Georg Christoph Lichtenberg – Zitat

„Eine seltsamere Ware als Bücher gibt es wohl schwerlich in der Welt. Von Leuten gedruckt, die sie nicht verstehen; von Leuten verkauft, die sie nicht verstehen; gebunden, rezensiert und gelesen von Leuten, die sie nicht verstehen; und nun gar geschrieben von Leuten, die sie nicht verstehen.“

Durchgeblättert – „Do You Read Me“ – Besondere Buchläden und ihre Geschichten

Philippe Djian hatte bereits klar erkannt: „Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“

Und um dieses kaum zu übertreffende Zitat noch konkreter zu erleben, sollte es im wahrsten Sinne des Wortes Bücher auf Rezept geben, die das Leben herausfordern, hinterfragen und bereichern. Ja und genau so ein Buch hat gerade das „Licht der Welt“ erblickt, einer ganz besonderen Welt – der Welt der Buchläden. 

Buchhandlungen sind Orte, die Fragen zu lassen, in denen man Antworten findet, die zu literarischen Reisen einladen, die Informationen und Kultur vermitteln, die Möglichkeiten des Austausches bieten, die Ablenkung nicht nur vortäuschen und die Aktualität mit Beständigkeit elegant verknüpfen.

„Do You Read Me“, ein wunderschön gestalteter Bildband über genau diese Buch-Orte, ist zur Zeit das interessanteste und abwechslungsreichste Buch über Buchläden und ihre dazugehörigen unerlässlich spannenden Geschichten. Der Titel des Buches wurde der Buchhandlung „Do You Read me“ aus Berlin „entliehen“, die ein eher ungewöhnliches Buchhandlungskonzept vorweist, welches Magazinen aus aller Welt mehr Bedeutung in Auswahl und Platz schenkt, als dem zusätzlich angebotenen aussergewöhnlichen Buchsortiment.

Über 60 Buchhandlungen bzw. Buchläden werden in diesem Werk mit grandiosem Bildmaterial und fein kuratierten Texten vorgestellt. Die Auswahl ist absolut international, neben bereits auch berühmt bekannten Buchhandlungen wie „Shakespeare & Company“ in Paris oder der „Boekhandel Dominicanen“ in Maastricht, entdecken wir bezaubernde und atemberaubende Buch-Paradiese und Buch-Kleinode, die ihresgleichen suchen.

Da gibt es beispielsweise ein charmant in Türkisfarben gehaltenes Buchladen-Café in Istanbul oder ein spektakuläres Buchhandlungskonzept in Mexiko-Stadt, bei der im jüngsten Buchhandlungprojekt „Cafebreria El Péndulo“ eine riesige Palme mitten in der Buchhandlung steht und aus deren Dach ragen darf. In Island wird ein entzückendes kleines Antiquariat „Bokin“ zum Kulturbotschafter. Die USA zeigt eine Fülle von faszinierenden unabhängigen Buchhandlungen, die mehr als klassisches Engagement beweisen, wie zum Beispiel der Initiator „Michael Seidenberg“ seines vollkommen „geheimen“ Buchladens – „Brazenhead Books“ in New York City -, den er aus und mit seinem eigenen Appartement gemacht hatte. Aber auch eine schwimmende Buchhandlung mit dem Titel „The Book Barge“, die am Canal du Nivernais in Frankreich liegt, sorgt für Erstaunen.

Richtig spektakulär darf es natürlich auch sein, vor allem wenn man die Bilder der Buchhandlung „WUGUAN BOOKS“ aus Kaohsiung (Taiwan) bewundert, denn in dieser Buchhandlung werden ungefähr 400 Bücher in absoluter Dunkelheit mit jeweils eigenem Licht präsentiert. Oder vollkommen unverwechselbar, wenn man sich die Buchhandlung „Morioka Shoten“ in Tokio ansieht. Hier wird nur ein einziges Buch zum Verkauf angeboten!

Die vielfältige Auswahl an Buchläden in diesem Werk ist beeindruckend, inspirierend und motivierend zugleich. Die hier präsentierten Buchhandlungen sind auf verschiedenste Weise und in  ihrer Kombination inhaltlich, aber auch gestalterisch und architektonisch die wundervollsten „Meisterwerke“ in Punkto Lese-Paradiese!

Kaum verwunderlich, dass bereits in einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung dieses Buch als „Verneigung vor einer fantastischen Institution: der Buchhandlung“ bezeichnet wird. Es könnte sogar noch mehr sein als „nur“ die Verneigung vor der Institution Buchhandlung. 

Selbstverständlich ist es auch die Verneigung vor den buch-begeisterten Köpfen, kreativen Initiatoren und kompetenten Buchhändlern, die diese Lese-Orte mit gebührendem Engagement und grosser Leidenschaft geschaffen haben und weiterhin alles dafür tun, sie langfristig anziehend und lebendig zu halten. Doch vergessen wir nicht den Leser, Buchliebhaber und potentiellen Kunden, der genau diese Buchläden regelmässig frequentiert, schätzt, liebt, verehrt und belebt. Und genau diesem Bücherfreund gebührt gleichwohl eine eben so grosse Verneigung, die man in der aktuellen Zeit auf keinem Fall unerwähnt lassen sollte!

„Do You Read Me“ ist ein grandioses „Sammelsurium“ der unterschiedlichsten Buchhandlungen jedoch mit einer grossen Gemeinsamkeit: diese Buchläden geben eine Art „Zuhause“, erfüllen Wünsche und schenken uns – wie bereits Mark Forsyth in seinem Essay erläuterte – eine besondere und unverwechselbare Art des Glücks, nämlich „das große Glück, das zu finden, wonach man gar nicht gesucht hat“!

Durchgelesen – „Das Papierhaus“ v. Carlos Maria Dominguez

Bücher haben Macht! Sie können das Leben bestimmen, verändern und massgeblich beeinflussen, selbst dann, wenn wir es als Leser gar nicht bewusst zulassen wollen. Und genau über diese doch eher unterschätzten „Charakterzüge“ des Buches berichtet uns Carlos Maria Dominguez in seiner Erzählung „Das Papierhaus“.

Carlos Maria Dominguez, geboren 1955 in Buenos Aires, gehört zu den wichtigsten und berühmtesten Schriftstellern Lateinamerikas und hat laut der Zeitung „Der Welt“ mit seinem Romanwerk „Literatur von Weltrang“ geschaffen. Anfangs hat er für verschiedene Zeitungen als auch für die Kulturbeilage von „El Pais“ geschrieben. Inzwischen wurden von Carlo Maria Dominguez mehr als 20 Bücher veröffentlicht. In Deutschland wurde er mit seinem kleinen feinen Werk „Das Papierhaus“ bekannt, das unter dem Originaltitel „La casa de papel“ 2002 erschienen ist und zum ersten Mal in deutscher Übersetzung 2004 in Deutschland vorgestellt wurde. Jetzt nach 10 Jahren ist dieses faszinierende Buch nochmals neu und aktualisiert aufgelegt und mit den wundervollen Illustrationen von Jörg Hülsmann ausserordentlich feinsinnig und beeindruckend kunstvoll gestaltet worden.

Die Geschichte wird von einem jungen Literaturdozenten der Universität Cambridge in der Ich-Form erzählt und spielt in Südamerika. Eine junge Kollegin von ihm – Bluma Lennon – wird, als sie mehr als vertieft in einem Gedichtband von Emily Dickinson liest, von einem Auto erfasst und dabei tödlich verletzt. Bei der Beerdigung erfährt man nicht nur etwas über ihre brillante Universitätslaufbahn, sondern auch über ihre intensive Nähe zur Literatur, die doch auch etwas überspitzt von einem anderen Kollegen dargestellt wird:

« „ Bluma hat ihr Leben der Literatur geweiht, ohne sich vorzustellen, dass sie durch diese ums Leben kommen würde.“ »

Doch letztendlich sollte man nicht vergessen, dass – auch wenn Bücher das Schicksal nachhaltig verändern können – sie ein Auto überfahren hat und nicht der Gedichtband.

Nach diesem tragischen Vorfall fällt eines Tages dem Ich-Erzähler ein Päckchen in die Hand, frankiert mit Briefmarken aus Uruguay, was an Bluma adressiert war. Beim Öffnen entdeckt er « das zerlesene alte Exemplar von Joseph Conrads Roman Die Schattenlinie ». Das Buch war vollkommen verdreckt und verklebt mit Zementresten. Beim Aufklappen sieht er eine Widmung von Bluma:

« „Für Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey: ein Roman, der mich von Flughafen zu Flughafen begleitet hat. Es tut mir leid, aber in meiner Seele wohnt eine Hexe und ich habe es sofort gewusst: Egal was Du tust, Du wirst mich nie überraschen können. 8. Juni 1996.“ »

Der Ich-Erzähler startet seine Nachforschungen, hinsichtlich dieses mysteriösen Mannes. Nach einiger Zeit und mit Hilfe verschiedenster Kontakte wird das Geheimnis gelüftet: es handelt sich um einen bibliophilen Mann namens Carlos Brauer, der inzwischen in eine eher verlassene Gegend am Atlantischen Ozean gezogen ist. Der Ich-Erzähler entschliesst sich nach Buenos Aires zu reisen, um diesen Carlos ausfindig zu machen. Von dort aus fährt er mit dem Schiff nach Montevideo und sucht den Inhaber einer Buchhandlung mit angeschlossenem grossen Antiquariat – Jorge Dinarli – auf, der mit Carlos beruflich in Kontakt stand. Dinarli empfiehlt dem Literaturdozenten aus Cambridge, doch am besten mit Brauers Freund Augustin Delgado zu sprechen.

