird mit Ihrem Roman « Rosie Carpe » mit dem Prix Femina 2001 ausgezeichnet und erhält als erste lebende Schriftstellerin die Ehre, dass ihr Theaterstück « Papa doit manger » in der Comédie Française gespielt wird. Doch hauptsächlich bekannt – insbesondere auch international – wurde sie durch die grösste und wichtigste literarische Auszeichnung in Frankreich, den Prix Goncourt, den sie für ihren Roman « Trois Femmes puissantes » (« Drei starke Frauen ») 2009 erhält. Seit 2007 lebt Marie NDiaye mit ihrer Familie in Berlin.

« Ein Tag zu lang » ist ein ganz eigenwilliger und sozialkritischer Roman. Er fühlt sich an wie ein schlechter Traum, wirkt wie ein provokantes Märchen und liest sich fast wie ein Krimi. Die Handlung spielt Anfang September in der französischen Provinz, ohne das konkret der Name des Dorfes genannt wird.

Der Lehrer Herman, obwohl er Familie (eine Frau namens Rose und einen Sohn) hat, ist neben einigen schrägen Dorfbewohnern der Hauptprotagonist. Er kommt aus Paris und verbringt wie jedes Jahr seinen Sommerurlaub in dem Ferienhaus in der Provinz, das jedoch nicht direkt im Dorf sondern etwas ausserhalb liegt. Eigentlich reist er mit seiner Familie spätestens am 31. August ab. Das ist so üblich, nicht nur bei ihm, sondern das machen alle Pariser so, damit sie rechtzeitig wieder in Paris sind, wenn die Schule beginnt, bzw. die Arbeit losgeht und sie somit ein wichtiger Teil der sogenannten « Rentrée » sein können.

Doch dieses mal bleiben sie einen Tag länger und noch am gleichen Nachmittag stellt Herman fest, dass seine Frau und sein Kind verschwunden sind. Just genau in dem Moment, wo der 1. September auf dem Kalenderblatt steht, ist auch das Wetter nicht mehr sommerlich. Es stürmt und ist plötzlich sehr kalt :

« Die plötzlich winterlichen Temperaturen versetzten ihn vollends in Furcht und Schrecken und festigten seine Überzeugung, dass Rose und er, indem sie einen Tag zu lang mit ihrer Abreise gewartet hatten und den Monat September, den sie sonst immer in Paris erlebten, hier auf sich zukommen liessen, sich unbekannten Störungen ausgesetzt hatten, einer Art von Störungen, der sie vielleicht nicht gewachsen waren. »

Herman versucht trotz des schlechten Wetters seine Frau und sein Kind zu finden, frägt bei der Nachbarin, ob seine Frau bei ihr sei, da sie eigentlich noch frische Eier holen wollte. Doch sie war nicht da. Er läuft weiter bis ins Dorf hinein, versucht sie in einem Laden zu finden und möchte unbedingt noch auf der Polizeiwache eine Vermisstenanzeige aufgeben. Der noch anwesende Polizist ist verwundert darüber, da bis jetzt noch nie ein Bewohner des Dorfes verschwunden ist. Er klärt ihn darüber auf, dass um diese Zeit keine Fremden mehr im Dorf leben und gebe ihm zu verstehen, dass Herman nun der erste Pariser sei, der hier dieses Wetter erleben würde. Hermann hofft auf die Hilfe des Polizisten, doch dieser vertröstet ihn nur, da sein Dienst schon vorbei sei.

Herman schläft eine Nacht darüber und ist fest entschlossen am nächsten Tag statt nochmals zur Polizei zu gehen, den Bürgermeister aufzusuchen, damit dieser als deren « Chef » etwas mehr Druck bezüglich einer Vermisstensuche ausüben könnte. Doch der Bürgermeister hat keine Zeit für ein Gespräch und deshalb wird Herman an den Vorsteher des Fremdenverkehrsamtes weitergeleitet :

« „Wo kommen Sie denn her ?“ fragte der Vorsteher leutselig und offenkundig entzückt über Hermans Besuch. „Aus C. ? Aus M. ?“
Er nannte zwei nahe gelegene Dörfer.
„Ich lebe in Paris. Ich sollte seit gestern wieder dort sein.“
Der Vorsteher schrie überrascht auf.
„Sie sind Pariser ? Aber der Sommer ist zu Ende !“
„Das sage ich Ihnen ja“, erwiderte Herman gereizt.
„Ich bin nur noch hier, weil mich ein plötzliches Unglück ereilt hat.“ »

