Durchgeblättert – „Die Sommerhäuser der Dichter“ v. Thomas Lardon

„Am offnen Fenster lehnt im Sommerhaus

Maria, blickend in das Meer hinaus.

Sie sieht der Sonne letzte Gluten schwinden,

Sie überläßt ihr blondes Haar den Winden,

Die freudig mit der Lockenbeute schwanken,

Und ihre Seele sinnigen Gedanken.“

Spätestens beim Lesen dieses Auszugs aus dem Gedicht „Der Maler“ von Nikolaus Lenau sehnt sich jeder ein wenig nach einem Sommerhaus, das Ruhe-Refugium und Inspirationsquelle zugleich sein könnte. Somit ist es nicht überraschend, dass gerade Dichter und Schriftsteller den Traum eines Sommerhauses verwirklichen mussten und konnten.

Thomas Lardon, Herausgeber und Unternehmer im Verlags- und Kunstbereich, hat Zeit und Muse investiert, um nach den schriftstellerischen Kreativ-Orten, an denen die schönste Zeit des Jahres verbracht wurde, zu suchen. Mit seinem von ihm aktuell erschienen Werk „Die Sommerhäuser der Dichter“ dürfen wir nun auf eine ganz besondere Reise gehen.

Bestimmte Autoren suchten die inspirierende Ruhe und Kühle auf dem Land wie zum Beispiel Bertolt Brecht. Er verbrachte mit Helene Weigel die Sommermonate in Buckow, wo einer der wichtigsten Werke der deutschsprachigen Lyrik, der Gedichtzyklus „Buckower Elegien“, entstanden ist. Edward Said fuhr als Kind jedes Jahr mit seinen Eltern von Kairo aus mit Taxis und Zug in das libanesisches Bergdorf Dhur el-Shweir. Jean-Cocteau arbeitete am Liebsten in seinem Haus in Milly-La-Forêt, eine Stunde südlich von Paris entfernt. Heinrich Böll hatte ein ländliches „Versteck“ in der Eifel. Hermann Hesse konnte gleich zwischen mehreren Sommerhäusern wählen und Rimbaud kehrte, obwohl er die Ardennen schrecklich spiessig fand, immer wieder in sein Landhaus zum Arbeiten zurück. Inzwischen hat die Punk- und Rockmusikerin Patti Smith, die eine grosse Rimbaud-Verehrerin ist, sein Haus gekauft.

Einige Schriftsteller brauchten die Nähe zum Wasser. Günter Grass zog sich oft zum Schreiben an seinem Roman „Der Butt“ auf die kleine dänischen Insel Mon zurück. Gerhart Hauptmann freute sich sehr über die Natur am Hiddensee, der eine Schaffensquelle für ihn war. Und wieder andere Dichter fanden ihr Sommerhaus in einer Stadt, wie bespielsweise Anton Tschechow, der den dazugehörigen üppigen Garten in Jalta zu seiner Oase gestaltete.

Die Bedürfnisse der Dichter, aber auch Wünsche, das richtige Sommerhaus zu finden und zu bewohnen, konnten nicht unterschiedlicher sein. Dieses wirklich wunderschön gestaltete Buch verführt vor allem durch die hervorragenden Texte, die mit feinem und sehr ansprechendem Fotomaterial ergänzt werden. Wir entdecken unbekannte Orte und unberührte Landschaften und bekommen sehr persönliche Einblicke in das Sommer-Leben von mehr als 30 Dichterinnen und Dichtern, die dank ihrer intimen und kenntnisreichen Porträts sehr neugierig machen.

Welche.r Leser.in würde nicht gerne auch im Juni jetzt den Koffer packen und die nächsten Monate in seinem eigenen Sommerhaus verbringen. Träume nach einem luftig leichten Leben im ganz persönlichen Garten Eden auf dem Land, am Meeresstrand oder auch im urbanen Sommerflair lassen sich eventuell nicht erfüllen.

Doch jetzt gibt es „Die Sommerhäuser der Dichter“, das perfekte Buch für die heisse Jahreszeit, das die Sehnsüchte nach literarischer Sommerfrische, Meeresbrise, Bergluft und Stadtgartenglück in so traumhaft schöner Weise stillt und uns beim Lesen ein wahres und unvergängliches Sommerglück schenkt.

Durchgeblättert – „Literaturhotels“ v. Barbara Schaefer

Friedrich Hebbel brachte es mit diesem Zitat auf den Punkt: „Eine Reise ist ein Trunk aus der Quelle des Lebens“.

Nur leider kann in den aktuellen komplexen Zeiten sich kaum jemand an diesem so essentiellen und lebenswichtigen Trunk laben. Glücklicherweise vermögen Bücher ein wenig hinwegtrösten und dem Leser eine andere Art des „Reisens“ erlauben.

Gut geeignet sind dazu Bildbände, die sich auch noch mit dem Reisen und insbesonderen mit dem literarischen Reisen beschäftigen. Barbara Schaefer, inzwischen als freie Autorin aktiv, hat Theaterwissenschaften und Germanistik in München und Italien studiert. Sie hat eine grosse Vorliebe für ungewöhnliche Hotels, im Besonderen Literaturhotels, denen sie ihr aktuell erschienenes Buch widmet. 

Charmant eingeführt über die Vorzüge in einem Hotel zu schreiben oder als Schriftsteller doch lieber das eigene Heim zu preferieren, begleitet uns Barbara Schaefer mit ihren sehr informativen und charmanten Texten durch eine Reise von 19 Hotels, in denen Literatur und Bücher entstanden sind, die aber auch Fluchtort und Heimat für viele bedeutende Schrifsteller wurden.

Die Reise beginnt in Deutschland, über Österreich in die Schweiz, dann nach Italien und Frankreich. Sie führt weiter nach England, Schottland und Polen. Lässt den Leser einen Abstecher in die Türkei machen, wirft gleich zwei Blicke nach Thailand und einen in die USA. 

Ein paar Hotels, wie das Adlon in Berlin und das Waldhaus Sils Maria in der Schweiz sind sicher bei vielen literarisch Interessierten bekannt. Doch wir entdecken viel Neues, wie das Bauhaus-Hotel Albergo Fondazione Monte Verità im schweizerischen Tessin, in dem Hermann Hesse einige Zeit verbrachte. Oder das Belmond Hotel Timeo in Südsizilien, auf dessen Terrasse D.H. Lawrence gelegentlich gesehen wurde. 

Wer noch nicht das berühmte Werk „Hotel Savoy“ von Joseph Roth gelesen hat, sollte unbedingt im gleichnamigen Hotel in der Altstadt von Lodz (Polen) Roth-Luft schnuppern. Am Ende dieser „Buch-Reise“ besuchen wir noch ein im ersten Moment eher unbekanntes Hotel – „The Algonquin“, das älteste Hotel von New York City. Berühmt wurde dieses Hotel durch seinen legendären Literaturzirkel, den „Algonquin Round Table“ und bei dem die Theaterkritikerin Dorothy Parker eine zentrale Rolle spielte.

„Literaturhotels“ ist ein wirklich schön gestaltetes Werk, einladend natürlich auch durch diverse wundervolle Bilder aus den Hotels und den dazugehörigen Landschaften und Städten. Ein Buch, das die Sehnsucht nach Ferne, nach Flucht, nach Ankommen und nach Genuss zu einem gewissen Punkt erfüllen kann. Doch am Ende hilft nur die wahre Reise selbst, wie Gogol treffend formulierte: „Wie schön ist eine lange, lange Reise! Wie oft habe ich danach wie nach einem Rettungsanker gegriffen! Und wie oft hat mich so eine Reise errettet!“

Geniessen wir fürs Erste diesen schönen Bildband und gleichzeitig hoffen wir, dass uns bald eine echte Reise zu diesen besonderen Literaturhotels im Sinne von Gogol „erretten“ kann!

Durchgeblättert – „Do You Read Me“ – Besondere Buchläden und ihre Geschichten

Philippe Djian hatte bereits klar erkannt: „Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“

Und um dieses kaum zu übertreffende Zitat noch konkreter zu erleben, sollte es im wahrsten Sinne des Wortes Bücher auf Rezept geben, die das Leben herausfordern, hinterfragen und bereichern. Ja und genau so ein Buch hat gerade das „Licht der Welt“ erblickt, einer ganz besonderen Welt – der Welt der Buchläden. 

Buchhandlungen sind Orte, die Fragen zu lassen, in denen man Antworten findet, die zu literarischen Reisen einladen, die Informationen und Kultur vermitteln, die Möglichkeiten des Austausches bieten, die Ablenkung nicht nur vortäuschen und die Aktualität mit Beständigkeit elegant verknüpfen.

„Do You Read Me“, ein wunderschön gestalteter Bildband über genau diese Buch-Orte, ist zur Zeit das interessanteste und abwechslungsreichste Buch über Buchläden und ihre dazugehörigen unerlässlich spannenden Geschichten. Der Titel des Buches wurde der Buchhandlung „Do You Read me“ aus Berlin „entliehen“, die ein eher ungewöhnliches Buchhandlungskonzept vorweist, welches Magazinen aus aller Welt mehr Bedeutung in Auswahl und Platz schenkt, als dem zusätzlich angebotenen aussergewöhnlichen Buchsortiment.