Das Treffen mit Delgado ist ein wahres Ereignis. Der Ich-Erzähler wird in Delgados grandioser Wohnung, die einer gigantischen Bibliothek (ca. 18.000 Bände) gleicht, empfangen und somit beginnt sofort ein Gespräch über die Leidenschaft für Bücher, aber auch die Kunst und Schwierigkeit mit Büchern das Leben zu gestalten. Delgado berichtet von seiner Art mit Büchern umzugehen, aber vor allem auch von der Besessenheit, jedes Buch besitzen zu wollen, das hauptsächlich bei Carlos Brauer der Fall war. Bei diesen Diskussionen zwischen Delgado und Brauer, ging es aber auch um das Thema „Anmerkungen“, die man während des Lesens vornehmen darf, soll oder kann. Brauer war da sehr konsequent:

« „Ich vögele mit jedem Buch, keine Markierung bedeutet für mich kein Orgasmus.“ »

Für Delgado war dies absolut keine Option, ganz im Gegenteil er war für das eher unberührte und jungfräulich bleibende Buch. Aber nicht nur dieses Thema auch die Problematik der Ordnung von Büchern war vor allem für Brauer ein sehr schwerwiegendes und kaum zu lösendes Problem:

« „…wie mühselig es sei, die zerstrittenen Autoren in verschiedenen Regalfächern unterzubringen.“ »

Delgado wurde sich immer mehr bewusst, dass diese Besessenheit in puncto Bücher, doch mehr und mehr zu einer geistigen Störung bei Brauer mutierte und es kaum abzusehen war, wie sich das alles weiter entwickeln würde…

Bereits während der Lektüre dieser so inspirierenden Geschichte, denkt man an das kleine und trotzdem sehr imposante Werk von Gustave Flaubert „Bücherwahn“, das die negativen Konsequenzen einer sogenannten Bibliomanie sehr deutlich beschreibt. Doch „Das Papierhaus“ ist weniger eine Kriminalerzählung, die ja Flauberts Werk zu Grunde liegt, sondern eher ein sehr persönliches und charmantes Prosastück unter anderem über die Problematik, der kaum zu bändigenden und vor allem trotzdem zu besitzen wollenden Menge an Büchern. Welcher Leser stellt sich nicht oft die Frage, wie ordne ich meine Bibliothek. Heutzutage könnte man natürlich sofort antworten, gar nicht! Kaufen Sie sich einen E-Reader und alle Probleme sind gelöst. Das mag vielleicht für den einen oder anderen Leser gelten und funktionieren, aber ein bibliophiler Mensch möchte seine Bücher besitzen, an ihnen riechen, das Papier spüren und sich an einer realen Bibliothek sein Leben lang erfreuen.

Carlos Maria Dominguez zeigt hier auf sehr stimmungsvolle, aber durchaus intellektuell literarische Weise, wie das Schicksal durch Bücher nicht nur verändert und eingeschränkt, aber vor allem auch bereichert werden kann, selbst dann wenn man bei Umzügen ab hundert gepackten Kiste jeden weiteren Bücherkarton am Liebsten verbrennen möchte. Bücher sind die Basis für jede Art von Bibliothek und deshalb sollte man nie den Satz von Delgado aus dieser mehr als zeitlosen Erzählung vergessen:

« „Wer sich eine Bibliothek aufbaut, der baut sich ein ganzes Leben auf. Sie ist nämlich nie die Summe ihrer einzelnen Exemplare.“»

Dieses eindrucksvolle Zitat lädt ein über sein eigenes Leben, ob mit oder ohne kleiner bzw. grosser Bibliothek nachzudenken. Und es zeigt uns, wie wichtig die Liebe zu Büchern doch sein kann. Carlos Maria Dominguez kann mit seiner wunderschön bildhaften Sprache all dies bereits spielerisch und trotzdem unaufdringlich empathisch erzählen. Doch die mehr als faszinierenden Illustrationen von Jörg Hülsmann in dieser neu aufgelegten Ausgabe und natürlich auch der ebenso bibliophil ästhetisch und kunstreich gestaltete Buchumschlag, verstärken die betörende und magische Anziehungskraft nicht nur hinsichtlich dieses Werks sondern Büchern gegenüber ganz allgemein, der Sie sich, verehrter Leser, bestimmt niemals entziehen wollen und können!

Durchgelesen – „84 Charing Cross Road“ v. Helene Hanff

Bücher sind wahrlich gute Freunde, aber auch durch Bücher können wunderbare Freundschaften entstehen. Und dass dies über Kontinente hinweg auch funktionieren kann, zeigt uns auf äusserst zauberhafte Weise Helene Hanff mit ihrem Briefwechsel „84 Charing Cross Road“, der zum ersten Mal 1970 in New York erschienen ist und nun aktuell in der grandiosen Übersetzung von Rainer Moritz wieder aufgelegt wurde.

Helene Hanff – geboren 1916 in Philadelphia und gestorben 1997 in New York – war eine amerikanische Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie arbeitete nach ihrem abgebrochenen Englischstudium als Schreibkraft, Lektorin und Drehbuchautorin für Fernsehserien und Theater. Bekannt wurde sie hauptsächlich durch ihren Briefwechsel mit einem Buchantiquariat in London, den sie genauestens dokumentiert hatte. Daraus entstand dann der Bestseller „84 Charing Cross Road“, der sogar 1986 mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt wurde. In Deutschland wurde dieses Werk zum ersten Mal 2002 veröffentlicht.

„84 Charing Cross Road“ ist ein ganz besonderer Briefwechsel, ja vielleicht sogar eine Art kleiner biographischer „Briefroman“, der am 5. Oktober 1949 in New York beginnt. Helene Hanff ist nicht nur aus beruflichen, sondern auch aus privatem Interesse auf der Suche nach wichtiger Literatur, welche nach dem zweiten Weltkrieg nicht günstig und einfach zu finden war. Sie entdeckte in einer Zeitungsannonce per Zufall das Londoner Antiquariat Marks & Co. in der Charing Cross Road, Nummer 84. Das war im wahrsten Sinne ihre Rettung und somit schreibt sie an diese englische Buchhandlung, die besonders auf Bücher spezialisiert ist, welche bereits vergriffen bzw. nicht mehr lieferbar sind. Sie möchte lieber günstige, aber dafür schöne Buchausgaben erwerben, da sie sonst bei Barnes & Noble auf neuwertige „Schulausgaben“ zurückgreifen müsste. Diesem ersten Brief fügt sie eine Bücherliste bei und begrenzt ihr Budget auf 5 Dollar pro Buch.

Nach zwanzig Tagen erhält Helene ihre erste Antwort und zwei ihrer Buchanfragen konnten damit gleich erfolgreich ausgeführt werden, so dass Helene am 3. November 1949 ihre Freude über diese wunderbaren Bücher an Marks & Co. weitergeben konnte:

„Sehr geehrte Herren!
Die Bücher sind wohlbehalten angekommen; die Stevenson-Ausgabe ist so schön, dass sie mein Bücherregal aus Orangenkisten beschämt. Ich fürchte mich fast davor, solche schweren cremefarbenen Velinseiten anzufassen. Da ich an das kalte weisse Papier und an die steifen Pappumschläge amerikanischer gewöhnt bin, wusste ich gar nicht, was es für eine Freude sein kann, ein Buch zu berühren. …“

Ja und so nimmt der anfangs doch erst noch eher sehr geschäftliche Briefwechsel seinen Lauf. Helene legt bei jedem Brief und einer neuen Bestellung das Geld bar anbei. Doch Helene lässt auch dem Antiquariat ihren Unmut spüren, wenn sie ein Buch erhält, das nun nicht im Geringsten ihren Anforderungen entspricht.

Helene Hanffs Freunde und Nachbarn erzählen ihr von der Rationierung der Lebensmittel in England, was sie kurzer Hand dazu veranlasst über eine britische Firma in Dänemark ein kulinarisches Weihnachtspaket an Marks & Co. zu senden. Bis dahin war der Unterzeichner aller Briefe aus dem Antiquariat ein „FPD“, obwohl die Buchhandlung zwei Eigentümer hatte, ein Herr Marks und ein Herr Cohen. Ja und dieses zwei Herren sind doch so grosszügig, dass das wunderbare Geschenk von Helene unter den Mitarbeitern aufgeteilt werden konnte, was auch Frank Doel, alias FPD, im Namen der Belegschaft Helene brieflich mitteilte.

Ja und so entwickelt sich ganz langsam aus der zu Beginn doch sehr geschäftlichen Beziehung eine wahre Brieffreundschaft, nicht nur zwischen Frank Doel, sondern auch mit einigen anderen Kollegen aus dem Antiquariat, die alle mehr als begeistert sind von Helene Hanffs Grosszügigkeit, die sich durch regelmässige Geschenkpakete sei es zu Ostern, Weihnachten oder auch zwischendurch erkennen lässt. Unabhängig davon erfahren wir in den Briefen neben den Ereignissen aus der Familie Doel, ein wenig über die Thronbesteigung von Elisabeth II. und über die Zeit der 50ziger und 60ziger Jahre in England. In all diesen Briefen, gibt es immer wieder ein wichtiges Thema und das ist der Besuch von Helene Hanff in London bei Marks & Co., den alle Kollegen so sehr herbeisehnten. Doch leider kommen ständig irgendwelche Probleme dazwischen, sei es beruflicher, finanzieller oder gesundheitlicher Natur. Somit kann sich Helene nur über Freunde, die diesen Laden im September 1951 besucht haben, berichten lassen:

„Das ist der reizendste alte Laden, gerade so, als wäre er einem Dickens entsprungen. Du würdest darüber völlig aus dem Häuschen geraten. …; man riecht den Laden, bevor man ihn sieht. Es ist ein herrlicher Geruch, den ich nicht einfach in Worte fassen kann, doch er verbindet den Geruch von Most, Staub und Alter mit dem von Holzregalen und Parkett.“

Die Brieffreundschaft wird noch lange fortgesetzt nicht nur mit Worten, sondern inzwischen auch mit Dankesgaben der Belegschaft von Marks & Co. an Helene, bis zum plötzlichen Ende aufgrund des vollkommen überraschenden Tods von Frank Doel 1969.

„84 Charing Cross Road“ ist mehr als eine Hymne auf die Literatur und Freundschaft. Es ist ein sehr persönlicher und origineller Austausch zwischen einer sehr skurril sympathischen Amerikanerin und einem äusserst kundenorientierten Londoner Antiquariat über gute Bücher, über den Wert von Büchern und über die Freude und Lust am Lesen. Helene Hanff schwärmt von schönen Bindungen, feinem Papier, lässt sich nicht mit einfachen Ausgaben abspeisen, sondern ist immer auf der Suche nach dem Besonderen. Und genau dabei hilft ihnen diese geniale Belegschaft des Antiquariats Marks & Co., allen voran Frank Doel. Man spürt, dass Frank Doel eben nicht nur ein klassischer Buchhändler ist, nein er ist mehr als das: er ist gebildet, belesen, engagiert und von einer bemerkenswert englischen Höflichkeit, die mehr als angenehm und faszinierend ist. Aber auch Helene Hanff mit ihrer manchmal etwas ruppigen Art, aber trotzdem das Herz am richtigen Fleck, ist eine grossartige Frau, für die Bücher und Lesen nicht nur die Grundlagen ihres Berufes, sondern auch ihres Lebens sind. Dieser wunder-bare Briefwechsel sprüht nur so vor Literaturfreude, Herzenswärme und höchster Wertschätzung, die trotz dieser grossen räumlichen Entfernung so nah und greifbar ist.