Ja und dieses Unglück nimmt jetzt er sich so richtig seinen Lauf und entwickelt sich in einer ganz mysteriösen Weise schleichend weiter. Herman nimmt die Suche wieder auf und wird dadurch immer mehr zum « Mitglied » dieser Dorfgemeinschaft. Die Dorfbewohner verhalten sich merkwürdig. Die Menschen und das Wetter werden sich immer ähnlicher. Alles versinkt im Regen, eingehüllt im Nebel, ist es nun nicht mehr ganz klar, ob Herman seine Frau und sein Kind jemals wiederfindet, wiederfinden kann bzw. will…

Dieser Roman von NDiaye zählt zu ihren literarisch äusserst bemerkenswerten Frühwerken. Bereits hier erkennt man ihren sprachlichen Scharfsinn und den subtil versteckt provozierenden Humor. Hier werden wir so en passant durch das Verschwinden einer Frau und eines Kindes mit den Feriengewohnheiten der Pariser konfrontiert und müssen dabei erkennen, was es bedeuten kann, wenn der Pariser seinen sonnenverwöhnten Ferienort am 31. August nicht wieder verlässt.

Marie NDiaye ist äusserst mutig, diese sehr eingefahrene ja fast schon traditionelle Gewohnheit der Pariser in so raffiniert literarische Form eines Romans zu packen und dabei ein so spannendes und vollkommen unaufgelöstes « Traummärchen » entstehen zu lassen, in dem nicht nur der Herbst, sondern auch die Menschen, kalt, vernebelt und morbide wirken.

« Ein Tag zu lang » ist ein Buch, das Lebendigkeit und Sterblichkeit im gleichen Atemzug bietet und das den Unterschied zwischen « Sommerparadies » und « Herbstwüste » klar definiert und wehe, man erlaubt sich nur einen Tag länger als gewohnt dieses Sommerparadies geniessen zu wollen, ist das Drama schon perfekt. Dieses sozio-philosophische Märchen steigert sich fast zum Albtraum, und kurz vor dem Ende wacht man auf, ist im ersten Moment etwas irritiert, wundert sich über die unglaubliche Anpassungsänderung von Herman und fragt sich wo Rose und der Junge geblieben sind. Und genau durch diese spannungsgeladene, ja fast schon emotional explosive Entwicklung wird einem als Leser glasklar vor Augen geführt, wie schnell Realitäten verwischen können und sich die eigenen Familienmitglieder plötzlich in Fremde verwandeln.

Geniessen Sie, verehrter Leser, diesen grossartigen Roman und Sie werden nicht nur die ungewöhnlich starke und besonders elgante Sprachbrillanz von Maria NDiaye erleben, sondern sie werden vor allem während der Lektüre auch immer wieder spüren, wie wichtig es ist, seine Umwelt genau zu beobachten, um sich sein Leben von niemand anderen als von sich selbst aus der Hand nehmen zu lassen…

Durchgelesen – „Sire, ich eile: Voltaire bei Friedrich II.“ v. Hans Joachim Schädlich

Spätestens seit dem 300. Geburtstag am 24. Januar 2012 ist der Preußenkönig Friedrich II. wieder in aller Munde. Und genau dieses Jubiläum könnte Hans Joachim Schädlich als Anlass genommen haben, auf die ganz besonders ungewöhnliche « Beziehung » zwischen Friedrich II. und Voltaire aufmerksam zu machen. Erwarten Sie jetzt kein neues Sachbuch über den Preußenkönig. Ganz im Gegenteil, Sie werden von Hans Joachim Schädlich mit einer äusserst kurzweiligen und espritvollen Novelle über die « Freundschaft » Friedrichs II. zu Voltaire, wie sie es in dieser literarischen Form sicherlich noch nicht gegeben hat, überrascht.

Hans Joachim Schädlich (geboren 1935 in Reichenbach im Vogtland) studierte Germanistik und Linguistik an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität Leipzig. Nach seiner Promotion arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin, bevor er 1977 aufgrund eines Ausreiseantrags in die Bundesrepublik übersiedeln konnte. Er wurde für seine Werke mit einer Fülle von Auszeichnungen geehrt, unter anderem 1992 den Heinrich-Böll-Preis, 1996 den Kleist-Preis, 1998 den Schiller-Gedächtnispreis und 2007 den Literaturpreis der Stadt Bremen. Heute lebt und arbeitet Hans Joachim Schädlich in Berlin. Ganz aktuell ist nun sein neuestes Werk « Sire, ich eile » erschienen, welches den Leser durch seine sprachliche Brillanz begeistern und neugierig machen wird.

