Durchgelesen – „Wir werden zusammen alt“ v. Camille de Peretti

Lassen Sie uns ganz unvoreingenommen hinter die Türen eines Altersheimes blicken, und Sie werden feststellen, dass das Alter weder einfach, noch kompliziert ist und weder langweilig, noch kurzweilig sein muss. Eines ist jedoch wahr, dass alt werden und alt sein mit Glück und Geheimnis verbunden sind. Umso faszinierender ist es für uns Leser – dank Camille de Pretti, die für uns in ihrem Roman „Wir werden zusammen alt“ 64 Türen einer französischen Seniorenresidenz öffnet – diesen Lebensabschnitt auf äusserst sensible, aber durchwegs sehr humoristische und direkte Art zu entdecken.

Camille de Peretti ist 1981 in Paris geboren, studierte Philosophie, arbeitete im Finanzbereich einer Bank und war Fernsehköchin für französische Küche in Japan. Inzwischen lebt sie als freie Schriftstellerin in Paris. Ihr erster Roman „Thornytorinx“ erschien 2005, danach folgte 2006 „Nous sommes cruels“ und 2008 „Nous vieillirons ensemble“, der durch die geniale Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel nun mit dem Titel „Wir werden zusammen alt“ erstmals auf deutsch erscheint.

Der Roman spielt in einem Pariser Altersheim namens „Les Bégonias“ und  ist nach einer besonderen literarischen Technik konzipiert, die auch am Ende des Buches sehr genau und detailliert beschrieben wird. Der Struktur des Textes liegt ein literarisches Virtuosenstück von Georges Perec zu Grunde, nämlich dem Werk „Das Leben . Gebrauchsanweisung“, welches für einen Tag ein Mietshaus öffnet, als wäre es nur der  Querschnitt des Gebäudes ganz ohne Mauern und wo der Leser alles über die Wohnungs-einrichtungen und die Bewohner verfolgen kann. Die Grundbasis dazu war ein Schachbrett, mit 10 mal 10 Feldern und jedes Feld entspricht einem Zimmer oder Teil des Gebäudes. Camille de Peretti hat dieses System übernommen und das Erdgeschoss dieses Altersheims zu einem Schachbrett mit 8 mal 8 Feldern eingeteilt. Somit entstehen insgesamt 64 Kapitel  bzw. Räume, welche nicht klassisch angeordnet, sondern nach dem sogenannten Rösselsprung (wie im Schachspiel zwei vor, einer seitlich oder umgekehrt) eingeteilt werden. Infolgedessen bewegt sich der Leser quasi für einen Tag von morgens 9.00 Uhr fast jede viertel Stunde bis 00.45 Uhr  von einem Raum zum Nächsten.

Während dieses literarisch und stilistisch virtuosen Rundgangs lernen wir die Bewohner, Besucher und Mitarbeiter dieser Seniorenresidenz kennen. Da gibt es zum Beispiel die drei alten Damen Madame Alma, Madame Buissonette und Madame Barbier. Irgendwie können sie sich nicht leiden, aber sie können auch nicht ohne die jeweils andere. Wir lernen Geneviève Destroismaisons kennen, die man als Baronin bezeichnet, obwohl sie gar keine ist. Sie ist die jüngste Bewohnerin und lebt hier, obwohl das Altersheim keine geeignete Einrichtung für Alzheimer-Kranke ist. Aber dafür wohnt ihr Mann gleich in der Nähe und kümmert sich rührend um seine geliebte Frau. Thérèse, eine eher zurückhaltende und feine alte Dame findet hier in „Les Bégonias“ die Liebe ihres Lebens. An Bord dieser Residenz ist auch noch der selbsternannte Kapitän Dreyfus, der Madame Alma und den zwei anderen Damen immer irgendwelche Anweisungen gibt, damit sie sich auch hier auf dem „Alten-Schiff“ richtig benehmen.