Verehrter Leser, versäumen Sie keinesfalls dieses literarische Juwel und erfahren Sie auf humorvolle und charmant melancholische Weise nicht nur die Liebe zu Büchern und die unendliche Lust am Lesen, sondern „schmökern“ Sie quasi gemeinsam mit Helene Hanff in diesem ganz besonders heimeligen Antiquariat in London. Und vielleicht entdecken Sie dadurch nicht nur neue Literatur, sondern erfahren dabei auch den unverwechselbaren Charme und die zeitlos anhaltend wichtige Bedeutung Ihres ganz persönlichen Buchhändlers vor Ort!

Durchgeblättert – „Die Nachtbibliothek“ v. Audrey Niffenegger

Wäre es nicht ein Traum als Bibliothekar in seiner eigenen Privatbibliothek zu arbeiten ? Vielleicht ist es gar kein « Traum » mehr, sondern bereits Realität und man hat ganz unbewusst diesen aufregenden « Beruf » erwählt durch all die vielen gelesenen Bücher, die inzwischen einen wichtigen Platz in unserem Leben eingenommen haben. Und genau auf Spuren dieses wahrlich erfüllenden « Traumberufes » führt uns Audrey Niffenegger in ihrer faszinierenden Graphic Novel mit dem sehr geheimnisvollen Titel « Die Nachtbibliothek ».

Audrey Niffenegger, geboren 1963 in South Haven (Michigan), ist Professorin für Inter-disziplinäre Künste zwischen Buch und Bild am Columbia College in Chicago. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Zusammenführung von Bild und Texten im Hinblick auf Comics und Intallationen. Seit 1987 werden ihre Bilder in der Galerie Printworks in Chicago ausgestellt. Ihr Kunstwerk ist – aus ihrer eigenen Sicht – inspiriert durch Künstler wie zum Beispiel Max Ernst, Käthe Kollwitz, Horst Janssen und Hans Bellmer. In Deutschland wurde sie berühmt durch Ihren Roman « Die Frau des Zeitreisenden » (2003). Aktuell dürfen wir uns nun über ein ganz besonderes Werk freuen, das auch die künstlerische Seite von Audrey Niffenegger mehr als verdeutlicht. Dank der Übersetzung von Brigitte Jakobeit ist nun ihre erste Graphic Novel « Die Nachtbibliothek » in Deutsch erschienen, welche bereits 2010 in der britischen Tageszeitung The Guardian vorabgedruckt wurde.

Die Geschichte spielt in Chicago. Alexandra, die Ich-Erzählerin, läuft nach einem Streit mit ihrem Freund nachts durch die Strassen und entdeckt ganz plötzlich ein Wohnmobil, aus dem Musik von Bob Marley ertönt. Die Tür steht offen, Alexandra ist neugierig und wirft einen Blick in das Gefährt. Überrascht lernt sie einen sehr distinguierten Herrn kennen, der sich mit Mr. Openshaw vorstellt. Er gibt ihr diskret ein Willkommenszeichen, in das Mobil einzusteigen, welches sich als Bibliothek entpuppt :

« Von innen wirkte es grösser – viel grösser. Das Licht war gedämpft und angenehm. Es roch nach altem, trockenem Papier, mit einem Hauch von nassem Hund, was ich mag. Ich schaute mich nach dem Bibliothekar um. Er las Zeitung. »

Alexandra beginnt die Regale zu betrachten und stellt mit grossem Erstaunen fest, dass alle Bücher, die sie hier findet, einschliesslich ihres persönliches Tagebuchs, ihre Bücher waren, die sie in ihrem Leben bis jetzt gelesen hatte, aber hier mit dem Stempel « Zentralbibliothek » gekennzeichnet waren. Mr. Openshaw bestätigt dies :

« Nun die Bibliothek in ihrer Gesamtheit enthält alles Gedruckte, das jeder Mensch zu seinen Lebzeiten einmal gelesen hat…Wir sind also auf alle Benutzer vorbereitet. »

Alexandra war fasziniert und irritiert zur gleichen Zeit und hätte sich am Liebsten eines ihrer Bücher ausgeliehen, doch dies war nicht möglich. Sie verliess am frühen Morgen das mysteriöse « Buchmobil », das nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang geöffnet hatte, ging zu sich nach Hause und machte sich Gedanken über ihre eigene Bibliothek, ihre Bücher, die sie nun zum ersten Mal so in ihrer Gesamtheit vor Augen hatte. War es das, was sie von sich als Leserin erwartet hatte? Würde sie all diese Bücher wieder lesen ?

Am nächsten Tag wollte Alexandra  Mr. Openshaw wieder aufsuchen, doch leider vergebens. Ab diesem Zeitpunkt verbrachte sie jede Minute mit Lektüre, denn sie wollte Mr. Openshaw und sich selbst beeindrucken. Und nach sage und schreibe neun Jahren trifft sie ganz zufällig wieder auf die fahrende « Bibliothek ». Mr. Openshaw erwartete sie bereits. Er lädt sie ein, mit ihm einen Tee zu trinken. Währenddessen stellt Alexandra fest, das sich ihre « Bibliothek » um ein vielfaches vergrössert hatte. Sie war tief beeindruckt von ihrem eigenen « Lesewerk » und wollte nichts lieber als die Assistentin von Mr. Openshaw werden und in der « Zentralbibliothek » arbeiten, was zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht möglich war. Aus diesem Grund folgte sie dem Rat von Mr. Openshaw, zuerst eine richtige Bibliothekarin zu werden…

Audrey Niffenegger erzählt mit Worten, aber vor allem auch mit ihren wundervollen Bildern eine ganz besondere Geschichte, vielleicht eher eine Art Gleichnis, das den Leser sehr geschickt und raffniert darauf hinweist, wie gefährlich es werden könnte, wenn man sich nur noch dem Lesen und seinen Büchern widmet. Alexandra hat eine sehr starke Buch-Sehnsucht, die sie von einer eher jungen und unbeschwerten Frau, zu einer doch eher grau gekleideten und zu ernsthaft wirkenden Bibliothekarin verwandelt, was Audrey Niffenegger durch ihre perfekte Zeichen-perspektive und sehr naiv und bunt angelegte Maltechnik grandios umsetzt. Somit stellt sich die Frage, ob es wirklich richtig ist, in seinem Leben kostbare Zeit grundsätzlich Büchern zu widmen, und wenn ja, welche Werke es verdienen würden, das eigentliche Leben für sie zu vernachlässigen ?

« Die Nachtbibliothek » ist ein ganz besonderes Buch, es ist ein sehr aussergewöhnliches und elegantes « Wort-Kunst-Werk », das zwar durch seine klaren Farben und Formen besticht, aber trotz des « bunten » Lebens in der Bücherwelt durch den schwarzen Rahmen und Bildhinter-grund eine gewisse mystische Erdung findet. Diese Graphic Novel ist ein wunderschönes « Bilderbuch » für Erwachsene, welches vor allem durch sein ungewöhnliches und vollkommen unerwartetes « Happy End » viele Fragen offen lässt und der Leser dadurch immer wieder von Neuem verführt wird, diese geheimnisumwobene « Bibliothek »  zu betreten.

« Die Nachtbibliothek » fühlt sich an wie eine Lesetraumwelt zwischen zwei Buchdeckeln, gefüllt mit subtil versteckten Lese- und Lebens-Botschaften und gekrönt durch eine Bildermagie, die jeden Buchliebhaber, Bibliomanen und Leser auf besonders intensive und nachhaltige Weise beglücken wird !

Durchgeblättert – „Vom Glück mit Büchern zu leben“ v. Stefanie von Wietersheim

Mit Büchern zu leben, sollte Glück bedeuten, oder Glück verströmen. Auch dann wenn wir oft über Platz- und Zeitmangel in Punkto Büchern sprechen, ist es doch ein unbeschreiblich schönes Gefühl, umgeben von Büchern sein Leben gestalten und geniessen zu können. Und genau diesem Gefühl sind Stefanie von Wietersheim und Claudia von Boch nachgegangen, in dem sie zwanzig ganz unterschiedliche Persönlichkeiten in ihrem Zuhause und somit auch bei ihren Büchern besucht haben.

Stefanie von Wietersheim hat in Passau und Tours Kulturwissenschaften studiert und arbeitet inzwischen als freie Autorin in München, Paris und Toulouse. Ihre Schwerpunkte liegen bei Kultur, Interiors und Reisen. Claudia von Boch ist als freiberufliche Fotografin für verschiedene Projekte und Magazine tätig und hat ihren Focus auf Interiors, Gärten und Reiseportagen gelegt. Jetzt haben sich die zwei Frauen zu einem ganz besonderen Buchprojekt vereint, das sich mit der Liebe zu Büchern, dem daraus entstehenden Glück und noch vielem mehr beschäftigt.

In diesem wirklich fantastisch gestalteten Buch werden wir Leser so en passant für einen gewissen und ganz bestimmten Moment eingeladen, die bibliophilen Oasen von zwanzig verschiedenen Menschen, die sowohl auf irgendeine Weise mit Büchern arbeiten oder sie als Ausgleich zu ihrem Beruf erleben, kennenzulernen. Jeder dieser « Buchmenschen » wird in Bild und Text  vorgestellt. Es werden die Hintergründe der Buchleidenschaft erläutert und berufliche oder private Zusammenhänge erklärt. Ergänzt durch grandiose Photographien sei es von den Privatbibliotheken, den Menschen selbst beim Lesen oder von den buchreichen bzw. buchfreien Lebensräumen an sich, haben wir als Leser beim Betrachten dieser Bilder und beim Lesen der dazugehörigen Texte das Gefühl, als wären wir hautnah mit dabei. Am Ende jedes dieser Porträts erfahren wir noch ganz persönliche Leseerlebnisse, die unter anderem, wie « mein schönster erster Satz ; ein Buch, das mein Leben verändert hat ; ein Klassiker, der mich zu tode langweilte ; oder auf meinem Nachttisch liegt », ganz konkrete Details in Punkto Leben und Glück mit bzw. durch Büchern zum Vorschein bringen, wie folgende Beispiele zeigen :

So ist es wunderbar festzustellen, dass sich Felicitas von Lovenberg (FAZ-Chefredakteurin Literatur) in schwierigen Momenten sich Hilfe bei den Gedichten von Emily Dickinson holt.