« Sire, ich eile », erzählt die schwierige und irgendwie auch merkwürdige Konstellation zwischen Friedrich II. und Voltaire. Friedrich II. ist durch sein Geburtstags-Jubiläum wieder mehr ins Gedächtnis gerückt, wir wissen um seine Taten, « Erfolge » und Probleme, kennen sein Faible für die Philosophie und die Leidenschaft zur Musik, insbesondere zur Flötenmusik. Doch wer ist eigentlich Voltaire und warum wird er so stark von Friedrich II. umworben ?

Voltaire (1694 – 1778), heisst eigentlich François-Marie Arouet, gehörte zu den meistgelesenen und einflussreichsten Autoren der französischen und europäischen Aufklärung. In erster Linie schrieb er als Lyriker, Dramatiker und Epiker für die intellektuelle Oberschicht Frankreichs. Und nicht nur für diese, auch die Adelschicht in ganz Europa, welche aufgrund ihrer Erziehung die französische Sprache lernte, war begeistert von seinen philosophischen Werken. Er beherrschte selbst mehrere Sprachen wie Englisch und Italienisch, reiste viel und lebte in Ländern wie Niederlande, Deutschland, England und der Schweiz. Er äusserte sich kritisch über den Absolutismus, die feudalistischen Zustände und die Monopolherrschaft der katholischen Kirche, deshalb wird er auch als Wegbereiter der Französischen Revolution bezeichnet. Zu seinen wichtigsten, bekanntesten und beliebtesten Werken – vor allem auch in deutscher Übersetzung – zählt « Candide oder der Optimismus », welches 1759 erstmals veröffentlicht wurde.

Hans Joachim Schädlich’s Novelle beginnt im Jahre 1732. Voltaire’s Theaterstück « Zaire » feiert grosse Erfolge in der Comédie Française (Paris). Er lernt durch den Comte de Forcalquier und zwei anderen Bekannten seine zukünftige Geliebte kennen. Es ist die Marquise du Châtelet, mit dem zarten Vornamen Émilie :

« Die vier fuhren nach Charonne und kehrten in einem Landgasthof ein. Auch im Gasthaus sass Voltaire neben Madame Châtelet. Seit diesem Abend konnten die beiden nicht mehr voneinander lassen.
Es war Liebe.
François und Émilie. »

Ein Jahr später finden François und Émilie endgültig zusammen und sie wird die Geliebte und Gefährtin von Voltaire, obwohl sie bereits seit 1725 mit dem Marquis du Châtelet-Lomont verheiratet und auch Mutter von einer Tochter ist. Davor war sie übrigens auch noch die Geliebte vom Herzog von Richelieu (ein Großneffe des Kardinals Richelieu). Émilie ist eine durchsetzungsstarke und sehr intelligente Frau. Sehr belesen und von philosophischen und metaphysischen Werken angezogen, beschäftigt sie sich intensiv mit Mathematik und Physik. Um einem Haftbefehl zu entgehen, verlässt Voltaire Paris und reist 1734 nach Cirey-sur-Blaise. Er zieht in das Schloss, das schon immer seiner Familie gehörte. Émilie kommt nach, hilft ihm beim Einrichten und Dekorieren. Widmet sich aber bald wieder ihren physikalischen Experimenten im eigenen Labor. Voltaire und Émilie arbeiten gemeinsam an verschiedenen naturwissenschaftlichen Werken.

Friedrich, noch Kronprinz, versucht sich mit philosophischen Werken abzulenken und mit dem Gedanken anzufreunden, dass er bald preußischer König wird. Er hasst die deutsche Sprache und Literatur und beginnt mit seinen ersten Kompositionen. Zum ersten Mal im Jahre 1736 erreicht Voltaire ein Brief des preussischen Kronprinzen. Und ab diesem Zeitpunkt beginnt ein nicht zu enden wollendes Umwerben von Seiten Friedrichs. Der zukünftige Preußenkönig wünscht nichts sehnlicheres als den Schöpfer dieser herausragenden philosophischen Werke bei sich zu haben. Er ist auf der Suche nach einem adäquaten Gesprächspartner und nach einem geeigneten Korrektor für seine philosophischen und poetischen Schriften.