Über 60 Buchhandlungen bzw. Buchläden werden in diesem Werk mit grandiosem Bildmaterial und fein kuratierten Texten vorgestellt. Die Auswahl ist absolut international, neben bereits auch berühmt bekannten Buchhandlungen wie „Shakespeare & Company“ in Paris oder der „Boekhandel Dominicanen“ in Maastricht, entdecken wir bezaubernde und atemberaubende Buch-Paradiese und Buch-Kleinode, die ihresgleichen suchen.

Da gibt es beispielsweise ein charmant in Türkisfarben gehaltenes Buchladen-Café in Istanbul oder ein spektakuläres Buchhandlungskonzept in Mexiko-Stadt, bei der im jüngsten Buchhandlungprojekt „Cafebreria El Péndulo“ eine riesige Palme mitten in der Buchhandlung steht und aus deren Dach ragen darf. In Island wird ein entzückendes kleines Antiquariat „Bokin“ zum Kulturbotschafter. Die USA zeigt eine Fülle von faszinierenden unabhängigen Buchhandlungen, die mehr als klassisches Engagement beweisen, wie zum Beispiel der Initiator „Michael Seidenberg“ seines vollkommen „geheimen“ Buchladens – „Brazenhead Books“ in New York City -, den er aus und mit seinem eigenen Appartement gemacht hatte. Aber auch eine schwimmende Buchhandlung mit dem Titel „The Book Barge“, die am Canal du Nivernais in Frankreich liegt, sorgt für Erstaunen.

Richtig spektakulär darf es natürlich auch sein, vor allem wenn man die Bilder der Buchhandlung „WUGUAN BOOKS“ aus Kaohsiung (Taiwan) bewundert, denn in dieser Buchhandlung werden ungefähr 400 Bücher in absoluter Dunkelheit mit jeweils eigenem Licht präsentiert. Oder vollkommen unverwechselbar, wenn man sich die Buchhandlung „Morioka Shoten“ in Tokio ansieht. Hier wird nur ein einziges Buch zum Verkauf angeboten!

Die vielfältige Auswahl an Buchläden in diesem Werk ist beeindruckend, inspirierend und motivierend zugleich. Die hier präsentierten Buchhandlungen sind auf verschiedenste Weise und in  ihrer Kombination inhaltlich, aber auch gestalterisch und architektonisch die wundervollsten „Meisterwerke“ in Punkto Lese-Paradiese!

Kaum verwunderlich, dass bereits in einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung dieses Buch als „Verneigung vor einer fantastischen Institution: der Buchhandlung“ bezeichnet wird. Es könnte sogar noch mehr sein als „nur“ die Verneigung vor der Institution Buchhandlung. 

Selbstverständlich ist es auch die Verneigung vor den buch-begeisterten Köpfen, kreativen Initiatoren und kompetenten Buchhändlern, die diese Lese-Orte mit gebührendem Engagement und grosser Leidenschaft geschaffen haben und weiterhin alles dafür tun, sie langfristig anziehend und lebendig zu halten. Doch vergessen wir nicht den Leser, Buchliebhaber und potentiellen Kunden, der genau diese Buchläden regelmässig frequentiert, schätzt, liebt, verehrt und belebt. Und genau diesem Bücherfreund gebührt gleichwohl eine eben so grosse Verneigung, die man in der aktuellen Zeit auf keinem Fall unerwähnt lassen sollte!

„Do You Read Me“ ist ein grandioses „Sammelsurium“ der unterschiedlichsten Buchhandlungen jedoch mit einer grossen Gemeinsamkeit: diese Buchläden geben eine Art „Zuhause“, erfüllen Wünsche und schenken uns – wie bereits Mark Forsyth in seinem Essay erläuterte – eine besondere und unverwechselbare Art des Glücks, nämlich „das große Glück, das zu finden, wonach man gar nicht gesucht hat“!

Durchgelesen – „Das Ensemble“ v. Aja Gabel

Das Streichquartett ist eine der wichtigsten Gattungen der abendländischen Musikgeschichte. Es bezeichnet aber auch die Zusammensetzung eines Ensembles, das aus zwei Violinen, einer Bratsche und eines Cellos besteht, die von vier Musikern gespielt werden. Bereits Goethe hatte in einem Streichquartett nicht nur eine Musikgattung, sondern auch eine Zusammenführung von vier musizierenden Menschen gesehen:

„Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“

Und von genau vier solch „vernünftigen“ und in diesem Falle jungen Leuten erzählt dieser besondere Roman „Das Ensemble“ von Aja Gabel, der gerade aktuell dank der wunderbaren Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence in deutscher Sprache erschienen ist. 

Der Roman von Aja Gabel ist nicht nur eine Geschichte von vier Musikern, es sind eigentlich vier Geschichten von vier Mitgliedern eines Streichquartetts – eines Ensembles: die Erfolgsgeschichte, die Leidensgeschichte und vor allem die Liebes- und Freundschaftsgeschichte.

Es gibt vier Hauptcharaktere – vier Freunde –  und jeder hat eine einzelne Stimme, nicht nur im musikalisches Sinne, sondern auch im Lebenssinne und diese vier Einzelstimmen müssen in ihren einzelnen Persönlichkeiten in das komplexe Ensemble integriert und dazu zu einer musikalischen Stimme vereint werden.

Da gibt es Jana, 24 Jahre alt, die erste Geigerin, eine zielstrebige, zeitweise hektische Musikerin, die das absolute Gehör hat, auf Selbstvertrauen baut und sich von ihrer unerlässlich aufstrebenden Mutter, eine berühmte Schauspielerin zu sein, zu distanzieren versucht.

Henry, Bratschist, der jüngste des Quartetts und ein echtes Wunderkind. Dies sorgt nicht nur für Erstauen bei den anderen drei Musikern, sondern hin und wieder auch für Neid und grosse Auseinandersetzungen.

Dann treffen wir auf Daniel, den Cellisten dieses Ensembles, ein Musiker, der spät zur Musik kam, ein Musiker, der viel arbeiten bzw. üben muss, um den musikalischen Ansprüchen der anderen Drei gerecht zu werden.

Und dann gibt es noch Brit, die zweite Violinistin. Sie ist eine unverbesserliche Romantikerin, die manchmal den Schwerpunkt ihres Lebens nicht in die Musik legt, sondern sich lieber mit der Gründung einer eigenen Familie beschäftigt.

Diese vier Personen formen das Van-Ness-Quartett, sie lernen sich im Konservatorium kennen, befreunden sich und vereinen sich zu einem Ensemble, das in einer Zeitspanne von 1994 bis 2010 durch viele Höhen und vor allem auch Tiefen gehen muss. Die Musiker vermasseln einen Wettbewerb, sie streiten, sie kämpfen mit Missgunst und Unverständnis, sie planen die nächsten Konzerte, üben bis zum Umfallen und stehen auch vor vielen menschlichen und ganz persönlichen Entscheidungen…

Aja Gabel hat einen sehr intensiven, emotionalen, spannenden und auch aktionsvollen Debüt-Roman geschrieben, der mehr als nur das vielschichtige Leben und Wirken eines Streichquartetts erzählt. Diese enge Verknüpfung, diese Freundschaft, diese Nähe zwischen diesen vier Musikern, ist jederzeit übertragbar auf andere Freundesgruppen und Familien, die auch wie diese vier Musiker um Akzeptanz, Anerkennung, Wertschätzung und Respekt innerhalb ihres Ensembles hart arbeiten und kämpfen. 

Mit grosser Hingabe und Einfühlungsvermögen werden durch die Musik als Inbegriff der zwischenmenschlichen Kommunikation neue Erlebnisse, Konflikte und Lösungen vermittelt, die den Leser nicht nur in den Bann ziehen, sondern auch emotional berühren und aufrühren. Und trotz des – für den Laien – so unfassbar vorstellbaren Erfolgsdrucks eines Musikers, erleben wir diese vier sehr unterschiedlichen Charaktere, wie stark sie doch – schwankend zwischen spannungsgeladenen Differenzen und tief gehendem Einvernehmen – miteinander eng zusammengehören.

Das „Ensemble“ ist ein grossartiges Buch, das man bereits nach den ersten Seiten nicht mehr aus der Hand legen kann. Und dieser Roman ist ein besonderes Geschenk, das den Leser nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch verführt und man bereits während der Lektüre grosse Lust verspürt, so manch berühmtes Streichquartett sei es von Beethoven, Dvorak, Haydn, Mendelssohn, Mozart, Ravel, Schostakowitsch und Tschaikowski endlich neu oder wieder zu entdecken!

Durchgeblättert – „Wo Frauen ihre Bücher schreiben“ v. Tania Schlie

Schreiben und Glück gehört irgendwie zusammen. Bereits Jean Paul konnte dies mit seinem wunderbaren Zitat – „Solange ein Mensch ein Buch schreibt, kann er nicht unglücklich sein“ – perfekt bestätigen. Doch wo schreiben eigentlich Menschen und insbesondere Frauen ihre Bücher? Eine nicht ganz unwichtige Frage, die sich dank der enthusiastischen Recherche und dem guten Gespür an biographischen Entdeckungen nun mit dem sehr interessanten und anspruchsvoll gestalteten Buch „Wo Frauen ihre Bücher schreiben“ sehr gut beantworten lässt.