Johanna Rachinger (Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek) zieht dagegen für etwas melancholischen Stunden « Anna Karenina » von Leo Tolstoi zu Rate.

Blanca Bernheimer (Galeristin) hat ihren schönsten letzten Satz bei Eichendorff in dem Gedicht « Mondnacht » gefunden :
« Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus ».

Die Buchhändlerin Regina Moths hätte folgendes Buch gerne geschrieben : « Ralf Vollmann Romanverführer. Das ist meine liebste Berufsbezeichnung, aber ich möchte nicht wirklich Bücher schreiben. Ich möchte sie am liebsten palettenweise verkaufen. »

Gleich zwei Männer in dieser Runde, Oliver Jahn (Journalist und Chefredakteur von AD) und Ivo Wessel (Kunstsammler) sind sich in Punkto « mein schönster erster Satz » einig : « Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen » (Auf Suche nach der verlorenen Zeit, von Marcel Proust)

Ja und Wolfram Siebeck (Gourmetkritiker) hat dagegen mit Proust so seine Schwierigkeiten und ordnet die « Suche nach der verlorenen Zeit » eher unter « Klassiker, die mich zu tode langweilen » ein.

Unterschiedlicher könnten die Antworten und Buchempfehlungen für bestimmte Lebenssituationen gar nicht sein. Und genau das macht den Charme dieses wundervollen Buches aus. Es zeigt Menschen, wie sie mit ihren Büchern in ihren Wohnungen bzw. Häusern leben, sie erleben und zu ihrem ganz persönlichen Leben erwecken. Hier geht es weniger um das Wohnen bzw. um die innenarchitektonisch gestalteten Privatbibliotheken, wobei diese natürlich trotzdem wunderbar anzusehen sind, sondern hier geht es um das Leben mit dem gedruckten Werk und seinen Autoren. Hier wird das Glück mit Büchern zelebriert, hier wird die aufrechte Liebe zum Buch und zur Literatur, welche auch immer es sein mag, auf erzählerisch äusserst stilvolle, empathische und in Punkto hochwertigen Bildmaterial photokünstlerische Weise vermittelt.

Spätestens nach der Lektüre und dem Durchblättern dieses auch herstellerisch sehr wertvollen Text- und Bildbandes betrachtet man seine Bibliothek bzw. Bücherregale von einer ganz neuen Seite, überlegt sich Antworten auf die neugierig machenden Fragen und kommt letztendlich zu dem Entschluss, dass ein Leben mit und unter Büchern wahres Glück bedeutet. Und damit der Nachschub an helfenden, tröstenden, beglückenden und bereichernden Büchern nie ausgehen mag, findet man als kleinen krönenden Abschluss auf den letzten Seiten dieses Prachtbandes noch die Auflistung der Lieblingsbuchhandlungen der vorgestellten Protagonisten.

« Vom Glück mit Büchern zu leben » ist ein traumhaft schönes Buch, das man nicht verschenken, sondern sich als leidenschaftlicher Leser, Buchliebhaber und Literaturfreund  unbedingt selbst zum Geschenk machen sollte. Es verführt in neue buchaffine Lebenswelten, lässt den Leser interessante Literaturempfehlungen entdecken und regt an, sein dauerhaftes Glück nicht irgendwo zu suchen, sondern zwischen zwei schlichten kartonierten oder auch edel in Leinen gebundenen Buchdeckeln !

Durchgeblättert – „Stadt der Bücher“ v. Ilija Trojanow u. Anja Bohnhof

Eine Stadt der Bücher ist doch der Traum für jeden bibliophilen Menschen. Doch wo finden wir diese Orte, an denen Bücher zu den wichtigsten « Einwohnern » zählen? Es gibt sie verteilt auf der ganzen Welt und teilweise sind diese Orte eher klein und unscheinbar. Das erste Bücherdorf entstand 1961 in Wales : Haye-on-Wye. Aber auch in Frankreich gibt es einen entzückenden Ort – Charité-sur-Loire – mit erstaunlich vielen Buchhandlungen, der sich Stadt der Bücher nennt. Doch Trojanows « Stadt der Bücher » liegt nicht in Europa, sondern in Indien, genauer in einem gerade mal zwei Quadratkilometer grossen « Stadtteil » von Kalkutta.

Ilija Trojanow – geboren am 23. August 1965 in Sofia (Bulgarien) – floh mit seiner Familie 1971 nach Deutschland. Von 1972 ab verbrachte er seine Kindheit in Kenia, kehrte für die Schulausbildung von 1977 – 1981 nochmals nach Deutschland zurück und lebte anschliessend bis 1984 in Nairobi, wo er auf der Deutschen Schule auch sein Abitur ablegte. Er ging für ein Jahr nach Paris und studierte anschliessend Rechtswissenschaft und Ethnologie an der Universität München. Das Studium brach er ab, dafür gründete Trojanow in München zwei Verlage, die sich auf afrikanische Literatur spezialisierten. Ab 1999 zog er für einige Jahre nach Mumbai und beschäftigte sich intensiv mit Indien. Die Jahre 2003 bis 2007 verbrachte er wieder in Afrika (Kaptstadt). Inzwischen lebt er in Wien. Trojanows Gesamtwerk besteht aus Sachbüchern, Reiseführern, Reportagen, einem Science-Fiction-Roman und vielen Schriften über Afrika. Eines seiner berühmtesten und bekanntesten Werke ist sicherlich « Der Weltensammler ». Trojanow wurde mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen – wie zum Beispiel der Marburger Literaturpreis (1996) und der Preis der Leipziger Buchmesse (2006) – geehrt. Seine ganz aktuelle Veröffentlichung « Stadt der Bücher », welche er zusammen mit der Fotografin Anja Bohnhof gestaltet hat, führt ihn und uns Leser in Trojanows alte Heimat Indien zurück.

Wenn man an Kalkutta denkt, hat man zuerst Bilder von Armut und Überbevölkerung vor Augen. Mit 4,1 Millionen Einwohnern ist Kalkutta die siebtgrösste Stadt Indiens und mit einer Agglomeration von über 14 Millionen der drittgrösste Ballungsraum des Landes. Kalkutta ist nicht nur Industrie-, sondern auch eine für Indien wichtige Bildungs- und Kulturstadt, geprägt durch seine zahlreichen Universitäten, Theater, Kinos, Museen und Galerien. Somit ist es gar nicht so unverständlich, dass hier sehr viele Druckereien, Verlage und Buchhandlungen ihren Hauptstandort gefunden haben.

In dieser Stadt herrscht eine ganz besondere Buchkultur, die man sich vielleicht als Europäer nie hätte erträumen lassen. Entlang der College Street – eine Art Universitätsviertel – im Norden von Kalkutta gibt es mehr als 5000 Buchläden. Für Trojanow hat dieser « Ort » noch eine ganz andere Bedeutung:

« College Street ist keine Strasse, es ist kein Viertel und keine Hochschule ; College Street ist das Versprechen, jedes Buch zu finden, das man begehrt. Dieses Versprechen druchdringt wie der Ruf eines allgegenwärtigen Marktschreiers jede Nische eines Labyrinths, das von den Hauptstrassen in die Nebenstrassen und Seitengassen führt, ein Labyrinth aus bedrucktem Papier ; von den Bürgersteigen zu den Durchgängen, von Türen über Treppen bis hinauf zu vollgestopften Dachgeschossen stapeln sich Bücher zu Fassaden, Ecken und Erkern. »

Dieses besondere Fleckchen Erde mit seiner immensen Fülle und Dichte an Büchern, mit seinen verschiedenen Kiosken und « Buchläden » dürfen wir nun in diesem traumhaft schön gestalteten Bildband dank des aussergewöhnlichen Fotomaterials von Anja Bohnhof voller Faszination und Bewunderung besichtigen.

Anja Bohnhof – geboren 1974 in Hagen – studierte an der Bauhaus-Universität Weimar Fotografie. Sie hat einen Lehrauftrag an der FH Köln und ist daneben als freiberufliche Fotografin tätig. Ihre Arbeiten wurde nicht nur durch zahlreiche Stipendien und Förderpreise ausgezeichnet, sondern werden auch in internationalen Ausstellungen und Sammlungen regelmässig präsentiert.

« Stadt der Bücher » ist ein geniales Projekt, das zwei ganz beeindruckende Künstler zusammengeführt hat. Trojanow, der Sprachzauberer, der jede Lebensstimmung – wo auch immer auf der Welt – besonders authentisch einfangen und literarisch äusserst feinfühlig beschreiben kann. Und Anja Bohnhof, eine Fotografin, die ihre Objekte zielstrebig in den Focus nimmt und im absolut perfekten Moment auf den Auslöser drückt. Sie arbeitet mit der Grossformattechnik und vermischt hier in diesem Buch ganz raffiniert menschenvolle Szenen mit menschenleeren Ansichten. Durch die extrem hohe Präzision rücken somit das Buch und der dazugehörige Verkaufsort ohne jegliche Ablenkung in den absoluten Mittelpunkt. Wir entdecken die unterschiedlichsten Verlagsprogramme, Sortimentsschwerpunkte, Farbenkonzepte und Grössen im Hinblick auf die sogenannten « Verkaufsräumlichkeiten ». Es gibt selten Regale. Die Bücher werden einfach gestapelt und übereinander geschichtet. Man hat das Gefühl, als wären die Bücher ihr eigener Architekt, gestalten ihr « Ladenbausystem » durch sich selbst und präsentieren sich in kunstvollen « Pyramiden » und « Turmbauten », wie wir sie selten in europäischen Buchhandlungen wiederfinden werden.

Wichtig ist zu erwähnen, dass man hier als Kunde nicht einfach selbst in den Büchern schmökern kann. Hier hat der Kundenservice noch eine echte Bedeutung, denn der potentielle Käufer bringt seinen Bücherwunsch bei dem jeweiligen Buchhändler vor. Dieser sucht dann in seinem Sortiment nach dem gewünschten Titel. Und gerade bei der doch teilweise für uns etwas eigenwilligen und gewöhnungsbedürftigen Ordnungssystematik der Bücher, ist es um so bewundernswerter, wenn dieser Titel in kürzerster Zeit und vor allem ganz ohne Technik gefunden wird. Diese « Buch-Stadt » ist eben mehr als nur eine reine Ansiedlung von Tausenden von Buchhändlern, Verlagen und Druckern. Hier wird das gedruckte Wort nicht nur hergestellt und verkauft, sondern auch gelebt. Das Buch wandert  – wie auch Trojanow feststellt – hier nicht nur als Ware über den « Ladentisch », es wird vor allem respektiert und als ein echtes Kulturgut behandelt!