1740 besucht Voltaire Friedrich zum ersten Mal in Kleve. Weitere Treffen folgen, doch Émilie ist skeptisch und spürt, dass Friedrich « ihren » Voltaire eigentlich nur « besitzen » möchte. Das belastet natürlich die Beziehung zwischen Émilie und Voltaire. Sie lässt sich auf einen anderen Mann ein, der ihr neuer Liebhaber wird und sie bald darauf auch schwängert. Und auch Voltaire hat eine neue Geliebte, seine Nichte Louise Denis. Friedrich drängt zunehmend, doch Voltaire vertröstet ihn, denn trotz der neuen « Liebesumstände » ist Voltaire nach wie vor für seine Gefährtin Émilie da und will ihr auch bei der Geburt beistehen. 1749 bekommt Émilie ihr Kind, sie stirbt jedoch einige Tage später und auch das Kind überlebt nicht.

1750 bricht Voltaire nun endgültig in Richtung Potsdam auf. Seine Reise gestaltet sich sehr schwierig und ist begleitet von vielen Hindernissen. Doch er versichert Friedrich sein Kommen in einem Brief :

« “ Sire, ich eile, ich werde kommen, tot oder lebendig. “ »

Voltaire wird am preussischen Hof von Friedrich empfangen und zu seinem Kammerherrn ernannt. Es dauert jedoch nicht lange und die beiden Männer stellen ihre unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Charakterzüge fest. Die Situation eskaliert immer mehr. Es kommt zum « Freundschafts » – Bruch zwischen dem König und dem Philosophen. Voltaire möchte so schnell als möglich wieder abreisen, da die Lage sehr brenzlig wird. Er flieht, wird jedoch durch preussische Beauftragte auf Befehl von Friedrich in der Freien Reichsstadt Frankfurt festgehalten und unter Hausarrest gestellt…

Diese atemberaubende Geschichte – äusserst genau und präzise im Hinblick auf die Historie recherchiert – wird von dem Sprachkünstler Hans Joachim Schädlich auf gerade mal 140 Seiten erzählt. Eine Novelle voller Kraft und Genauigkeit, die ihren Glanz durch die minimalistischen und klaren Formulierungen erhält. Die Süddeutsche Zeitung schreibt über Hans Joachim Schädlich : « Ein Meister der Reduktion, der mit dieser Reduktion eine ungeheure Intensität erreicht. »

Ja und genau diese Reduktion hat für den Leser viele Vorteile. Er muss sich nicht durch ein 500 Seiten starkes historisches Werk quälen. Die Novelle bietet klare Fakten und Informationen auf sprachlich höchstem Niveau. Mit Hilfe dezent versteckter Ironie spüren wir als Leser, wie schwierig es doch erscheint, als freiheitlich denkender Philosoph Freund eines von absoluter Macht gelenkten Königs – trotz musischer und philosophischer Ambitionen – zu sein. Ergänzend wird uns in diesem kleinen grossen Werk die wunderbare Gefährtin Émilie du Châtelet vorgestellt und wir lernen durch sie viel über die aufgeklärte Liebe.

Mit Raffinesse erzeugt Hans Joachim Schädlich beim Leser einen nicht zu erwartenden Wissensdurst. Man möchte sich am Liebsten nach dieser Lektüre in eine Biographie von Voltaire stürzen, sucht nach mehr Informationen über seine beeindruckende Geliebte und entdeckt wiederum interessante Seiten bei Friedrich II. Hans Joachim Schädlich ist somit das gelungen, was selten historische Werke vollbringen können : mit Knappheit und literarischer Kunst den Leser zu beglücken, nicht im geringsten zu langweilen, sondern ihn mit grosser Neugierde auf mehr zu entlassen. Kurzum, es macht nicht nur sehr grosse Freude, sondern es ist auch ein äusserst bereicherndes Vergnügen, diese wunderbare Novelle zu lesen !

Durchgelesen – „Mathilde und der Duft der Bücher“ v. Anne Delaflotte

Kennen Sie auch diesen unbeschreiblichen Duft eines Buches? Ein Duft, der angenehm nach Papier und Holz riecht. Ein Duft, der sich in die Nase des Lesers einnistet und die Lektüre begleitet, bis er das Buch am Ende aus der Hand legt. Es ist ein sehr sensuelles Erlebnis, auf das jeder Bibliophile sicherlich nie verzichten möchte. Ja und wer könnte diesen Duft eines Buches nicht besser beschreiben und erklären als ein Buchbinder bzw. eine Buchbinderin.