Auch das Personal ist bei dieser spannenden Truppe ganz schön gefordert. Philippe Drouin, der Direktor dieses Altenheims, ist Junggeselle und sammelt Briefmarken, seitdem er sich über das Verschwinden seiner ehemaligen Freundin hinwegtrösten muss. Er ist ständig in Alarmbereitschaft und kümmert sich vorwiegend um die grossen Probleme, wie zum Beispiel um die defekte Kühlung, die so einiges Chaos verursacht, nachdem die Leiche einer Bewohnerin zu wenig gekühlt wurde und nun überall Ameisen herumlaufen.

Die Besucher kommen und gehen, manchmal nur für zehn Minuten, andere erst nach vier Wochen. Alle haben immer irgendwie ein schlechtes Gewissen, dass sie sich zu wenig um die Alten kümmern. Wie zum Beispiel Camille, die ihre Tante immer in „Les Bégonias“ besucht, und feststellt, dass sie all dies, was ihre Tante für sie getan hat, niemals wiedergutmachen könnte. Hier spürt der Leser eindeutig die auto-biographischen Züge des Romans und die echten Erfahrungen, die Camille de Pretti selbst gemacht hat, als sie ihre Großtante in einem Altersheim regelmässig besuchte.

Wir werden zusammen alt“ ist ein sprachliches und literarisches Kunststück, ja fast schon ein Kunstwerk, welches mit Witz, Humor, Ironie und ungeschönter Klarheit ein sehr brisantes und nicht unbedingt einfaches Thema beschreibt. Wer möchte schon gerne alt werden, wer freut sich auf das Alt sein und wer sehnt seinen Lebensabend in einem Altersheim herbei? In diesem Roman werden viele Schicksale beschrieben, doch auch wenn sie vielleicht im ersten Moment eher traurig und deprimierend erscheinen, löst Camille de Peretti mit ihrer unglaublichen Virtuosität und ihrem Charme beim Leser nicht nur Schmunzeln, sondern lautes Lachen aus. Man sollte dieses Buch langsam lesen, sich mit grosser Aufmerksamkeit auf diesen besonderen Rundgang durch ein mit herrlich französischen Flair ausgestattetes Altersheim begeben und jede Zeile dieses hervorragenden Schreibstils aufsaugen. Vielleicht können wir uns mit Hilfe dieses wunderbaren Romans einer dreissig Jahre jungen Schriftstellerin auf das unverhinderbare alt werden vorbereiten, es versuchen anzunehmen, um letztendlich das alt sein mit Lust und Freude zu geniessen, bevor es zu spät ist!

Durchgelesen – „Frühstück mit Proust“ v. Frédérique Deghelt

„Frühstück mit Proust“ ist ein charmanter Roman, in dem zwei Frauen – eine Grossmutter und eine Enkelin – die Hauptrolle spielen. Frédérique Deghelt erzählt eine wunderbare Geschichte, die sich um die Fragen des Älterwerdens dreht und warum Bücher und Lesen ein wichtiges Lebenselixier sein können.

Frédérique Deghelt hat bereits viele Romane veröffentlicht und arbeitet als Journalistin und Fernsehregisseurin. Sie lebt in Paris, nur wenn Sie gerade mal nicht auf Reisen ist, denn sie ist eine wahre Kosmopolitin.

Der Roman wird erzählt aus der Perspektive der Enkelin Jade und aus der Sicht der Grossmutter Jeanne, die Jade Mamoune nennt. Die Geschichte beginnt dramatisch, da Jade’s geliebte Grossmutter nach einem Sturz in ihrem Haus in ein Pflegeheim umziehen soll. Mamoune’s Mann war vor drei Jahren gestorben, sie hatte seitdem allein gelebt und fühlte sich etwas hilflos. Das Pflegeheim wurde organisiert durch ihre zwei Töchter (Jade’s Tanten), das in ein raffiniertes Probewohnen verpackt wurde, aber letztendlich als Dauerlösung sich entwickelt hätte. Mamoune liebte ihr Haus und vor allem ihren Garten, deshalb wäre das Pflegeheim sicherlich ihr Untergang. Doch es kommt anders als Mamoune jemals gedacht hätte. Jade entschliesst sich, ihrer Grossmutter zu helfen und sie vor dem Altersheim zu retten. Sie entführt Mamoune nach Paris, wo sie lebt und gründet mir ihr eine nicht ganz ungewöhnliche WG.