« Die Stadt der Bücher » ist ein so schöner kleiner Bild- und Textband, dass man es gar nicht in Worte fassen kann. Ilija Trojanow gelingt es mit seiner so angenehmen Unaufgeregtheit und seiner Begeisterungsfähigkeit uns Leser in diese magische Bücherwelt zu entführen. Doch nicht nur seine stimmungsvollen Berichte, sondern vor allem die farbenprächtigen und intensiven Bilder von Anja Bohnhof lassen uns erst die Bedeutung der Bücher in dieser Stadt nachspüren. Treten Sie ein in das bunte Bücher-Labyrinth Kalkuttas, Sie werden nicht nur verzückt staunen, sondern sich bestimmt – mit einem besonders wohligen Gefühl – gerne durch diese Bücherstraßen treiben lassen …

Durchgelesen – „Die Ballade der Lila K“ v. Blandine Le Callet

Geht ist es Ihnen auch so, dass Sie bei diesem Titel und vor allem bei dem Wort Ballade sofort an ein beschwingtes Tanzlied denken ? In der französischen Poesie gehören Balladen auch seit dem 14. Jahrhundert zur Hauptgattung der Liebesdichtungen. Was gäbe es Schöneres als einen « tanzenden » Liebes-Roman zu entdecken. Doch spätestens, wenn man die ersten Zeilen des Prologs liest und plötzlich Wörter wie Angst, Schreie und Zwangsjacke vor seinen Augen passieren lässt, ist man vollkommen verunsichert. Und genau diese Irritation fordert nicht nur eine Aufklärung, sondern auch eine starke Leser-Empathie, um sich auf diese unglaubliche Geschichte vollkommen und vorallem emotional einzulassen zu können.

Blandine Le Callet, geboren 1969, arbeitet als Dozentin für Latein und Philosophie an der Pariser Sorbonne. 2006 hat sie ihren ersten Roman « Une pièce montée » veröffentlicht, der nicht nur ein sehr grosser Leser-Erfolg war, sondern auch wunderbar verfilmt wurde. 2010 erschien ihr zweites Buch « La Ballade de Lila K », der mit vielen Preisen, unter anderem 2011 mit dem « Prix des bibliothèques pour tous » und dem « Prix Sony du livre numérique », ausgezeichnet wurde. Jetzt haben wir endlich die Gelegenheit, diesen sehr bewegenden und fesselnden Roman – dank Patricia Klobusiczky – in deutscher Übersetzung zu entdecken.

Die erzählerische « Ballade », oder vielleicht sollte man eher von einem balladenhaften Brief sprechen, spielt im 22. Jahrhundert in einer Stadt, die Paris sehr ähnlich sein könnte, aber nie konkret genannt wird. Lila, die Ich-Erzählerin, beginnt mit ihrer sehr dramatischen Lebensgeschichte, als sie 5 Jahre alt ist. Lila muss mit ansehen, wie schwarz gekleidete Männer die Wohnung stürmen, ihre Mutter überwältigen und von ihr wegbringen. Sie wird in einem sogenannten Zentralheim, das eine Mischung aus Pensionat und Gefängnis ist, untergebracht. Lila ist in einer äusserst schlimmen Verfassung : unterernährt, misshandelt, verstört. Sie lässt sich auf keinen Fall anfassen, wird deshalb mit Psychopharmaka sediert und künstlich ernährt. Überall hängen Überwachungskameras und sie ist unter ständiger Beobachtung.

Doch letztendlich kümmert man sich im Zentralheim ganz gut um Lila. Sie wird aufgepäppelt, massiert, lernt sprechen und gehen. Doch das grösste Problem ist die Sozialisierung mit anderen Kindern. Lila soll in den Schulunterreicht aufgenommen werden, doch aufgrund dieser Schwierigkeiten, bekommt sie Privatstunden. Sie ist hochbegabt, lernt in einem Monat Lesen und beeindruckt das Lehrerpersonal mit ihren Leistungen. Und genau zu diesem Zeitpunkt wird ein neuer Leiter für das Zentralheim benannt : Monsieur Kauffmann. Er ist anders als die Mitglieder der « Überwachungs-Kommission ». Er kümmert sich um Lila persönlich, führt sie mit seinem Cellospiel ein wenig an die Musik heran und hilft ihr durch das Auswendiglernen von Gedichten, ihren Wortschatz zu erweitern. Doch Kauffmanns Methoden stossen bei der Kommission nicht immer auf Zustimmung, deshalb ist auch er unter starker Beobachtung.

Lila vertraut sich Monsieur Kauffmann immer mehr an und wagt es, zum ersten Mal eine Frage bezüglich ihrer Mutter zu stellen. Sie vermisst sie so sehr und sie möchte unbedingt wissen, was sie macht und wo sie ist :

„« Sie wissen gar nichts ? » Er schüttelte traurig den Kopf. « Ein paar Wochen nach deiner Ankunft wurden wir darüber informiert, dass man deiner Mutter soeben die Elternrechte entzogen hatte. Mehr wissen wir nicht. » « Die Elternrechte entzogen ? Was heisst das ? » Monsieur Kauffmann schloss kurz die Augen. « Das heisst, dass zwischen euch keine rechtliche Bindung mehr besteht. Offiziell gilt sie nicht mehr als deine Mutter. »“

Lila war vollkommen durcheinander und konnte ihr Unglück gar nicht fassen, auch wenn dieser Prozess mehr oder minder rechtmässig von statten ging. Sie spürte eine unermessliche Einsamkeit und versuchte trotzdem ihre Kurse zu besuchen und die restlichen Tagespläne zu absolvieren. Erst als Monsieur Kauffmann sie mit einem Rollcontainer voller Bücher überraschte, änderte sich einiges in Lilas Leben. Man muss ergänzen, dass man in dieser Zeit nur mit seinem Grammabook gelesen hat, eine Art iPad, wo Texte erscheinen, aber auch wieder verschwinden können. Monsieur Kauffmann erklärte Lila, was ein Buch eigentlich ist und dass die mit Text bedruckten Seiten nicht veränderbar, aber auch nicht löschbar sind :

„«… Die Buchstaben sind unverrückbar. Unzerstörbar. Gerade dadurch zeichnet sich ein Buch aus, so gehört dir der Text. Er gehört dir voll und ganz. Er bleibt dir erhalten, ohne dass ihn jemand ohne dein Wissen manipulieren kann. In diesen Zeiten ist das ein besonderer Vorzug, glaub mir », fügte er leise hinzu. « Ex libris veritas, Mädchen. Aus den Büchern kommt die Wahrheit. Merk dir das : Ex libris veritas. »“

Lila wurde neugierig, stürzte sich in die Lektüre und liess sich auch keineswegs von den Warnhinwiesen des Ministeriums bezüglich Giftstoffe im Papier etc. abschrecken. Ab diesem Zeitpunkt gehörten Bücher zu ihrem Leben dazu. Sie gaben ihr Sicherheit und Macht. Doch Monsieur Kauffmann wurde durch das Ministerium immer mehr kontrolliert, so dass es langsam schwierig für ihn wurde, seine Position zu sichern. Jetzt sollte sich Monsieur Kauffmann nicht mehr allein um die Erziehung bzw. das « Protokoll » von Lila kümmern und so tritt ein junger Mann, namens Fernand, in ihr Leben ein. Monsieur Kauffmann überraschte sie noch mit einem Präsent : ein altes Wörterbuch. Fernand wurde jedoch über kurz oder lang ihr Betreuer, nachdem Monsieur Kauffmann seines Amtes enthoben und festgenommen wurde. Sie musste alle Bücher wieder zurückgeben und kämpfte um das Behalten ihres Wörterbuchs, das Lila bezüglich ihrer Herkunft noch sehr hilfreich sein wird.

Jahre vergehen und Lila muss sich immer mehr dem Sozialisierungsprozess unterwerfen. Sie leidet, beisst sich durch, kämpft gegen ihre Berührungsängste und ihren Ekel, « normales » Essen genussvoll zu sich zu nehmen. Sie lernt fleissig, wird von Fernand unterstützt und besteht im Juni 2107 ihre Abschlussprüfung. Sie könnte studieren, möchte aber gerne arbeiten und am Liebsten mit Büchern :

„« Die Kommission hat sich bereit erklärt, dir eine der Stellen aus dem Kontingent der Grossen Bibliothek zuzuteilen. Man bietet dir einen Posten als Datenerfasserin an, für die Digitalisierung von Papierdokumenten. Eine einsame Tätigkeit. Anspruchslos. Erfordert nicht die geringste Initiative. Hoffentlich bist du jetzt zufrieden. »“

Ja, das war sie. Lila hatte genau die Stelle bekommen, die für sie am Besten geeignet war. Doch sie wusste ja bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich durch diesen Posten konkrete Fortschritte, aber auch sehr dramatische Entwicklungen bezüglich der Suche nach ihrer Mutter abzeichnen würden…

« Die Ballade der Lila K » ist eine Mischung aus George Orwell, Ray Bradbury und Franz Kafka. Überwachungsstaat, Gefangenschaft, Zoneneinteilung und dies kombiniert mit Abhängigkeit und Liebe ergeben einen emotional explosiven literarischen Cocktail. Der Leser spürt ab dem Prolog die extrem starke Mutter-Tochterbeziehung trotz der erschütternden Lebensbedingungen in denen Lila aufwächst. Die Geschichte wirkt im ersten Moment so unrealistisch, dass sie fast schon wieder mehr als real sein könnte. Der Leser begegnet in diesem Buch einer jungen Frau während 360 Seiten, die endlich ihre « Lebensakte » studieren kann und in Form einer Art Liebes-Brief-Ballade diese zu Papier bringt.

Wie wunderbar gelingt es Blandine Le Callet durch Ihre klare, schlichte und pathosfreie, aber doch ausgesprochen elegante Sprache den Leser so zu vereinahmen, als wäre er Teil dieses Romans. Ganz besonders raffiniert ist die konkrete « Sie – Anrede », so dass wir uns auch als Leser irgendwie sehr persönlich angesprochen fühlen könnten, auch wenn wir eigentlich gar nicht direkt gemeint sind. Doch dadurch bekommt dieses Drama eine sehr intime und private Atmosphäre, als würden wir Lila gegenübersitzen und in einem stillen einsamen Kämmerlein ihrer Erzählung lauschen. Diese Geschichte fesselt in einer unvergleichbar starken Weise, dass man förmlich bei der Lektüre dieses Romans die Stille und das Alleinsein nicht nur sucht, sondern sogar benötigt, um sich Lila und ihrem Schicksal vollkommen « hingeben » zu können.