Anne Delaflotte lässt uns mit ihrem ersten Roman „Mathilde und der Duft der Bücher“, der nun ganz aktuell auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, eintauchen in Welt des Buchbinderhandwerks. Anne Delaflotte ist 1967 in Auxerre geboren und im Burgund aufgewachsen. Sie studierte in Paris internationales Recht und Diplomatie und ist selbst gelernte Buchbinderin. Seit 1993 betreibt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Alexander Mehdevi, eine internationale Buchhandlung in Prag. Inzwischen lebt sie dort auch als freie Schriftstellerin.

„Mathilde und der Duft der Bücher“ spielt in einem kleinen Ort namens Montlaudun in der Dordogne. Mathilde  ist eine junge Frau Ende zwanzig und hat sich nach einer sehr atemberaubenden Karriere als Diplomatin in Paris für das Buchbinderhandwerk entschieden, welches bereits ihr geliebter Grossvater ausgeübt hatte. Sie hat sich von ihrem Erbe und Ersparten ein Haus in diesem kleinen Dorf gekauft. Mitten im Dorfkern arbeitet Mathilde in ihrem Laden-Atelier zwischen zum Teil sehr netten Nachbarn, wie der Bäcker André und der Schuster Sébastien, aber auch schwierigen alteingesessenen Damen wie die Besitzerinnen des kleinen Tante Emma Ladens. Das Geschäft läuft für Mathilde jedoch sehr schleppend und sie muss sich um ihre Kundschaft mehr als bemühen, fast schon kämpfen.

Doch sie bereut ihre Entscheidung nicht, jetzt als Buchbinderin zu arbeiten, denn sie liebt Bücher. Jeden Morgen geniesst sie ihr Frühstück im Atelier umgeben von Büchern und streicht danach ihre Hand über die Buchrücken der noch zu restaurierenden Werke:

„Dann erst mache ich richtig Bekanntschaft mit dem Objekt. Es reicht nicht aus, es bloss in Augenschein zu nehmen, man muss das Gewicht fühlen, Mass nehmen, es in der Hand spielen lassen. Manchmal schweife ich ab und lese aufs Geratewohl hier und da einige Zeilen. Damit verstosse ich gegen die Regeln meines Grossvaters und Lehrmeisters, der die Ansicht vertrat, ein Buchbinder habe nicht zu lesen. Ein Analphabet sei für die Arbeit am geeignetsten, ob es nun seine Enkelin war oder sonst wer. Er empörte sich über die Auffassung, man dürfe ein Buch schon vorsichtig aufschlagen und sich an seinem Stil ergötzen, wenn der Leim vielleicht noch nicht ganz trocken, der Block aber schon fest ist.“

Eines Tages – Mathilde ist sehr vertieft in ihre Arbeit – klopft es an der Tür und ein junger, sehr attraktiver Mann betritt ihr Atelier. Er übergibt ihr ein altes und durch Brandspuren beschädigtes Buch zur Restauration. Mathilde ist ganz verwirrt, der Mann ist ihr vollkommen unbekannt, scheint auch nicht aus dieser Gegend zu kommen. Er versprüht jedoch einen ungewöhnlichen Duft nach Wald und Erde, der sie fasziniert. Der Mann wirkt kränklich und schwächelt. Sie versucht ihm zu helfen, aber er lehnt ab, gibt ihr eine Anzahlung von 100.- Euro  und sagt, dass er das Buch nach sechs Tagen, so wie Mathilde es vorgeschlagen hat, wieder abholen werde. Er wollte keine Quittung und die eigentlichen Preisver-handlungen sollten zwei Tage später stattfinden. Doch dazu kommt es nicht mehr. Der unbekannte junge Mann wollte nach dem Besuch in Mathildes Atelier zum Bahnhof, um den Zug nach Paris nehmen zu können, doch leider wird er von einem LKW auf dem Bahnhofsplatz erfasst und ist sofort tot.

Mathilde ist geschockt und vollkommen durcheinander. Und genau in diesen Momenten helfen nicht nur die netten Nachbarn, sondern  vor allem ihr geliebter „Cyrano“. Das berühmte Buch „Cyrano de Bergerac“ von Edmond Rostand ist ihr Lieblingswerk. Es liegt auf ihrem Nachtisch und tröstet sie in schwierigen Zeiten. Es hilft bereits das Lesen einiger Zeilen und schon kann das Leben wieder weitergehen.