Tania Schlie (geb. 1961 in Hamburg), Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin hat mit ihrem neuen Werk ein wahrlich wissenswertes Thema rund um das Schreibverhalten von Frauen sehr ansprechend und äusserst informativ aufbereitet. Es geht um den Ort des Schreibens, konkret nicht nur um ein Land, eine Stadt oder ein Dorf, nein es geht um den Arbeitsplatz oder besser gesagt um den Schreibort. Das kann ein – kombiniert mit unterschiedlichen Ritualen – immer festgelegter Platz sein, der verschiedenster räumlicher und psychologischer Begleitumstände bedarf, die das Schreiben nicht nur erleichtern und vereinfachen, sondern auch effizienter und erfolgreicher gestalten können.

Elke Heidenreich hat hier in ihrem sehr persönlichen Vorwort ihren Schreibort wunderbar erläutert und wir können erstaunt feststellen, dass sie über den besonderen Luxus verfügt, drei Schreibtische zu besitzen, die für die unterschiedlichsten Arten des Schreibens von ihr dementsprechend eingesetzt werden. Doch dieses Privileg hatten in früheren Zeiten leider nur sehr wenige Schriftstellerinnen; sie mussten zum Teil mit dem Küchen- bzw. Esstisch vorlieb nehmen, wie zum Beispiel Jane Austen oder Charlotte Brontë, die sogar mit ihren zwei Schwestern gemeinsam im Esszimmer ihre Bücher schrieb.

Aber auch das Café zählte zu einem der wichtigsten und beliebtesten Schreibplätze für viele Autorinnen. Während der Besatzungszeit beispielsweise war es der wesentlich besser geheizte Ort. Und für Simone de Beauvoir, die alle ihre Bücher in Cafés geschrieben hatte, nicht nur ein Arbeits- genauso eine Art Lebensort zum Essen und zum Freunde treffen. Auch Nathalie Sarraute ging jeden Tag für vier Stunden in ein libanesisches Café in Paris, um ihren Kindern und dem Anwaltsalltag ihres Mannes zu entfliehen. Dorothy Parker konnte über viele Jahre hinweg nur in möblierten Hotelzimmern arbeiten. Ja und nicht nur für François Sagan war die brennende Zigarette ein unabdingbares „Konzentrationsmittel“. Viele andere Schriftstellerinnen, wie beispielsweise Elizabeth Bowen, fühlten sich im Tabakduft irgendwie wohl und aufgehoben. Gertrude Stein dagegen brauchte noch etwas ganz anderes, das sie in ihrem Schreiben unterstützte und beflügelte, nämlich Kunst. Sie sammelte bereits früh die unterschiedlichsten Meisterwerke der Moderne und wurde durch die Kunst, die an ihren Wänden ihres Arbeitszimmers hing, nicht immer nur positiv inspiriert und musste sich deshalb sogar von so manchem Kunstwerk trennen, da es ihren Schreibprozess eher zu blockieren schien.

Einige Autorinnen konnten überall schreiben, reisten viel, benötigten ihre Schreibmaschine als klassisches Arbeitsmittel und der Arbeitsort war völlig gleichgültig, ob in der Wiese, auf der Terrasse oder in einem Raum an einem beliebigen Tisch. Es gibt aber auch Schriftstellerinnen, die ihren eigenen konkreten Ort zum Schreiben brauchten. Sei es ein separates Zimmer wie bei Virginia Woolf und Alice Walker, oder aber auch nur der einzig wahre Schreibtisch bzw. Schreibort, wie bei Nadine Gordimer oder Colette, die nur im Bett auf ihrem dafür eigens konzipierten Schreibpult produktiv sein konnte.

Viele oder man könnte fast schon sagen, die meisten dieser Autorinnen sind dem Schreiben so zugetan, dass es für sie das eigentliche, ja das wahre Leben bedeutete, aber es gibt auch Ausnahmen, bei denen das Schreiben, ein echter Brotberuf war und vor allem das Geld zählte. George Sand gehörte zu dieser Kategorie. Sie konnte sage und schreibe bis zu dreizehn Stunden am Tag arbeiten und versuchte sich dabei nachts mit Unmengen von Kaffee und Zigaretten wachzuhalten. Aber auch Agatha Christie, die mehr als 70 Bücher geschrieben hatte, arbeitete für eine neue Loggia an ihrem Haus. Es ging ihr um die pragmatischen Aspekte und keineswegs um die Verklärung des Schreibens.

Fast 40 schreibende Frauen und ihre Arbeitsplätze mit den dazu verbundenen Arbeitsgewohnheiten dürfen wir in diesem so fabelhaft konzipierten Buch – dank auch der faszinierenden Fotos von einigen dieser Schreiborte – erstmals kennenlernen. Tania Schlie hat nicht nur intensiv geforscht, sie hat auch sehr subtil und ganz vorsichtig die Türen zu den Schreibplätzen dieser aussergewöhnlichen Frauen geöffnet. Wir spüren die unterschiedlichen Plätze auf, fühlen uns sofort eingeladen in die verschiedenen „Arbeitszimmer“ dieser ausgewählten Schriftstellerinnen und erkunden die Einrichtung, drücken die Tasten der Schreibmaschine oder nehmen die Bleistifte bzw. Füllfederhalter zur Hand, riechen den Tabakrauch oder hören auch die Nebengeräusche in den Cafés. Kurzum der Leser wird Teil einer ganz besonderen Welt, der sogenannten weiblichen Schreibwelt. Ja und somit müssen wir uns nicht im Geringsten wundern, wenn wir, selbst als Leser, uns vielleicht auch nach einem genauso vergleichbaren „Ort“ des Schreibens bzw. Arbeitens sehnen!

„Wo Frauen ihre Bücher schreiben“ ist ein glanzvoll illustrierter Bild- und Textband, der nicht nur Schreiborte, sondern ganze und vor allem auch in gewisser Weise sehr persönliche und intime geistige Lebensräume von beeindruckenden Schriftstellerinnen präsentiert. Seien Sie gewiss, verehrter Leser, spätestens nach der Lektüre dieses Buches werden Sie Ihre Neugierde bezüglich der Frage nach dem „Wo“ Frauen schreiben stillen können, doch gleichzeitig werden die neuen Fragen nach dem „Was“ und „Wie“ sie schreiben nicht lange auf sich warten lassen und das literarische Verlangen, diese Schriftstellerinnen auch in ihrem Werk kennenzulernen, kaum mehr zu bändigen sein!

Durchgeblättert – „HIER“ v. Richard McGuire

Bereits vor 25 Jahren hat Richard McGuire (geboren 1957 in New Jersey) die Urfassung für diese Graphic Novel geschaffen. 1989 erschien „Here“ zum ersten Mal als eine sechsseitige schwarz-weiss Comicerzählung in dem legendären RAW-Magazin, das von Art Spiegelman gegründet wurde. Richard McGuire arbeitet als Coverillustrator für verschiedene Zeitungen und Magazine wie zum Beispiel The New Yorker, The New York Times, Libération und Le Monde. Er ist aber auch als Graphikdesigner, Comic-Artist, Kinderbuchautor und Musiker tätig – er war Gründungsmitglied und Bassist der berühmten Postpunk-Band Liquid Liquid. 2010 hat McGuire angekündigt, seinen ursprünglich sechsseitigen Comic als grosse farbige Version auszubauen. Und jetzt ganz aktuell liegt nun dieses faszinierende neue Wunder-Werk „HIER“ auch in einer deutschen Ausgabe vor unseren Augen, bei dem wir nun 300-Seiten lang nicht nur eine ganz neue „Lebensform“, sondern auch eine vollkommen neue „Leseform“ entdecken können!

Die „Story“ spielt hauptsächlich in einem Zimmer (links ein Fenster, rechts ein Kamin) mit dem Blick auf eine Ecke gerichtet. Der Ort bleibt fast immer der Gleiche, nur die Zeit wechselt von Seite zu Seite. Bereits in den ersten zehn Seiten springen wir von 2014 auf 1942, zu 2007 auf 1957, zurück nach 1623, vor bis 1955 und 1989 und landen letztendlich kurz im Jahr 8000 v. Chr. und arbeiten uns wieder auf 1000 Jahre v. Chr. vor. Und so weiter… Wir beobachten verschiedene Situationen, spielende Kinder, diskutierende Erwachsene, Landschaften und Häuser. Manche Bilder bieten mehrere Zeitzonen, so da dass wir von einer Vor-und Rückschau gleichzeitig eingenommen werden. Wir sehen auf einem Blick, was gestern passiert ist und morgen passieren wird.

„HIER“ ist kein klassischer Comic, man „liest“ im gesamten Bild, das die jeweilige Doppelseite des Buches ausfüllt. Der Leser kann aber zusätzlich in vielen dieser Bilder auch noch die eingefügten Vor- und Rückblendungen in eigenen Bilder-Kästen miterleben. Die meist dargestellten Personen kommunizieren durch ihre Sprechblasen. Somit entsteht in vielen Bildsequenzen eine Art überlappende Erzählsituation, die durch den Hauptrahmen des Zimmers seine Basis und auch eine gewisse visuelle Sicherheit erhält.

Richard McGuire präsentiert mit seiner mehr als aussergewöhnlichen Graphic Novel eine ganz neue und andere Erzähldimension, die wir bis jetzt noch nie so erleben durften. „HIER“ ist Erzählung, vielleicht auch Detektivstory, aber vor allem auch eine Art Meditation über die Unbeständigkeit des Lebens. Wir glauben im jetzt zu denken, spüren jedoch parallel den Einfluss der Vergangenheit und versuchen uns gleichzeitig auch noch an der Umsetzung der Zukunft. Ja und genau da setzt dieses „Kunst-Werk“ an. Es stellt viele Fragen – gleich zu Beginn – „HM… WAS WOLLTE ICH NOCH GLEICH HIER?“ – und gibt nur wenige oder gar keine Antworten.