« Die Ballade der Lila K » zeigt nicht nur ein sehr persönliches Lebensdrama auf, sondern auch den Verlust an Freiheit durch Überreglementierung und totaler technisierter Kontrolle. Auch wenn man sich immer mal wieder – wie bereits erwähnt – an Orwell’s « 1984 » erinnert fühlt, ist dieses Buch kein klassischer Science Fiction Roman. Es ist eine dramatische, sehr emotionale und für die Protagonistin überlebensnotwendige « Liebes- und Befreiungsballade », die ein sehr wichtiges und sehr naheliegendes und, nicht wie man glauben möchte, utopisches Ziel verfolgt, nämlich die Fähigkeit der selbstlosen Vergebung. Umso beeindruckender ist es, zu beobachten wie Blandine Le Callet diese hochkomplizierte emotionale Hürde durch ihren – im wahrsten Sinne des Wortes – atemberaubenden Roman überwinden kann !

Blandine Le Callet überzeugt mit ihrem unverschnörkelten Stil, lässt dem Leser Raum, sich alles selbst noch viel detaillierter auszumalen und schenkt gleichzeitig Vertrauen trotz des Horrorschicksals durch ihre beeindruckende Heldin Lila. « Die Ballade der Lila K » ist ein grandioses Werk, das schockt, den Leser nach Luft schnappen lässt und gleichzeitig eine unvergessliche und nachwirkende Anziehungskraft auslöst.

Durchgeblättert – „Unpacking My Library: Writers and Their Books“ v. Leah Price

Im Dezember letzten Jahres ist nun das zweite Buch aus der Reihe « Unpacking My Library » erschienen. Diesmal dürfen wir einen Blick in die Privatbibliotheken berühmter zeitgenössischer Schriftsteller, wie zum Beispiel Junot Diaz, Jonathan Lethem, Philip Pullman und Edmund White werfen.

Sie kennen sicherlich den Spruch : „Sage mir, was Du isst und ich sage Dir, wer Du bist.“ Dieser Satz würde sich auch wunderbar – im Sinne eines geistigen Nahrungsmittels – auf Bücher übertragen lassen, die man in einer gewissen Form ja ebenfalls regelmässig « verzehrt ». Leah Price, Englischprofessorin (Harvard) und die Herausgeberin dieses wunderschönen und faszinierenden Bildbandes, geht noch viel weiter. Sie sagt in ihrem Vorwort : “To expose a bookshelf is to compose a self.’’

Der Aufbau ist ähnlich wie im ersten Buch « Architects and Their Books ». In diesem Fall werden 13 Autoren und ihre dazugehörige Privat-Bibliotheken vorgestellt. Leah Price führt mit jedem Einzelnen ein Interview und stellt Fragen unter anderem über die Ordnungssysteme innerhalb der Bibliotheken, die Lesegewohnheiten, die Sammelleidenschaften, die Vorlieben bezüglich e-Reader oder gedrucktem Buch. Sie möchte aber gerne von ihnen auch erfahren, wie ihre Bibliothek in fünf Jahren aussehen könnte, ob sie Bücher verleihen und welche Bücher zu ihren Top Ten gehören.

Die Antworten sind sehr interessant, manchmal auch überraschend. Doch letztendlich machen die zahlreichen Photos das Buch erst zu einem echten Erlebnis. Denn auch hier wurden –  wie bereits bei den « Architects »  – nicht nur die Bibliotheken im Ganzen fotografiert, sondern einzelne Regale herausgenommen und mit Hilfe der Kamera wie ein Stilleben festgehalten. Der Leser kann sich also quasi vor einzelne Regalböden « stellen » und schmökern.

Dieses mit hochwertigen Fotobildmaterial ausgestattete Werk ist mal wieder der Beweis, dass Bücher, nicht nur ein dekoratives Wohnaccessoire, sondern auch ein echtes Kulturgut sind, und Bibliotheken somit über einen Menschen mehr aussagen können, als man je zu denken vermag.

« Unpacking My Library » ist eine äusserst individuelle, sehr ambitionierte und grandios konzipierte Bildband-Reihe über die Privatbibliotheken interessanter und kluger Menschen. Möge sie endlos weiter fortgesetzt werden und wer weiss, vielleicht erscheinen diese Bücher in absehbarer Zeit auch in deutscher Übersetzung!

Durchgeblättert – „Wozu lesen?“ v. Charles Dantzig

« Wozu lesen? » Diese Frage sollte man sich als Leser unbedingt stellen, auch wenn es mehr als schwierig sein könnte, die richtige und vor allem persönliche Antwort darauf zu finden. Bevor Sie jetzt jedoch zu sehr ins Grübeln kommen, nehmen Sie einfach dieses Buch von Charles Dantzig und folgen Sie ihm auf eine ganz besondere «  Lese-Reise ».

« Wozu lesen » ist eine sehr bibliophil (edelster Leineneinband) gestaltete Sammlung kleiner feuilletonistischer Essays, die sich mit der im Titel gestellten und äusserst nachdenkenswerten Frage beschäftigt. Es geht hier jedoch nicht um das Lesen im Allgemeinen, sondern nur um das Lesen von Literatur.

Charles Dantzig gibt in diesem teilweise sehr amüsant bissigen Werk keine konkret allgemein gültige Antwort auf die Frage, sondern er schreibt seine ganz persönliche Meinung über sein Leseverhalten und den Leser an sich, die positiv, negativ, ironisch und teilweise sehr böse ausfällt, aber letztendlich immer das Wichtigste aller Ziele nie aus den Augen verliert, nämlich das Lesen!

Charles Dantzig, geboren 1961, studierte nach dem Abitur Jura, krönte sein Studium mit einer Doktorarbeit in Toulouse, ging anschliessend nach Paris – wo er auch heute noch lebt – und begann als Lektor bei « Belles Lettres ». Hier veröffentlichte er zum ersten Mal auf französisch eine Gedichtsammlung von F.S. Fitzgerald. Er publizierte eine Fülle von Romanen, Essays und Lyrik. Dantzig wird mit vielen Literaturpreisen geehrt. 2005 erhielt er unter anderem für sein Werk « Dictionnaire égoïste de la littérature française » den Prix de l’Essai de l’Académie française. 2010 wird er mit dem Grand Prix Jean-Giono für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Charles Dantzig gehört zu den ganz Grossen der französischen Kulturszene. Seit September 2011 ist er, neben seiner langjährigen Tätigkeit als Lektor im Verlag Grasset, Feuilletonist bei der Zeitschrift « Magazine littéraire ». Zum allerersten Mal erscheint nun mit dem Werk « Wozu lesen ? » ein Buch von Charles Dantzig in deutscher Sprache, das von Sabine Schwenk hervorragend übersetzt wurde!

Charles Dantzig berichtet in mehr als 70 kurzen und prägnanten Essays über seine Lesegewohnheiten, Leseerfahrungen und seine Vorstellungen, was es überhaupt bedeuten könnte, ein guter Leser zu sein.

Die erste Antwort auf die Frage « Warum lese ich ? » lautet: « Ich lese wohl so, wie ich auch gehe. » Charles Dantzig gehört zu den Menschen, die auch beim Gehen lesen, auch wenn er immer mal wieder beispielsweise durch eine Parkuhr mehr oder minder schmerzhaft abgebremst wird. Lesen ist für ihn eine besondere Form der « Bewegung », nämlich seine Bewegung, denn als Kind hat es er schon immer vorgezogen, ein Buch zu lesen, als im Garten zu spielen, geschweige denn Sport zu treiben.

Lesen ist eine intensive Beschäftigung. Bei mancher Lektüre könnte man meinen, dass das Lesen den Leser irgendwie positiv verändert, doch das sieht Dantzig nun gar nicht :

« Das Lesen verändert uns kaum. Vielleicht veredelt es uns ein bisschen, aber ein Drecksack ist und bleibt ein Drecksack, auch wenn er Racine gelesen hat. Aus einem ungebildeten Drecksack ist dann allenfalls ein aufpolierter Drecksack geworden. »

Auch wenn die Veränderung durch die Lektüre nicht zutrifft, ist für Charles Dantzig eines ganz klar: Lesen hat etwas mit Liebe zu tun, ja man könnte sagen, dass es gut ist, wenn man nur aus Liebe liest. Aber nicht nur Liebe, auch wahre Freundschaft kann zwischen dem Leser und dem Schriftsteller entstehen.

Dantzig liest ständig. Sein Leben ist das Lesen. Und genau deshalb will er uns keinesfalls die hundert besten Tipps zum sinnvollen und erfüllenden Lesen liefern. Er berichtet von seinen Lesemomenten, von Schriftstellern, von Buchhandlungen, von Träumen und Visionen, was uns Leser jedoch ungewollt animiert, über unsere ganz persönlichen Leseerfahrungen nachzudenken. Wir spüren bei der Lektüre dieser feuilletonistischen Miniaturen seine fast schon grenzenlose Liebe zu Balzac, Proust und Stendhal, seine differenzierte Verehrung für Thomas Bernhard, seine Probleme mit Marguerite Duras, aber auch seine klare Abneigung zu Céline und anderen Autoren, bei denen es eigentlich nur um sogenannte Beststeller-Produzenten geht. Hier, in diesem Buch, dreht sich alles um die wahre Liebe zum Lesen und um die Rettung der Literatur :

« Gute Leser müsste man einsperren, damit sie lesen ! Man würde ihnen ein Gehalt zahlen, und sie täten nichts anderes als lesend Literatur retten ! »

Aber Lesen ist leider nicht immer sehr gesellschaftsfähig. Der Leser, – nein man muss genauer sagen -, der Büchernarr wird schnell als Exot hingestellt. Gerade deshalb ist es um so wichtiger, sich in die Literatur zu stürzen, um der Isolation etwas zu entfliehen und als Vielleser mit Glück in den Romanfiguren doch noch so manchen Freund zu finden.