Jade möchte all die Liebe, die sie als Kind von ihrer Grossmutter bekommen hat, wieder zurückgeben. Bis jetzt war Mamoune für sie eine warmherzige Frau: eine Bäuerin, eine Frau ohne Bildung und eine beliebte Kinderfrau. Doch plötzlich entdeckt Jade ganz neue Seiten an ihrer geliebten Grossmutter. Jade arbeitet als Journalistin freiberuflich in Paris und hat einen Roman geschrieben, der bereits von verschiedensten Verlegern abgelehnt wurde. Sie ist besonders überrascht, als ihr Mamoune angeboten hatte : „Ich könnte dir vielleicht helfen …“ Jade war irritiert, denn wie sollte sie ihr helfen wollen. Ja und dann erklärte ihr Mamoune warum sie ihr die Hilfe anbieten möchte und auch könnte:

„«Ich habe immer viel gelesen, schon vor ganz langer Zeit. Ich bin eine begeisterte Leserin, ein richtiger Büchernarr, kann man sagen. Bücher waren meine heimliche Liebe, mit ihnen habe ich deinen Grossvater betrogen, der unser ganzes gemeinsames Leben lang nichts davon wusste.»“

Sie erzählte Jade, wann und wie sie heimlich gelesen hatte, damit es ja auch niemand mitbekam. Denn für die Tochter eines Bergbauerns und später als Frau eines Arbeiters war es eher ungewöhnlich, Lesen zu können und zu wollen. Literatur war für die Reichen und Gebildeten, und nichts für jemanden, der gerade mal die Grundschule besucht hatte. Somit musste sich Mamoune etwas einfallen lassen. Immer dann, wenn sie die Babys und Kinder gehütet hatte, las sie ihnen vor: Auszüge von Hugo, Flaubert und Joyce. Sie verwendete die Bibel als „Schutzumschlag“, um diskret Proust lesen zu können. Und so tauchte sie ganz langsam und heimlich ein in die Welt der Literatur.

Jade ist überrascht und begeistert zu gleich. Die zwei Damen verstehen sich immer besser und kommen sich auf eine ganz besondere Weise durch die gemeinsame Leidenschaft des Lesens immer näher. Mamoune hilft im Haushalt, kocht und räumt auf, um Jade das Leben so schön wie möglich zu machen. Aber sie entdeckt auch Paris, das Viertel am Montmartre, wo sie nun lebt. Sie lernt mit dem Internet umzugehen, besorgt sich eine Email-Adresse, begibt sich ganz besonnen auf die Suche nach einem Verleger für Jade’s Roman und sie verliebt sich zu ihrer eigenen und Jade’s Überraschung….

„Frühstück mit Proust“ ist eine entzückende Geschichte über das Lesen und das Alter. Raffiniert und feinfühlig enthüllt Frédérique Deghelt viele Fragen, mit denen wir konfrontiert werden und die wir uns sicherlich immer wieder stellen müssen: Wie gehen wir mit älteren Menschen um? Ist das Altersheim die richtige Lösung? Können Jung und Alt unter einem Dach leben? Der Roman ist keines-falls trivial oder sentimental, nein er ist sehr realistisch. Auch die verschiedenen Erzählperspektiven von Seiten der Enkelin und Grossmutter eröffnen dem Leser ganz überraschende Sichtweisen, die Fréderique Deghelt intelligent und weise beschreibt. Das Buch ist keine intellektuelle Diskussion über Autoren und Literatur, sondern ein sehr herzliches und bewegendes Buch über den Sinn des Lebens.

„Frühstück mit Proust“ ist ein bezaubernder und einnehmender Roman, der sich wunderbar für seelenerwärmende Stunden in den eher kühlen und grauen Novembertagen eignet, aber auch sehr zum Nachdenken anregt, spätestens dann, wenn man den Epilog am Ende des Buches gelesen hat.