„HIER“ ist eine so unglaublich faszinierend rastlose Zeitreise, die den Leser mit so kunstvollen Bildern beschenkt, die teilweise ein wenig an die Maler Edward Hopper und René Magritte erinnern. Doch denkt man beim Erlesen dieser besonderen „Gemälde“ ganz spontan auch an Autoren wie Marcel Proust mit seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“, an Thomas Bernhard und sein „Weltenstück“ oder natürlich auch an H.G. Wells „Zeitmaschine“. Richard McGuire hat mit diesem Buch ein wahres Comic-Wunder geschaffen. Beim ersten Blättern, sei es chronologisch von Seite 1 folgend, oder auch spontan aus der Mitte heraus, fühlt man sich als Leser irgendwie sofort wohl in diesem Zimmer mit dem Fokus auf diese besagte Ecke, die perfekt durch den Bundsteg des Buches definiert wird. Der Leser taucht ein in die so einzigartigen Bilder, bleibt hängen und beginnt fast schon automatisch eine ganz persönliche Reise durch sein Leben, seine Erinnerungen und seine Zukunftsvisionen. Staunen, Träumen und Besinnen könnte nicht schöner und nachhaltiger in diesem Werk vereint werden, deshalb werden Liebhaber besonderer Bücher und Graphic-Novel-Freunde von solch vollendeter Comic-Kunst unendlich begeistert sein!

Durchgelesen – „Miss Nightingale in Paris“ v. Cynthia Ozick

Auch wenn man glaubt, das Leben anderer Menschen, wie Familienmitglieder, Freunde und Kollegen, so einfach verändern zu können, umso schwieriger ist es – ja gerade zu fast schon unmöglich -, sein eigenes Leben und die dazugehörige Persönlichkeit zu ändern. Und genau von diesem Konflikt wird uns Cynthia Ozick in ihrem Roman „Miss Nightingale in Paris“ erzählen.

Cynthia Ozick, geboren 1928 in New York City, zählt zu den grossen amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie wuchs als Tochter eines jüdisch-litauischen Apothekerehepaars in der Bronx auf. Nach dem Besuch der jüdischen Schule, trat sie in das Hunter College in New York ein und absolvierte an der Ohio State University ihre Literaturstudien, die sie mit einer Arbeit über „Parable in the Later Novels of Henry James“ beendete. Somit ist es nicht allzu verwunderlich, dass nicht nur viele ihrer Essays, sondern auch einige Romane in enger Verbindung mit Henry James stehen. 1986 erhielt Cynthia Ozick als erste Preisträgerin eine Auszeichnung für Kurzgeschichten, den „Rea Award for the Short Story“. Und 2008 wurde sie mit dem „Nabokov Award“ des P.E.N. geehrt. Ihr Werk umfasst eine Fülle von Erzählungen, Essays und sechs Romane. Der erste Roman „Trust“ erschien 1966 und der sechste und somit im Moment der letzte wurde 2010 in USA unter dem Titel „Foreign Bodies“ veröffentlicht und wird nun ganz aktuell – dank der Übersetzung von Anna Leube und Dietrich Leube – dem deutschsprachigen Lesepublikum vorgestellt.

Die Geschichte spielt 1952 in Paris, New York und Kalifornien. Die Hauptdarstellerin ist Beatrice Nightingale – genannt Bea -, eine gerade frisch geschiedene Lehrerin aus New York. Bea versucht ihren Schülern Shakespeare näher zubringen und lebt seit ihrer Scheidung in einem kleinen Appartement, was durch den Flügel ihres Ex-Mannes mehr als dominiert wird und sie in vielerlei Hinsicht platzmässig sehr einschränkt. Im Sommer 1952 erhält sie einen Brief von ihrem reichen Bruder Marvin aus Kalifornien, der sie darin bittet, Julian – den Sohn von Marvin – aus Paris nach Kalifornien zurückzubringen. Julian ist seit drei Jahren in Paris, wollte eigentlich nur ein Jahr bleiben, ist aber bis jetzt nicht zu seinem Vater zurückgekehrt. Schlägt sich als Kellner in verschiedenen Pariser Cafés durch und versucht sich dem Schreiben von allerlei Artikeln daneben noch über Wasser zu halten.

Bea fährt tatsächlich nach Paris, sie sucht vor Ort nach Julian. Sie konnte ihn nicht finden. Angeblich hatte er eine Freundin und jetzt war er mit dieser irgendwie verschwunden. Bea informiert ihren Bruder darüber nach ihrer New York Rückkehr. Marvin ist entsetzt, appelliert an Beas Verantwortungsgefühl. Julian ist das schwarze Schaf in der Familie, laut seinem Vater einfach nur faul und hegt auch noch künstlerische Ambitionen. Denn in dieser Familie gab es auch noch Iris, die Schwester von Julian, und die Vorzeigetochter von Marvin. Sie studierte bereits fleissig und schien zumindest nach Aussen hin und vor allem für ihren Vater, dabei zufrieden und glücklich zu sein.

Nachdem nun der erste Rückholversuch durch Bea gescheitert war, wurde nun ein zweiter Anlauf unternommen mit der Unterstützung von Iris. Sie sollte ihre Tante aufsuchen, welche sie seit ihrem zweiten Lebensjahr nie mehr gesehen hatte, und Bea nochmals genauestens über Julian informieren, damit die erneute Aktion durch Bea in Paris dieses Mal zum Erfolg führen könnte. Iris fliegt kurzer Hand von Kalifornien nach New York, trifft Bea, bleibt so gar eine Nacht bei ihr, offiziell sogar eine Woche, und reist inoffiziell jedoch selbst nach Paris, um ihren Bruder aufzusuchen. Das hatte Iris bereits die ganze Zeit vorher schon geplant, so dass letztendlich Bea mal wieder als Mittel zum Zweck und vor allem als diejenige dasteht, um ihrem Bruder alles oder nichts zu erklären. Der einzige Vorteil war, dass Bea nicht nochmal nach Paris musste. Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Denn nachdem Bea einen Brief aus Paris von Iris bekam und darin deutlich wurde, dass auch Iris nicht mehr zurückkehren möchte, vor allem nicht zu ihrem Vater, musste sie ein erneutes Mal die Reise nach Paris antreten:

Sie konnte diese Stadt nicht verstehen, sie war ein Rätsel, oder es war Paris, das alles erfasste, was durch seine Arterien lief, und sie war es, der Eindringling, der das Rätsel war.“

Durch die Hilfe von Iris konnte sie nun endlich in Paris Julian ausfindig machen. Überrascht trifft sie dabei nicht nur Iris, sondern auch die Freundin von Julian, die sich als seine Ehefrau herauskristallisiert und auch noch ein schweres Schicksal zu verkraften hat. Doch kann Bea wirklich ihren Neffen und ihre Nichte wieder dazu bewegen, nach Kalifornien und zu ihrem Vater zurückzukehren, dessen Frau und somit die Mutter von Iris und Julian, Marvin ebenfalls verlassen hat, in dem sie sich selbst in eine Klinik einweisen liess…?

„Miss Nightingale in Paris“ ist eine kuriose, absolut kurzweilige und gleichzeitig nicht ganz ungewöhnliche Geschichte. Jeder der Familienmitglieder flieht vor Marvin. Insofern trifft der amerikanische Titel „Foreign Bodies“ – frei übersetzt „Fremdkörper“ doch wesentlich mehr den eigentlich wunden Punkt in diesem Roman. Denn wer hier nun der bzw. die Fremdkörper sind erscheint im ersten Moment eigentlich klar: Julian und später auch Iris und irgendwie auch von Anfang an Bea. Doch der wahre Fremdkörper scheint hier doch eher Marvin zu sein, vor dem alle fliehen, der sein Leid auf andere überträgt und dabei noch den grossen Typen heraushängt, mit viel Geld winkt und somit hofft, dass alle das machen und das Leben so führen, wie er sich das vorstellt.

Dieser Roman hat aber noch ein weiteres Motiv versteckt. Es geht hier um den Vergleich zwischen „Neuer“ und „Alter Welt“. USA als die „neue“ und Europa – mit Paris als Stellvertreter – als „alte“ Welt. Ein klassischer Konflikt, der in den Fünfziger Jahren nicht zu unterschätzen war und in diesem Roman klar ausgesprochen wird:

„Es war Angst (Marvins Angst), die sie alle in einen einzigen schmutzigen Sack geworfen hatte – und Marvin, zu Hause in Kalifornien, zog die Schnur an dem Sack fester zu. Er hatte Angst vor Europa. Er hatte Angst vor Paris. Bea sah in ihm eine Art eingeschüchterten Naturmenschen – sein Paris war nicht mehr als die Platitüden der Postkarten, Eiffelturm, Arc de Triomphe; und darunter düstere, verseuchte, grausame Verliese, in denen sein Junge schmachtete.“

Doch die Hauptintension dieses so elegant und wundervoll erzählten Romans ist sicherlich die darin versteckte und gleichzeitig auch subtil und feinsinnig formulierte Hommage an Henry James (1843-1916), einem der wichtigsten amerikanischen Romanciers. Er hatte übrigens auch mehrere Jahre in Paris gelebt und in seinem Roman „Die Gesandten“ („The Ambassadors“ 1903) die Basis für die grandiose Variation von Cynthia Ozick gelegt. In Henry James Roman wird ein reicher amerikanischer älterer Mann von einer Dame – verwitwet -, die er zu heiraten beabsichtigt – nach Paris geschickt, um deren Sohn zurück zu holen. Cynthia Ozick hat dieses Motiv transparent in ihren Roman eingebettet und hinsichtlich der Hauptdarstellerin Beatrice Nightingale ohne Umschweife verarbeitet:

„Sie war eine Botin, eine Gesandte.“

Obwohl Cynthia Ozick in Amerika einen ausgezeichneten Ruf als perfekte Stilistin, charakterstarke Erzählerin und brillante Schriftstellerin hat, ist sie im deutschsprachigen Raum immer noch etwas unbekannt! Das sollten Sie, verehrter Leser, unbedingt ändern. Lesen Sie diesen stilvollen und äussert eindrucksvollen Roman und entdecken Sie eine grandiose Autorin, die uns hoffentlich noch mit weiteren Werken begeistern wird.