Das alte Buch dieses verunglückten Mannes liegt nun auf ihrem Ladentisch und Mathilde hat nicht mal den Namen des Besitzers, geschweige denn die Adresse. Was soll sie tun? Sie sieht sich das Buch in Ruhe an: es enthält Zeichnungen und Aquarelle einer galloromanischen Tempelanlage in einem Wald. Mathilde entscheidet sich für die Restaurierung und entdeckt dabei eine handgeschriebene Namensliste. Sie wird neugierig und fängt an, Nachforschungen zu unternehmen. Sie spürt, dass dieses alte Buch ein Geheimnis enthält, welches sie unbedingt aufdecken muss. Doch Mathilde hat nicht gedacht, dass auch dadurch für sie Probleme entstehen können: ihre mühsam akquirierten Aufträge werden annulliert, es wird schlecht über ihre Buchbindekunst geredet und es wird so gar in ihrem Atelier eingebrochen. Hat dies alles vielleicht mit dem alten Tempel-Buch des unbekannten Mannes zu tun … ?

„Mathilde und der Duft der Bücher“ ist ein faszinierendes, zauberhaftes, aber auch spannendes Buch. Selten finden wir in Romanen die Buchbinderhandwerkskunst so sensibel und authentisch beschrieben wie in diesem wunderbaren Werk. Man möchte sich am Liebsten bei der Lektüre neben Mathilde stellen, das Leder berühren, seine Nase in das Papier halten und zusehen, wie sie den Block festklebt . Dieser Roman ist  ein sprachlich so elegantes und musikalisches Buch! Allein schon durch die immer wieder eingebauten Stellen des „Cyrano de Bergerac“ und durch die literarische Feinfühligkeit, wie Anne Delaflotte über die restaurierende Bücher schreibt, als wären sie Lebewesen, lässt sie uns mit ihrem Roman nicht nur Edmond Rostand neu oder wiederentdecken, sondern auch den sensuellen Wert eines Buches erfassen.

„Mathilde und der Duft der Bücher“ ist ein ganz besonderes und aussergewöhnliches Prosastück, voll französischer Atmosphäre, Raffinesse und auch einer gewissen Dramatik. Anne Delaflotte hat darüberhinaus ein durchaus sehr informatives Werk in Punkto Buchbinderei, aber gleichzeitig einen sehr sinnlichen und luftigen Roman aus der Welt der Bücher geschrieben, der den Leser beglückt und in eine magische Stimmung versetzt. Nach dieser wundervollen Lektüre werden Sie in Zukunft immer ihre Hände zärtlich über den Einband eines Buches streichen und ihre Nase ganz zielstrebig an das Papier führen, um den ganz besonderen und vielleicht auch betörenden Duft der Bücher aufsaugen zu können!

Durchgelesen – „Sarahs Schlüssel“ v. Tatiana de Rosnay

Sarahs Schlüssel“ ist kein historisches Werk. Nein, es ist ein sehr bewegender,unglaublich spannender und wichtiger Roman gegen das Vergessen und für das Erinnern an ein dramatisches historisches Ereignis in Frankreich, bzw. in Paris: die Zusammentreibung der Juden im Vélodrome d’Hiver, kurz genannt Vél d’Hiv, am 16. und 17. Juli 1942.

An diesen beiden Tagen wurden ca. 13000 Juden – darunter mehr als 4000 Kinder – aus Paris und aus den Vororten verhaftet und nach Ausschwitz deportiert und dort ermordet. Das Pariser Vélodrome d’Hiver (eigentlich ein Radsport-stadion) diente dazu, die zusammengetriebenen und von der Polizei der französischen Vichy-Regierung  – auf Befehl der NS-Besatzung –  verhafteten Juden unter extrem menschenunwürdigen Bedingungen bis zu dieser Deportation festzuhalten.

Der Roman spielt in zwei Erzählebenen, die erste Ebene beginnt im Juli 1942 und die zweite im Mai 2002. Die Hauptfiguren sind Sarah Starzynski, ein jüdisches 10-jähriges Mädchen und Julia Jarmond, eine amerikanische Journalistin, die seit 25 Jahren in Paris lebt und mit einem Pariser verheiratet ist.