Eines der essentiellsten Aspekte beim Lesen ist natürlich die Auswahl der Lektüre, denn Bücher können einen in die Irre führen, der Titel kann vieles versprechen und nicht halten und genau deshalb ist es laut Charles Dantzig sehr wichtig, nicht kompliziert, sondern ganz pragmatisch vorzugehen:

« Eine Lektüre muss man anprobieren wie Schuhe. Wir dürfen niemals denken, dass wir für diese oder jene Lektüre nicht gut genug seien. Aber es gibt durchaus Bücher, die für uns nicht gut genug sind. »

Auch wenn wir all die Ratschläge und Erfahrungen von Charles Dantzig uns zu Herzen nehmen, sind wir dann als Leser mit der Frage « Wozu lesen ? » eigentlich einen Schritt weitergekommen? Es gibt ein ganz klares JA, denn die wichtigste Erkenntnis, die wir durch die Lektüre dieses Buches gewinnen, lautet : « Lesen bringt keinen Nutzen. Genau deshalb ist Lesen etwas Grossartiges. »

Es ist noch viel mehr als etwas Grossartiges, dass der Mensch heutzutage seine oft auf die Sekunde durchgeplante Zeit noch mit etwas vollkommen Nutzlosen verbringen kann. Es lebe die Literatur ! Und genau deshalb sollten Sie sofort mit diesem arrogant-bösen und intellektuell-unterhaltsamen Liebesplädoyer für die Lektüre beginnen. Mit sprachlicher Eleganz wird dieses Werk zu einem charmant-sarkastischen und sehr intelligent verpackten «Marketingbrevier» für das Lesen. Doch eines sollten Sie bei der Lektüre dieses Werkes nie vergessen – den Bleistift. Nicht nur, weil « ein guter Leser schreibt, während er liest », sondern weil Sie jedes Zitat von Charles Dantzig – einer der brillantesten Wort-Jongleure und Fabulierkünstler – unterstreichend festhalten möchten.

« Wozu lesen ? » wirbt für das Lesen und die Literatur ! Wir machen «Werbung» für dieses Buch, damit Sie verehrter Leser nie vergessen werden, warum Sie lesen !

Durchgelesen – „Mathilde und der Duft der Bücher“ v. Anne Delaflotte

Kennen Sie auch diesen unbeschreiblichen Duft eines Buches? Ein Duft, der angenehm nach Papier und Holz riecht. Ein Duft, der sich in die Nase des Lesers einnistet und die Lektüre begleitet, bis er das Buch am Ende aus der Hand legt. Es ist ein sehr sensuelles Erlebnis, auf das jeder Bibliophile sicherlich nie verzichten möchte. Ja und wer könnte diesen Duft eines Buches nicht besser beschreiben und erklären als ein Buchbinder bzw. eine Buchbinderin.

Anne Delaflotte lässt uns mit ihrem ersten Roman „Mathilde und der Duft der Bücher“, der nun ganz aktuell auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, eintauchen in Welt des Buchbinderhandwerks. Anne Delaflotte ist 1967 in Auxerre geboren und im Burgund aufgewachsen. Sie studierte in Paris internationales Recht und Diplomatie und ist selbst gelernte Buchbinderin. Seit 1993 betreibt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Alexander Mehdevi, eine internationale Buchhandlung in Prag. Inzwischen lebt sie dort auch als freie Schriftstellerin.

„Mathilde und der Duft der Bücher“ spielt in einem kleinen Ort namens Montlaudun in der Dordogne. Mathilde  ist eine junge Frau Ende zwanzig und hat sich nach einer sehr atemberaubenden Karriere als Diplomatin in Paris für das Buchbinderhandwerk entschieden, welches bereits ihr geliebter Grossvater ausgeübt hatte. Sie hat sich von ihrem Erbe und Ersparten ein Haus in diesem kleinen Dorf gekauft. Mitten im Dorfkern arbeitet Mathilde in ihrem Laden-Atelier zwischen zum Teil sehr netten Nachbarn, wie der Bäcker André und der Schuster Sébastien, aber auch schwierigen alteingesessenen Damen wie die Besitzerinnen des kleinen Tante Emma Ladens. Das Geschäft läuft für Mathilde jedoch sehr schleppend und sie muss sich um ihre Kundschaft mehr als bemühen, fast schon kämpfen.

Doch sie bereut ihre Entscheidung nicht, jetzt als Buchbinderin zu arbeiten, denn sie liebt Bücher. Jeden Morgen geniesst sie ihr Frühstück im Atelier umgeben von Büchern und streicht danach ihre Hand über die Buchrücken der noch zu restaurierenden Werke:

„Dann erst mache ich richtig Bekanntschaft mit dem Objekt. Es reicht nicht aus, es bloss in Augenschein zu nehmen, man muss das Gewicht fühlen, Mass nehmen, es in der Hand spielen lassen. Manchmal schweife ich ab und lese aufs Geratewohl hier und da einige Zeilen. Damit verstosse ich gegen die Regeln meines Grossvaters und Lehrmeisters, der die Ansicht vertrat, ein Buchbinder habe nicht zu lesen. Ein Analphabet sei für die Arbeit am geeignetsten, ob es nun seine Enkelin war oder sonst wer. Er empörte sich über die Auffassung, man dürfe ein Buch schon vorsichtig aufschlagen und sich an seinem Stil ergötzen, wenn der Leim vielleicht noch nicht ganz trocken, der Block aber schon fest ist.“

Eines Tages – Mathilde ist sehr vertieft in ihre Arbeit – klopft es an der Tür und ein junger, sehr attraktiver Mann betritt ihr Atelier. Er übergibt ihr ein altes und durch Brandspuren beschädigtes Buch zur Restauration. Mathilde ist ganz verwirrt, der Mann ist ihr vollkommen unbekannt, scheint auch nicht aus dieser Gegend zu kommen. Er versprüht jedoch einen ungewöhnlichen Duft nach Wald und Erde, der sie fasziniert. Der Mann wirkt kränklich und schwächelt. Sie versucht ihm zu helfen, aber er lehnt ab, gibt ihr eine Anzahlung von 100.- Euro  und sagt, dass er das Buch nach sechs Tagen, so wie Mathilde es vorgeschlagen hat, wieder abholen werde. Er wollte keine Quittung und die eigentlichen Preisver-handlungen sollten zwei Tage später stattfinden. Doch dazu kommt es nicht mehr. Der unbekannte junge Mann wollte nach dem Besuch in Mathildes Atelier zum Bahnhof, um den Zug nach Paris nehmen zu können, doch leider wird er von einem LKW auf dem Bahnhofsplatz erfasst und ist sofort tot.

Mathilde ist geschockt und vollkommen durcheinander. Und genau in diesen Momenten helfen nicht nur die netten Nachbarn, sondern  vor allem ihr geliebter „Cyrano“. Das berühmte Buch „Cyrano de Bergerac“ von Edmond Rostand ist ihr Lieblingswerk. Es liegt auf ihrem Nachtisch und tröstet sie in schwierigen Zeiten. Es hilft bereits das Lesen einiger Zeilen und schon kann das Leben wieder weitergehen.

Das alte Buch dieses verunglückten Mannes liegt nun auf ihrem Ladentisch und Mathilde hat nicht mal den Namen des Besitzers, geschweige denn die Adresse. Was soll sie tun? Sie sieht sich das Buch in Ruhe an: es enthält Zeichnungen und Aquarelle einer galloromanischen Tempelanlage in einem Wald. Mathilde entscheidet sich für die Restaurierung und entdeckt dabei eine handgeschriebene Namensliste. Sie wird neugierig und fängt an, Nachforschungen zu unternehmen. Sie spürt, dass dieses alte Buch ein Geheimnis enthält, welches sie unbedingt aufdecken muss. Doch Mathilde hat nicht gedacht, dass auch dadurch für sie Probleme entstehen können: ihre mühsam akquirierten Aufträge werden annulliert, es wird schlecht über ihre Buchbindekunst geredet und es wird so gar in ihrem Atelier eingebrochen. Hat dies alles vielleicht mit dem alten Tempel-Buch des unbekannten Mannes zu tun … ?

„Mathilde und der Duft der Bücher“ ist ein faszinierendes, zauberhaftes, aber auch spannendes Buch. Selten finden wir in Romanen die Buchbinderhandwerkskunst so sensibel und authentisch beschrieben wie in diesem wunderbaren Werk. Man möchte sich am Liebsten bei der Lektüre neben Mathilde stellen, das Leder berühren, seine Nase in das Papier halten und zusehen, wie sie den Block festklebt . Dieser Roman ist  ein sprachlich so elegantes und musikalisches Buch! Allein schon durch die immer wieder eingebauten Stellen des „Cyrano de Bergerac“ und durch die literarische Feinfühligkeit, wie Anne Delaflotte über die restaurierende Bücher schreibt, als wären sie Lebewesen, lässt sie uns mit ihrem Roman nicht nur Edmond Rostand neu oder wiederentdecken, sondern auch den sensuellen Wert eines Buches erfassen.

„Mathilde und der Duft der Bücher“ ist ein ganz besonderes und aussergewöhnliches Prosastück, voll französischer Atmosphäre, Raffinesse und auch einer gewissen Dramatik. Anne Delaflotte hat darüberhinaus ein durchaus sehr informatives Werk in Punkto Buchbinderei, aber gleichzeitig einen sehr sinnlichen und luftigen Roman aus der Welt der Bücher geschrieben, der den Leser beglückt und in eine magische Stimmung versetzt. Nach dieser wundervollen Lektüre werden Sie in Zukunft immer ihre Hände zärtlich über den Einband eines Buches streichen und ihre Nase ganz zielstrebig an das Papier führen, um den ganz besonderen und vielleicht auch betörenden Duft der Bücher aufsaugen zu können!

Durchgeblättert – „Frauen und ihre Bücher“ v. Johannes Thiele

„Frauen und ihre Bücher“ ist nicht nur ein reicher und sehr schön gestalteter Kunstband über lesende Frauen, sondern auch ein Buch, das dem Leser unter anderem diese interessanten Fragen beantwortet: Warum lesen Frauen? Wie lesen sie und an welchem Ort lesen sie?

Johannes Thiele liebt die Welt der Bücher. Er hat Germanistik, Philosophie und Geschichte studiert, war in verschiedenen Verlagshäusern tätig und ist seit 2007 selbst Verleger. Er hat sich für dieses Werk auf Spurensuche begeben und die schönsten und faszinierendsten Gemälde lesender Frauen entdeckt, um sie uns Leser bzw. Leserin näher zu bringen.

In acht Kapiteln wandelt der Leser durch eine ganz besondere Kunstgeschichte. Es geht um die lesende Frau, die sogenannte „Liseuse“ oder „Reading Woman“. Von der weiblichen Leidenschaft, über die Refugien der Lektüre, den Lieblingsbüchern und den dazugehörigen Orten bis zu den ganz intimen Lesemomenten spüren wir die Faszination und das Glück des Lesens.