Henry David Thoreau – Gedicht

Der Sommerregen

Weg mit den Büchern, bin des Lesens satt,
Mein Geist schweift immer von den Seiten fort
Zur Wiese, wo er reichre Nahrung hat.
Sein wahres Ziel, das trifft er ja nur dort.

Plutarch war gut, Homer ist gut gewesen,
Wie Shakespeare lebte, lebten gern auch wir.
Plutarch hat nichts, was schön und wahr, gelesen,
Selbst Shakespeares Bücher sind ja nur Papier.

Was schert, wenn unterm Walnussbaum ich ruh,
Mich, was in Troja einst die Griechen machten,
Wo sich hier liefern auf dem Hügel nun
Die Ameisen sehr viel gerechtere Schlachten.

Homer mag warten, bis ich hab geklärt,
Gilt Rot der Götter Gunst, gilt Schwarz sie mehr,
Ob Ajax dorthin die Phalanx kehrt,
Den Felsblock stemmend gegen Feindesheer.

Sagt Shakespeare, dass er sich gedulden muss,
Bin just befasst mit einem Tropfen Tau,
Die Wolken, schaut, bereiten einen Guss.
Ich komm zu ihm, sobald der Himmel blau.

Von Waldtrespe und Wiesengras dies Beet
Ist edler als des Königs Park bereit,
Es ruht mein Haupt auf dem Plumeau aus Klee,
Mein Schuh hier zwischen Veilchenbüscheln schreitet.

Ein Wall aus heitren Wolken uns umringt,
Der laue Wind verheisst gelindes Wetter;
Nun fallen Tropfen, spärlich noch, beschwingt
Teils in den Teich, teil auf die Blütenblätter.

Zwar schon durchnässt auf meinem Gräserbett,
Seh ich der Kugel zu, die rollt hinunter
Am Halm, schwebt wie ein einsamer Planet
Und geht in meinem Kleidersaume unter.

Tropf, tropfen alle Bäume ringsherum,
Üppig verströmt sich jeder Ast umher;
Der Wind nur tönet, sonst ist alles stumm.
Kristalle schüttelt von den Blättern er.

Die Sonne, schambleich, kommt nicht mehr heraus;
Strumpf ist ihr Perlenglanz. Mit nasser Locke
Kehr strahlend ich als Elf zurück nach Haus,
Geh lustig hin im perlenbestickten Rocke.

Durchgelesen – „84 Charing Cross Road“ v. Helene Hanff

Bücher sind wahrlich gute Freunde, aber auch durch Bücher können wunderbare Freundschaften entstehen. Und dass dies über Kontinente hinweg auch funktionieren kann, zeigt uns auf äusserst zauberhafte Weise Helene Hanff mit ihrem Briefwechsel „84 Charing Cross Road“, der zum ersten Mal 1970 in New York erschienen ist und nun aktuell in der grandiosen Übersetzung von Rainer Moritz wieder aufgelegt wurde.

Helene Hanff – geboren 1916 in Philadelphia und gestorben 1997 in New York – war eine amerikanische Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie arbeitete nach ihrem abgebrochenen Englischstudium als Schreibkraft, Lektorin und Drehbuchautorin für Fernsehserien und Theater. Bekannt wurde sie hauptsächlich durch ihren Briefwechsel mit einem Buchantiquariat in London, den sie genauestens dokumentiert hatte. Daraus entstand dann der Bestseller „84 Charing Cross Road“, der sogar 1986 mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt wurde. In Deutschland wurde dieses Werk zum ersten Mal 2002 veröffentlicht.

„84 Charing Cross Road“ ist ein ganz besonderer Briefwechsel, ja vielleicht sogar eine Art kleiner biographischer „Briefroman“, der am 5. Oktober 1949 in New York beginnt. Helene Hanff ist nicht nur aus beruflichen, sondern auch aus privatem Interesse auf der Suche nach wichtiger Literatur, welche nach dem zweiten Weltkrieg nicht günstig und einfach zu finden war. Sie entdeckte in einer Zeitungsannonce per Zufall das Londoner Antiquariat Marks & Co. in der Charing Cross Road, Nummer 84. Das war im wahrsten Sinne ihre Rettung und somit schreibt sie an diese englische Buchhandlung, die besonders auf Bücher spezialisiert ist, welche bereits vergriffen bzw. nicht mehr lieferbar sind. Sie möchte lieber günstige, aber dafür schöne Buchausgaben erwerben, da sie sonst bei Barnes & Noble auf neuwertige „Schulausgaben“ zurückgreifen müsste. Diesem ersten Brief fügt sie eine Bücherliste bei und begrenzt ihr Budget auf 5 Dollar pro Buch.

Nach zwanzig Tagen erhält Helene ihre erste Antwort und zwei ihrer Buchanfragen konnten damit gleich erfolgreich ausgeführt werden, so dass Helene am 3. November 1949 ihre Freude über diese wunderbaren Bücher an Marks & Co. weitergeben konnte:

„Sehr geehrte Herren!
Die Bücher sind wohlbehalten angekommen; die Stevenson-Ausgabe ist so schön, dass sie mein Bücherregal aus Orangenkisten beschämt. Ich fürchte mich fast davor, solche schweren cremefarbenen Velinseiten anzufassen. Da ich an das kalte weisse Papier und an die steifen Pappumschläge amerikanischer gewöhnt bin, wusste ich gar nicht, was es für eine Freude sein kann, ein Buch zu berühren. …“

Ja und so nimmt der anfangs doch erst noch eher sehr geschäftliche Briefwechsel seinen Lauf. Helene legt bei jedem Brief und einer neuen Bestellung das Geld bar anbei. Doch Helene lässt auch dem Antiquariat ihren Unmut spüren, wenn sie ein Buch erhält, das nun nicht im Geringsten ihren Anforderungen entspricht.

Helene Hanffs Freunde und Nachbarn erzählen ihr von der Rationierung der Lebensmittel in England, was sie kurzer Hand dazu veranlasst über eine britische Firma in Dänemark ein kulinarisches Weihnachtspaket an Marks & Co. zu senden. Bis dahin war der Unterzeichner aller Briefe aus dem Antiquariat ein „FPD“, obwohl die Buchhandlung zwei Eigentümer hatte, ein Herr Marks und ein Herr Cohen. Ja und dieses zwei Herren sind doch so grosszügig, dass das wunderbare Geschenk von Helene unter den Mitarbeitern aufgeteilt werden konnte, was auch Frank Doel, alias FPD, im Namen der Belegschaft Helene brieflich mitteilte.

Ja und so entwickelt sich ganz langsam aus der zu Beginn doch sehr geschäftlichen Beziehung eine wahre Brieffreundschaft, nicht nur zwischen Frank Doel, sondern auch mit einigen anderen Kollegen aus dem Antiquariat, die alle mehr als begeistert sind von Helene Hanffs Grosszügigkeit, die sich durch regelmässige Geschenkpakete sei es zu Ostern, Weihnachten oder auch zwischendurch erkennen lässt. Unabhängig davon erfahren wir in den Briefen neben den Ereignissen aus der Familie Doel, ein wenig über die Thronbesteigung von Elisabeth II. und über die Zeit der 50ziger und 60ziger Jahre in England. In all diesen Briefen, gibt es immer wieder ein wichtiges Thema und das ist der Besuch von Helene Hanff in London bei Marks & Co., den alle Kollegen so sehr herbeisehnten. Doch leider kommen ständig irgendwelche Probleme dazwischen, sei es beruflicher, finanzieller oder gesundheitlicher Natur. Somit kann sich Helene nur über Freunde, die diesen Laden im September 1951 besucht haben, berichten lassen:

„Das ist der reizendste alte Laden, gerade so, als wäre er einem Dickens entsprungen. Du würdest darüber völlig aus dem Häuschen geraten. …; man riecht den Laden, bevor man ihn sieht. Es ist ein herrlicher Geruch, den ich nicht einfach in Worte fassen kann, doch er verbindet den Geruch von Most, Staub und Alter mit dem von Holzregalen und Parkett.“

Die Brieffreundschaft wird noch lange fortgesetzt nicht nur mit Worten, sondern inzwischen auch mit Dankesgaben der Belegschaft von Marks & Co. an Helene, bis zum plötzlichen Ende aufgrund des vollkommen überraschenden Tods von Frank Doel 1969.