Sarah erlebte einen unbeschwerten Sommer mit ihren Eltern Rywka und Wladyslaw und ihrem kleinen Bruder, bis am einem Julitag im Jahr 1942 Polizisten vor ihrer Wohnungstür stehen und sie verhaften wollen. Sie ist vollkommen überrascht und erschrocken, aber trotzdem so besonnen, dass sie ihren kleinen Bruder noch zu retten versucht, in dem sie ihn in einen Wandschrank einsperrt, der als Spielversteck eingesetzt wurde. Sie versorgt ihn noch mit Wasser, tröstet ihn und verspricht ihm, ihn so schnell als möglich hier wieder herauszuholen. Den Schlüssel zu diesem Schrank hält sie ab diesem Zeitpunkt in ihrer Jackentasche fest. Sie wird nach entsetzlichen Tagen im Vel d’Hiv mit ihren Eltern in ein Zwischenlager gebracht, aus dem sie – getrieben von der Sorge um ihren kleinen Bruder und den Wunsch ihn aus dem Schrank zu befreien – jedoch fliehen kann. Sie findet Unterschlupf in der Nähe von Orléans in einem Bauernhof, deren Besitzer – ein älteres Ehepaar –  mehr als mutig und entschlossen sind, Sarah zu helfen. Unter höchstem Risiko gelingt es ihnen mit Sarah nach Paris zu fahren und ihre ehemalige Wohnung aufzusuchen, um endlich ihren Bruder in die Arme schliessen zu können. Doch inzwischen wohnt in diesem Appartement eine andere nicht jüdische französische Familie. Sarah ist erstaunt, stürmt durch die Wohnung, den Schlüssel immer noch fest in der Hand, öffnet den Schrank und findet ihren Bruder – verdurstet. Diese Situation ist sowohl für Sarah, als auch für die dort wohnende Familie, eine entsetzliche Tragödie. Und sie wird es immer bleiben…

Julia Jarmond, amerikanische Journalistin, verheiratet mit dem eher sehr egozentrischen und schwierigen Betrand Tézac, lebt seit 25 Jahren in Paris. Ihre Ehe ist auch nicht ganz unbelastet, noch dazu möchte ihr Mann unbedingt in die Wohnung seiner Grossmutter – genannt Mamé – einziehen, die sich im Marais-Viertel – dem jüdischen Zentrum in Paris – befindet. Sie ist davon nicht sehr überzeugt, obwohl sie Mamé als einziges Mitglied der Schwiegerfamilie sehr mag. Denn sie fühlt  sich immer noch nicht richtig zugehörig und bleibt auch für die Familie ihres Mannes immer die „L’Américaine“. Sie arbeitet bei einer kleinen Zeitung, die hauptsächlich von in Paris lebenden Amerikaner gelesen wird. Anlässlich des 60. Jahrestages des Vélodrome d’Hiver bekommt sie einen Auftrag, darüber einen Artikel zu schreiben. Bei den Recherchen entdeckt sie, dass diese Wohnung im Marais-Viertel, genau die Wohnung war, in der Sarah, ihr kleiner Bruder und ihre Eltern gelebt haben. Und diese Tragödie wurde während ihrer Ehe mit Betrand nicht ein einziges Mal angesprochen. Julia spürt diesem Familiengeheimnis immer mehr nach. Sie stösst auf Erkenntnisse, die ihr Leben zwar komplett aus dem Gleichgewicht bringen. Doch sie sorgt dafür, dass diese Erlebnisse zum ersten Mal ausgesprochen werden und diese Tragödie auf gar keinen Fall in Vergessenheit gerät….

Das Buch ist absolut kein Thriller, aber es hat seine Sogkraft!. Tatiana de Rosnay kann durch die parallel verlaufenden Zeitebenen – welche am Ende zusammenfinden –  eine unglaublich intensive Spannung erzeugen, dass es für den Leser fast unmöglich wird, das Buch aus der Hand zu nehmen. Ihre Sprache ist ungekünstelt, direkt und sehr klar. „Sarahs Schlüssel“ ist so berührend und erschreckend, dass man sich nicht wundern muss, wenn beim Lesen einem ganz unbewusst die Augen feucht werden und sich teilweise ein beklemmendes Gefühl einstellt. Dieser Roman wirkt nicht nur sehr lange nach, sondern fordert dazu auf, sich bewusst zu erinnern und niemals zu vergessen!