Dieser Kunstband ist wie ein Spaziergang durch die Malerei des achtzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist spannend, kurzweilig und sehr informativ. Er löst Schwelgen und Begeisterungsstürme aus, wenn wir plötzlich vor einem Bild stehen, wie zum Beispiel „Lesendes Mädchen“ (ca. 1776) von Jean-Honoré Fragonard, das sicherlich zu den berühmtesten Bildern gehört, welches die Anmut und die Schönheit einer Frau bzw. eines Mädchens beim Lesen zeigt. Oder man entdeckt das Gemälde mit dem eher harmlosen Titel „Bücherwurm“ (1908) von Hermann Fenner-Behmer und denkt sofort an das berühmte gleichnamige Gemälde von Carl Spitzweg. Doch hier ist alles anders! Das Bild ein sanfter und dezent erotischer Akt: eine sehr schöne nackte Frau, die sich am Morgen noch in ihrem Bett räkelt und sich genussvoll und vollkommen unbedeckt auf dem Bauch liegend ihrer Lektüre widmet.

Diese Galerie lesender Frauen ist berauschend und betörend! Doch nicht nur unsere Augen kommen hier auf ihre Kosten, auch der Geist wird umschmeichelt mit sehr schönen Texten über literarische Freundschaften und weibliche Lieblingslektüren.

„Frauen und ihre Bücher“ erklärt uns, warum Frauen viel mehr lesen als Männer, und beschreibt welche Sehnsüchte das Lesen stillen kann. Ausgewählte Zitate über das Lesen krönen diesen besonderen Bildband, der nichts anderes ist, als eine wundervolle Hommage an lesende Frauen, welcher aber auch für nicht lesende Männer eine Entdeckung sein könnte!

Joachim Ringelnatz – Gedicht

Der Bücherfreund

Ob ich Biblio- was bin?
Phile? »Freund von Büchern« meinen Sie?
Na, und ob ich das bin!
Ha! und wie!

Mir sind Bücher, was den andern Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein, und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher – – – wie beliebt? Wieviel?

Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.

Unterhaltung? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben – – –
Hei! das gibt den Muskeln die Latur.

Oh, ich mußte meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.

Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt. Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.

Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.

Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.

Wie? – ich jemals auch in Büchern lese??
Oh, Sie unerhörter Ese – – –
Nein, pardon! – Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus, und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.

Bücher – Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen! Laß dich doch belehren!
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hoch verehren.
Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.

Durchgelesen – „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ v. Pierre Bayard

Sie kennen weder Marcel Proust, Robert Musil noch Oscar Wilde? Sie haben nicht mal „Der Name der Rose“ von Umberto Eco gelesen, geschweige denn wissen Sie etwas über Graham Greene und Michel de Montaigne. Dies sollte ab sofort kein Problem mehr sein, denn Sie können nun auch ohne Kenntnisse niveauvoll über Literatur plaudern, wenn Sie dieses Essay von Pierre Bayard lesen!

Der französische Literaturpapst Bernard Pivot hat es bestätigt: „Das Buch schlechthin! Wunderbar, man muss in diesem Leben nur noch Bayard lesen. Sein Buch ersetzt alle anderen, alte, neue, zukünftige.“

Ob Pivot Recht hat, sollten Sie selbst feststellen, in dem Sie in dieses grandiose Essay eintauchen und erkennen, was der Unterschied  und die Grenzen zwischen Lesen und Nichtlesen sind.

Pierre Bayard ist Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker. Und dieses Werk ist eine Art Analyse des Lesens, der Bücher, der Bildung und der Gesellschaft in unserer mit Informationen und Literatur überfrachteten Zeit.

Das Buch hat drei zentrale Teile, die wiederum in vier Unterkapitel eingeteilt sind. Bereits in seinem Vorwort schreibt Bayard über die Schwierigkeit, sich der Verpflichtung, Bücher zu besprechen, die er nicht gelesen hat geschweige denn aufgeschlagen hat, zu entziehen. Man ist irgendwie unter Zwang und weiss nicht, wie man dieses Problem lösen soll:

„Dieses Zwangsystem aus Pflichten und Verboten hat zu einer allgemeinen Scheinheiligkeit in Bezug auf die angeblich gelesenen Bücher geführt. Ich kenne nur wenige Bereiche des Privatlebens, von Geld und Sexualität einmal abgesehen, über die man so schwer verlässliche Informationen bekommt wie über Bücher.“

Somit ist es hilfreich, sich gleich dem ersten Teil dieses Essays zu widmen, das sich mit den „Arten des Nichtlesens“ beschäftigt. Es geht darum, dass man „Bücher, die man nicht kennt“, wengistens an einer Figur des Werkes einordnen kann. Diese Figur kann auch eine Nebenfigur sein, wie zum Beispiel der Bibliothekar in Robert Musil’s Mann ohne Eigenschaften. Genauso reicht es vollkommen aus, nur „Bücher, die man quergelesen hat“ zu kennen. Selbst Paul Valéry – ein „Meister des Nichtlesens“ konnte einen Artikel über Marcel Proust verfassen, obwohl er nicht einen einzigen Band der berühmten „Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen hatte. „Bücher, die man vom Hörensagen kennt“ waren für Umberto Eco ausreichend, um darüber sich unterhalten zu können. Und genauso einfach ist es auch für „Bücher, die man vergessen hat“. Da sollte man sich nicht grämen, sondern es wie Michel de Montaigne halten, der sagte: “ Wenn ich also ein Mensch bin, der einiges gelesen hat, so doch einer, der nichts behält“.

Als Nächstes sollte man sich unbedingt der im Leben schwierigen „Gesprächssituationen“ bewusst werden, die Pierre Bayard in seinem zweiten Teil sehr humorvoll erläutert. „Im Gesellschaftsleben“ werden oft Dinge erwartet, die man erst nicht glaubt erfüllen zu können und dann am Beispiel von Graham Greene, der sich vor Leuten über Bücher äussern sollte, die er nicht gelesen hat, sieht, dass es funktioniert. Auch „einem Lehrer gegenüber“ ist es nicht nötig, ein Buch zu lesen bzw. aufzuschlagen, um kluge Anmerkungen geben zu können. Am Schwierigsten jedoch ist, sich richtig „dem Schriftsteller gegenüber“ zu verhalten, wenn man merkt, dass der Autor nicht mal sein eigenes Buch gelesen hat. Und besonderes Fingerspitzengefühl ist erforderlich, wenn man „der oder dem Liebsten gegenüber“ seine ganze Verführungskunst zu Füssen legen möchte, in dem man ihm oder ihr mit Hilfe eines Gesprächs über Literatur imponieren möchte, die der andere zwar sehr schätzt, von der man selber aber keinen blassen Schimmer hat.

Um aus all diesen Fallen, Fettnäpfchen und anderen unguten Situationen schadlos entschlüpfen zu können, ist sicherlich der letzte Teil über die „empfohlenen Haltungen“ der Schlüssel des Nichtlesens. Jetzt heisst es als Erstes, „sich nicht schämen“, das auch schon David Lodge in einem seiner Romane bestätigt hat. Dann sollten wir als Nichtleser eine Eigenschaft haben, nämlich „sich durchsetzen“, was Balzac uns in seinem Roman „Verlorene Illusionen“ geschickt vorführt. Es bleiben die  Alternative „Bücher erfinden“ oder der letzte Ausweg „von sich sprechen“, was Oscar Wilde  – „ein entschiedener Nichtleser“ – wörtlich genommen hat, in dem er der Meinung ist, dass „die angemessene Lesedauer eines Buches zehn Minuten beträgt, da man sonst vergessen könnte, dass die Begegnung mit einem Text hauptsächlich eine Anregung ist, seine eigene Biographie zu schreiben.“

Am Ende des Essays merken wir als Leser, dass Pierre Bayard alles andere als ein Nichtleser ist. Mit Witz, Ironie und Klugheit klärt er uns auf über die Unmöglichkeit des Nichtlesens und gibt spannende Einblicke in den Literaturbetrieb. Bayard macht sich lustig über eine buchlose Bildung. Nach der Lektüre dieses Werkes werden Sie als Leser, mit einem Augenaufschlag souverän Proust zitieren, sich über Balzac unterhalten und aus dem Leben von Oscar Wilde erzählen können. Was will man mehr? Doch ohne Humor sollte man sich diesem Buch auf gar keinen Fall widmen, denn spätestens jetzt wird jeder zum lesenden „Nichtleser“.

Durchgeblättert – „Für Bücherfreunde“ v. Jean-Jacques Sempé

Jean-Jacques Sempé, geboren 1932,  ist ein begnadeter Zeichner. Bereits mit 19 Jahren erhält der den Prix Carrizey, einen Föderpreis für Nachwuchszeichner. Und somit war für ihn klar, welchen Beruf er in Zukunf ausüben würde, obwohl seine Traumberufe immer Jazzmusiker, Dirigent oder Fussballspieler waren. 1969 begannen seine ersten Erfolge als Karikaturist in den Zeitschriften Paris Match, Marie Claire und L’Express. Doch der absolute Höhepunkt in seiner Karriere war, als ab 1978 exklusiv für den New Yorker 50 Cover gestaltete und viele Karikaturen zeichnete. Berühmt wurde er vor allem auch in Deutschland als Illustrator der Geschichten des „Kleinen Nick“!

„Für Bücherfreunde“ ist eine Sammlung seiner besten Zeichnungen, welche sich nur mit der Spezies Buchliebhaber, Buchhändler, Verleger, Schriftsteller und Leser beschäftigen. Das Leben rund um das Buch bietet eine Fülle von kuriosen Begebenheiten und Anekdoten, die Sempé zeichnerisch auf entzückende und sehr witzige Weise einfängt. Mit einer Mischung aus Humor und Melancholie und einem Hauch Hintergründigkeit setzt sich Sempé gesellschaflich mit der Welt der Bücher auseinander. Teilweise entlockt er dem Leser ein Schmunzeln mit seinem feinsinnigen philosophischen Gespür!“ Doch machmal kann man auch herzhaft beim Betrachten dieser satirischen Cartoons lachen, die dem Leser des öfteren den Spiegel vorhalten.

Sémpé gehört zu den grössten Cartoonisten und Karikaturisten unserer Zeit, da es ihm immer wieder gelingt, banale Situationen aus dem Bücheralltag, mit einem Augenzwinkern in besondere Momentaufnahmen umzuwandeln. „Für Bücherfreunde“ ist eine wunderbare Hommage an das Medium Buch. Ein Augengenuss für alle Menschen die Bücher lieben und mit ihnen arbeiten und vor allem nicht ohne Bücher leben können.