„84 Charing Cross Road“ ist mehr als eine Hymne auf die Literatur und Freundschaft. Es ist ein sehr persönlicher und origineller Austausch zwischen einer sehr skurril sympathischen Amerikanerin und einem äusserst kundenorientierten Londoner Antiquariat über gute Bücher, über den Wert von Büchern und über die Freude und Lust am Lesen. Helene Hanff schwärmt von schönen Bindungen, feinem Papier, lässt sich nicht mit einfachen Ausgaben abspeisen, sondern ist immer auf der Suche nach dem Besonderen. Und genau dabei hilft ihnen diese geniale Belegschaft des Antiquariats Marks & Co., allen voran Frank Doel. Man spürt, dass Frank Doel eben nicht nur ein klassischer Buchhändler ist, nein er ist mehr als das: er ist gebildet, belesen, engagiert und von einer bemerkenswert englischen Höflichkeit, die mehr als angenehm und faszinierend ist. Aber auch Helene Hanff mit ihrer manchmal etwas ruppigen Art, aber trotzdem das Herz am richtigen Fleck, ist eine grossartige Frau, für die Bücher und Lesen nicht nur die Grundlagen ihres Berufes, sondern auch ihres Lebens sind. Dieser wunder-bare Briefwechsel sprüht nur so vor Literaturfreude, Herzenswärme und höchster Wertschätzung, die trotz dieser grossen räumlichen Entfernung so nah und greifbar ist.

Verehrter Leser, versäumen Sie keinesfalls dieses literarische Juwel und erfahren Sie auf humorvolle und charmant melancholische Weise nicht nur die Liebe zu Büchern und die unendliche Lust am Lesen, sondern „schmökern“ Sie quasi gemeinsam mit Helene Hanff in diesem ganz besonders heimeligen Antiquariat in London. Und vielleicht entdecken Sie dadurch nicht nur neue Literatur, sondern erfahren dabei auch den unverwechselbaren Charme und die zeitlos anhaltend wichtige Bedeutung Ihres ganz persönlichen Buchhändlers vor Ort!

Durchgeblättert – „Die Nachtbibliothek“ v. Audrey Niffenegger

Wäre es nicht ein Traum als Bibliothekar in seiner eigenen Privatbibliothek zu arbeiten ? Vielleicht ist es gar kein « Traum » mehr, sondern bereits Realität und man hat ganz unbewusst diesen aufregenden « Beruf » erwählt durch all die vielen gelesenen Bücher, die inzwischen einen wichtigen Platz in unserem Leben eingenommen haben. Und genau auf Spuren dieses wahrlich erfüllenden « Traumberufes » führt uns Audrey Niffenegger in ihrer faszinierenden Graphic Novel mit dem sehr geheimnisvollen Titel « Die Nachtbibliothek ».

Audrey Niffenegger, geboren 1963 in South Haven (Michigan), ist Professorin für Inter-disziplinäre Künste zwischen Buch und Bild am Columbia College in Chicago. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Zusammenführung von Bild und Texten im Hinblick auf Comics und Intallationen. Seit 1987 werden ihre Bilder in der Galerie Printworks in Chicago ausgestellt. Ihr Kunstwerk ist – aus ihrer eigenen Sicht – inspiriert durch Künstler wie zum Beispiel Max Ernst, Käthe Kollwitz, Horst Janssen und Hans Bellmer. In Deutschland wurde sie berühmt durch Ihren Roman « Die Frau des Zeitreisenden » (2003). Aktuell dürfen wir uns nun über ein ganz besonderes Werk freuen, das auch die künstlerische Seite von Audrey Niffenegger mehr als verdeutlicht. Dank der Übersetzung von Brigitte Jakobeit ist nun ihre erste Graphic Novel « Die Nachtbibliothek » in Deutsch erschienen, welche bereits 2010 in der britischen Tageszeitung The Guardian vorabgedruckt wurde.

Die Geschichte spielt in Chicago. Alexandra, die Ich-Erzählerin, läuft nach einem Streit mit ihrem Freund nachts durch die Strassen und entdeckt ganz plötzlich ein Wohnmobil, aus dem Musik von Bob Marley ertönt. Die Tür steht offen, Alexandra ist neugierig und wirft einen Blick in das Gefährt. Überrascht lernt sie einen sehr distinguierten Herrn kennen, der sich mit Mr. Openshaw vorstellt. Er gibt ihr diskret ein Willkommenszeichen, in das Mobil einzusteigen, welches sich als Bibliothek entpuppt :

« Von innen wirkte es grösser – viel grösser. Das Licht war gedämpft und angenehm. Es roch nach altem, trockenem Papier, mit einem Hauch von nassem Hund, was ich mag. Ich schaute mich nach dem Bibliothekar um. Er las Zeitung. »

Alexandra beginnt die Regale zu betrachten und stellt mit grossem Erstaunen fest, dass alle Bücher, die sie hier findet, einschliesslich ihres persönliches Tagebuchs, ihre Bücher waren, die sie in ihrem Leben bis jetzt gelesen hatte, aber hier mit dem Stempel « Zentralbibliothek » gekennzeichnet waren. Mr. Openshaw bestätigt dies :

« Nun die Bibliothek in ihrer Gesamtheit enthält alles Gedruckte, das jeder Mensch zu seinen Lebzeiten einmal gelesen hat…Wir sind also auf alle Benutzer vorbereitet. »

Alexandra war fasziniert und irritiert zur gleichen Zeit und hätte sich am Liebsten eines ihrer Bücher ausgeliehen, doch dies war nicht möglich. Sie verliess am frühen Morgen das mysteriöse « Buchmobil », das nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang geöffnet hatte, ging zu sich nach Hause und machte sich Gedanken über ihre eigene Bibliothek, ihre Bücher, die sie nun zum ersten Mal so in ihrer Gesamtheit vor Augen hatte. War es das, was sie von sich als Leserin erwartet hatte? Würde sie all diese Bücher wieder lesen ?

Am nächsten Tag wollte Alexandra  Mr. Openshaw wieder aufsuchen, doch leider vergebens. Ab diesem Zeitpunkt verbrachte sie jede Minute mit Lektüre, denn sie wollte Mr. Openshaw und sich selbst beeindrucken. Und nach sage und schreibe neun Jahren trifft sie ganz zufällig wieder auf die fahrende « Bibliothek ». Mr. Openshaw erwartete sie bereits. Er lädt sie ein, mit ihm einen Tee zu trinken. Währenddessen stellt Alexandra fest, das sich ihre « Bibliothek » um ein vielfaches vergrössert hatte. Sie war tief beeindruckt von ihrem eigenen « Lesewerk » und wollte nichts lieber als die Assistentin von Mr. Openshaw werden und in der « Zentralbibliothek » arbeiten, was zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht möglich war. Aus diesem Grund folgte sie dem Rat von Mr. Openshaw, zuerst eine richtige Bibliothekarin zu werden…

Audrey Niffenegger erzählt mit Worten, aber vor allem auch mit ihren wundervollen Bildern eine ganz besondere Geschichte, vielleicht eher eine Art Gleichnis, das den Leser sehr geschickt und raffniert darauf hinweist, wie gefährlich es werden könnte, wenn man sich nur noch dem Lesen und seinen Büchern widmet. Alexandra hat eine sehr starke Buch-Sehnsucht, die sie von einer eher jungen und unbeschwerten Frau, zu einer doch eher grau gekleideten und zu ernsthaft wirkenden Bibliothekarin verwandelt, was Audrey Niffenegger durch ihre perfekte Zeichen-perspektive und sehr naiv und bunt angelegte Maltechnik grandios umsetzt. Somit stellt sich die Frage, ob es wirklich richtig ist, in seinem Leben kostbare Zeit grundsätzlich Büchern zu widmen, und wenn ja, welche Werke es verdienen würden, das eigentliche Leben für sie zu vernachlässigen ?

« Die Nachtbibliothek » ist ein ganz besonderes Buch, es ist ein sehr aussergewöhnliches und elegantes « Wort-Kunst-Werk », das zwar durch seine klaren Farben und Formen besticht, aber trotz des « bunten » Lebens in der Bücherwelt durch den schwarzen Rahmen und Bildhinter-grund eine gewisse mystische Erdung findet. Diese Graphic Novel ist ein wunderschönes « Bilderbuch » für Erwachsene, welches vor allem durch sein ungewöhnliches und vollkommen unerwartetes « Happy End » viele Fragen offen lässt und der Leser dadurch immer wieder von Neuem verführt wird, diese geheimnisumwobene « Bibliothek »  zu betreten.

« Die Nachtbibliothek » fühlt sich an wie eine Lesetraumwelt zwischen zwei Buchdeckeln, gefüllt mit subtil versteckten Lese- und Lebens-Botschaften und gekrönt durch eine Bildermagie, die jeden Buchliebhaber, Bibliomanen und Leser auf besonders intensive und nachhaltige Weise beglücken wird !

Durchgelesen – „Roman in Fragen“ v. Padgett Powell

Ist ein Roman ein Roman, wenn er nur aus Fragen besteht ? Stört es uns als Leser, wenn wir keinen Helden vorfinden und eine konkrete Handlung fehlt? Können wir uns überhaupt nur auf Fragesätze konzentrieren ? Wo bleiben eigentlich die Antworten dazu? Sind Sie, als Leser, bereit für weitere Fragen ? Ja ! Dann sollten Sie sich schnellstens dieses Buch besorgen !

Padgett Powell, geboren am 25. April 1952 in Gainesville Florida, zählt zu den interessantesten Südstaaten-Schriftstellern der USA. Seine erste Erzählung « Edisto » entstand 1984, wurde für den American Book Award nominiert und in Auszügen im « New Yorker » abgedruckt. Powell veröffentlicht in den nächsten Jahren noch weitere Erzählungen, Short-Story–Sammlungen und 2009 den Roman « The Interrogative Mood. A novel ? », welcher nun ganz aktuell durch die herausragende Übersetzung von Harry Rowohlt dem deutschsprachigen Publikum präsentiert wird. Powell schreibt unter anderem auch im « Esquire », « Harper’s Magazin », « The Paris Review » and « The New York Times Book Review ». Er wird mit zahlreichen Auszeichnungen – unter anderem mit dem « Whiting Writers’ Award » – geehrt. Seit 1984 unterrichtet Padgett Powell an der University of Florida.

« Sind Ihre Gefühle rein ? Sind Ihre Nerven anpassungsfähig ? Wie stehen Sie zur Kartoffel ? »

Mit diesen drei Fragen beginnt nun das Wunderwerk « Roman in Fragen » von Padgett Powell. Es ist tatsächlich ein Wunderwerk, denn wie könnte man anders einen Roman, wenn es überhaupt einer ist, bezeichnen, der uns auf über 180 Seiten nur mit Fragen konfrontiert.

Anfänglich liest man schwungvoll ein Wort nach dem anderen und stellt sich über kurz oder lang selbst die Frage, was Gefühle, Nerven und Kartoffeln eigentlich so gemeinsam haben könnten. Man schüttelt zuerst vollkommen verständnislos und irritiert den Kopf und fängt am Besten nochmal ganz langsam von Vorne an. Und dann wieder, diese Fragen, aber plötzlich bewegt sich etwas beim Lesen. Das Auge sieht nicht nur mehr das kurvige Fragezeichen am Satzende, sondern man fängt an die Fragen lesenderweise auf sich wirken zu lassen und sie insgeheim oder auch laut vor sich hin sprechend zu beantworten.

Es beginnt ein Spiel und es erinnert ein kleines bisschen an das berühmte « Questionnaire » von Marcel Proust. Doch trotzdem ist es anders, denn es sind viele Fragen, manchmal zu viele, und einige wiederholen sich auch noch, und man fragt sich ernsthaft, warum jetzt schon wieder :

« Fühlen Sie sich in einer Hose mit Tunnelzug wohl ? »

Und auch nach dem zweiten oder dritten Mal, bleibt diese Frage die gleiche und man kann auch sie nur mit ja oder nein beantworten. Es gibt aber auch viele Fragen, die mehr als ein Ja und Nein von uns Leser abverlangen. Das sind Fragen, die ein sehr intensives Nachdenken erfordern und vielleicht eine fundierte Antwort benötigen, oder auch nicht:

« Können Sie alles auflisten, wovor Sie Angst haben, oder ist es leichter, alles aufzulisten, wovor Sie keine Angst haben oder haben Sie vor gar nichts Angst, oder haben Sie im Wesentlichen vor allem Angst ? »

Powell stellt endlos viele Fragen: über das Aussehen, das Essen, die Gefühle, die Gewohnheiten, die Welt und die Liebe, kurzum über das ganze Leben. Der Fragende könnte und dürfte ein Mann sein, aber trotzdem  sind die Fragen nicht nur auf dieses Geschlecht abgezielt, sondern teilweise sehr weiblich und meistens jedoch geschlechtsunspezifisch. Sie gehen durchaus manchmal sehr ins Private, ja fast schon ins Intime, werden aber mit rationalen und sachlichen Fragen im Anschlus gleich wieder neutralisiert.

Der Fragende verspürt oft beim Leser eine gewisse Unsicherheit, ob dieser überhaupt versteht bzw. verstehen kann, warum er ihn all dies so direkt fragen muss :

« Bereiten Ihnen Socken Sorgen, die farblich zwar durchaus, in subtilerer Hinsicht jedoch nicht zur übrigen Kleidung passen ? Ist Ihnen klar, was ich damit meine ? Ist Ihnen klar, warum ich Ihnen all diese Fragen stelle ? Ist Ihnen, meinen Sie, überhaupt vieles klar, oder nur sehr wenig, oder schwimmen Sie irgendwo dazwischen im trüben Meer des Erwartbaren ? Sollte ich « im trüben Meer der Geistesgegenwart » sagen ? Sollte ich weggehen ? Sie in Frieden lassen ? Sollte ich mit meinen Fragen nur mich selbst behelligen ? »

Nach diesen Zeilen, weiss man nun letztendlich, ob man sich mit diesen Fragen weiterhin belästigen lassen will, oder nicht. Eines ist ganz klar, es mag Leser geben, die fühlen sich bereits nach den ersten Seiten vollkommen genervt von dieser ewigen Fragerei und brechen dieses literarische « Kunstwerk » ab. Sie werden es auf jeden Fall bereuen, denn so schnell wird uns Leser nichts mehr vergleichbar Geniales in der Welt der Literatur über den Weg laufen, als dieser sogenannte Fragen-Roman.

Dieses Buch hat nur dann einen literarisch praktischen Sinn, wenn man sich auf diese Fragen einlässt, ja sie vollkommen unvoreingenommen zulässt. Spätestens ab diesem Moment beginnt das eigentliche Vergnügen. Es ist wie eine psychologische Lebensübung, die wahre Wunder bewirkt. Nie haben Sie nach einer Lektüre so viel über sich selbst erfahren, wie durch Powells verrücktes Buch. Sie denken über Themen nach, die Sie sicherlich öfters verdrängt oder einfach vergessen haben, wie es uns auch mit folgenden Fragen ganz konkret klar gemacht wird :

« Wie oft fragen Sie sich : « Was habe ich vergessen ? » ? Wie oft zeigt sich, dass Sie, wenn Sie sich fragen, was Sie vergessen haben, dass Sie etwas vergessen haben ? Wie oft, wenn Sie sich fragen, was Sie vergessen haben und es sich zeigt, dass Sie etwas vergessen haben, veranlasst Sie die Frage dazu, sich daran zu erinnern, was Sie vergessen haben ? »

Sind Sie, verehrter Leser, nun endgültig aufgeklärt, warum man dieses Buch unbedingt lesen sollte ? Zur Ergänzung muss man noch hinzufügen, dass es sich mit « Roman in Fragen » nicht nur um ein echtes Meisterwerk handelt. Es ist ein literarischer Coup, spannend wie ein Krimi, denn Sie wissen nie, welche Frage als nächstes kommt, witzig wie eine Komödie, denn wann können Sie so unkompliziert und spontan über sich selbst lachen und intelligent, wie ein Psychologiebuch, das Selbstanalyse selten so einfach und praktisch gefördert hat. Das Werk ist sprachlich grandios, stilistisch exotisch, inhaltlich etwas surrealistisch und deshalb fühlt man sich während des fragenfüllenden Romankonstrukts  besonders wohl, wenn man als Leser eine ausgeprägte Schwäche für geniale Köpfe und Künstler wie zum Beispiel George Perec und René Magritte hat.

« Roman in Fragen » ist ein wunderbar raffiniertes, philosophisches, komisches und melancholisch verrücktes Buch, das man am Besten jedes Monat oder zu mindest einmal im Jahr durcharbeiten sollte. Die Fragen bleiben zwar irgendwie die Gleichen, aber Ihre Antworten werden sich sicherlich ändern. Doch noch wichtiger ist die dadurch entstandene Motivation, endlich selbst das Zepter in die Hand zu nehmen und Sätze mit diesem so lebendigen Fragezeichen zu kreieren. Deshalb hören Sie niemals auf, sowohl vor als auch nach der Lektüre, Fragen zu stellen, denn sie lösen Denkblockaden, befreien von geistigem Unrat und beflügeln das echte Leben. Nehmen Sie Platz im Fragenkarussell, lassen Sie sich mitreissen und probieren Sie das « Fragenspiel » gleich mal ganz pragmatisch bei Ihrem Buchhändler des Vetrauens aus: Kennen Sie Padgett Powell ? Haben Sie sein aktuelles Buch schon gelesen ? Würden Sie diesen Roman Ihren Freunden empfehlen ?…

Durchgelesen – „Der gute Psychologe“ v. Noam Shpancer

Gehen Sie bereits regelmässig zur Ihrem Psychotherapeuten ? Oder leben Sie mit Ihren Sorgen und Ängsten ganz alleine ? Vielleicht haben Sie bereits ernsthaft über eine Psychotherapie nachgedacht, doch Ihr Vertrauen gegenüber Psychologen ist nur noch nicht gross genug. Dies wird sich jedoch spätestens durch die Lektüre dieses äusserst informativen, klugen und humorvollen Romans « Der gute Psychologe » ändern.

Noam Shpancer wurde 1959 in einem Kibbuz geboren. Er ist Professor für klinische Psychologie an der Universität Ohio und arbeitet daneben als Therapeut in einer Klinik für Kognitive Therapie. Noam Shpancer ist spezialisiert auf Ängste, die in seinem Erstlingsroman « Der gute Psychologe »  – welcher nun ganz aktuell in deutscher Übersetzung vorliegt – erläutert und erfolgreich behandelt werden.

Die Hauptfigur in Noam Shpancer’s Roman ist – wie sollte es auch anders sein – der Psychologe, dessen Namen wir als Leser jedoch nie erfahren werden. Der Psychologe ist nicht nur Therapeut mit Spezialisierung auf Angstpatienten, die er in seiner eigenen Praxis empfängt. Er unterrichtet auch an der Universität als Dozent und versucht seinen Studenten zu erklären, was es bedeutet, ein « guter » Psychologe zu sein. Doch darüber hinaus ist er einfach Mensch, Mann und Single. Wobei er jedoch eine Tochter mit einer verheirateten Kollegin (Nina) hat, seine ehemalige grosse Liebe, die sich von ihrer Seite seit einigen Jahren aus privaten Gründen in eine rein fachliche Freundschaft verwandelte.

Der Psychologe kämpft oft mit seinen Gefühlen, vor allem dann wenn er an seine Tochter denkt. Aber Emotionen sind in der Praxis als Therapeut kein hilfreicher Ratgeber, sie sollten eher in den Hintergrund treten, damit er sich ganz neutral seinen Patienten widmen kann. Er arbeitet in der Regel nur bis drei Uhr nachmittags. Doch für eine neue Patientin, die als Tänzerin in einem Nachtclub arbeitet, macht er eine Ausnahme und empfängt sie Freitags um 16.00 Uhr :

« « Die Erfahrung einer Panikattacke ist sehr verstörend und abrupt, ohne erkennbaren Grund. Es gibt eine natürliche Neigung, einen äusseren Grund für diese Gefühle zu suchen. »
« Sie glauben, ich sei verrückt ? »
« Ich weiss nicht, was das ist. »
« Sie sind Psychologe und wissen nicht, was verrückt ist ? » »

Die Nachtclub-Tänzerin braucht Hilfe, sie kann nicht mehr tanzen, sie hat Angst vor jedem Auftritt. Der Psychologe ist mehr als gefordert, seine Patientin wieder in das « Leben » zurückzuführen. Er ist selbst überrascht, wie sehr ihn dieser Fall beschäftigt und auch sein ganz persönliches Leben beeinflusst. Glücklicherweise kann er sich immer bei Nina einen psychologischen Rat holen, der ihm hilft, selbst die richtigen Therapie-Entscheidungen zu treffen. Auch seine Studenten holen ihn sozusagen wieder auf den theoretischen Boden zurück, denn sie erwarten von ihrem Dozenten, nicht nur praktische Tipps, sondern eine fundierte psychologische Theorie. Und genau zwischen diesen doch sehr unterschiedlichen Welten – zwischen Praxis und Theorie –  lebt und arbeitet ein Psychologe. Er sollte stets bestimmte Richtlinien befolgen, um nicht seinen Gefühlshaushalt und den seiner Patienten vollkommen durcheinander zu bringen :

« Ein guter Psychologe hält Distanz und lässt sich nicht in die Ergebnisse seiner Arbeit verstricken. Die richtige Distanz erlaubt einen genauen und klaren Blick. Ein guter Psychologe überlässt die Sache mit der Nähe Familienangehörigen und geliebten Haustieren, und die Sache mit der Rettung überlässt er religiösen Bürokraten und Exzentrikern an Straßenecken. »

Diese und viele weitere theoretische Erkenntnisse erklärt er seinen Studenten. Doch auch ein guter Psychologe ist nicht davon gefeit, das Persönliche und das Professionnelle zu verwischen, was ungeahnte und gefährliche Konsequenzen mit sich bringen kann…

« Der gute Psychologe » ist ein ganz besonderes Buch. Verpackt in eine Art Sachbuch-Roman werden wir in die spannende Welt der Psychotherapie und der Ängste entführt. Brillant konzipiert erzählt uns Noam Shpancer die Geschichte einer Frau, einer Nachtclub-Tänzerin, die mutig genug ist, sich Hilfe bei einem Psychologen zu holen, um zu lernen, mit ihren Ängsten zu leben, statt sie zu unterdrücken. Wir werden Zeuge verschiedenster Therapiestunden, entdecken psychologische Zusammenhänge, spüren die Ohnmacht und das Gefühlsdurcheinander, aber auch die Hilfestellung und die psychologische « Heilung ». Der Leser entdeckt aber auch das Gefühlsleben – was übrigens auch Ängste beinhaltet –  des Psychologen, welches in der Regel jedem Patienten während der realen Therapie eher verborgen bleibt.

Und gleichzeitig habe wir die Möglichkeit an einem Mini-Studium in Psychologie teilzunehmen, was nicht nur Wissen und Informationen über Psychotherapie und Psychologie im Allgemeinen von Seiten des Dozenten beinhaltet, sondern wir werden Student und verfolgen die Probleme unserer Kollegen, die nicht nur psychologischer Natur sind.

Noam Shpancer ist ein brillantes Werk gelungen. « Der gute Psychologe » ist ein Roman, der die geheimnisvolle Welt der Psychotherapie öffnet, für jeden Menschen zugänglich macht, auch wenn er noch mutlos und voreingenommen sein sollte. Ein Roman, der verblüfft, Neugierde auslöst und hilft. Denn selten ist eine Psychotherapie so günstig, humorvoll, transparent und praktisch wie in diesem Buch. Lassen Sie sich einen « Lese-Termin » geben, Sie werden sehen, wie angenehm und befreiend es ist, bei diesem « guten Psychologen » Patient sein zu dürfen…

Durchgelesen – „Madame Hemingway“ v. Paula McLain

« Paris – ein Fest fürs Leben » zählt zu den bekanntesten Werken Ernest Hemingways, das 1965 – vier Jahre nach seinem Selbstmord  – erschienen ist. Es behandelt die Jahre 1921 – 1926. Hemingway beschreibt in diesem Werk die Erinnerungen seiner Pariser Zeit, seiner literarischen Bekanntschaften und der teilweise glücklichen, aber letztendlich doch eher dramatischen Ehe mit seiner ersten Frau Hadley Richardson. « The Paris Wife » – wie sie meistens nur betitelt wurde –  ist in den Biographien über Ernest Hemingway immer ein wenig zu kurz gekommen. Das wird sich jedoch ab sofort ändern. Dank Paula McLain und ihrem aktuell in Deutschland erschienen Roman « Madame Hemingway » bekommt der Leser zum ersten Mal die Gelegenheit, diese faszinierende und aussergewöhnliche Frau an Ernest Hemingway’s  Seite näher kennenzulernen.

Paula McLain wurde 1965 geboren und studierte Kreatives Schreiben. Sie lebte in verschiedenen Künstlerkolonien wie zum Beispiel Yaddo und MacDowell. Paula McLain hat sich – wie sie es auch im Zusatzmaterial am Ende des Romans in einem Gespräch erklärt – sehr intensiv für dieses Buch vorbereitet. Inspiriert durch das Lesen von Briefwechseln und zahlreichen Biographien entwickelte sie diesen grandiosen Roman, der in einem historischen Rahmen eingebettet ist und gerade deshalb den fiktiven Teilen der Geschichte einen zusätzlichen und wichtigen Raum geben kann. Zum ersten Mal wird das Leben von Hadley Richardson in den zentralen Mittelpunkt gerückt und bekommt im Hinblick auf die Biographie und das Werk Ernest Hemingways eine ganz neue Bedeutung.

« Madame Hemingway » wird in der Ich-Form aus der Sicht von Hadley Richardson erzählt. Der Roman beginnt in Chicago im Jahre 1920 : Hadley und Hem (so wird Hemingway in Freundeskreises immer genannt) lernen sich per Zufall über ihre Freundin Kate bei einem Fest in deren Wohnung kennen. Hadley wird 1891 als jüngstes von vier Kindern in St. Louis (Missouri) geboren. Ihre Familie ist sehr wohlhabend und konservativ. Hadleys Mutter war eine sehr dominante und herrschsüchtige Frau. Trotzdem erhielten die Kinder eine gute Erziehung und Hadley und ihre Schwester bekamen zusätzlich noch privaten Klavierunterricht am hauseigenen Flügel. Als Hadley mit sechs Jahren einen Unfall hatte und aus dem Fenster stürzte, war sie für mehrere Monate krank und wurde infolgedessen während ihrer Kindheit und Jugend von der Mutter überbeschützt. Sie blieb immer irgendwie gesundheitlich angeschlagen und fiel nach dem Selbstmord ihres Vaters, der sich fast vor ihren Augen erschossen hatte, in eine tiefe Depression. Trotzdem kümmerte sie sich um ihre schwerkranke Mutter, die sie bis zu ihrem Tode pflegte.

Hadley reist auf Einladung ihrer Freundin Kate nach Chicago, blüht endlich im Alter von 28 Jahren etwas auf, feiert, geniesst das Leben, und trifft auf einen besonderen Mann :

« Ernest Hemingway war kaum mehr als ein Fremder für mich, doch er schien von Glück geradezu durchdrungen. Ich konnte keinerlei Angst in ihm erkennen, nur Lebendigkeit und Intensität. Seine Augen leuchteten in alle Richtungen, und sie funkelten mich an, als er sich zurücklehnte und mich mit einer Drehung schwungvoll an sich zog. Er hielt mich eng an seine Brust gedrückt, und ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Haar und Nacken. »

Hadley fühlt sich zum ersten Mal in ihrem Leben umworben und verliebt sich immer mehr in Ernest. Hem – sieben Jahre jünger als Hadley – war damals ein ambitionierter Mann, was seine journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten betraf. Nach der Abreise von Hadley schreiben sie sich fast täglich sehnsuchtsvolle Briefe, treffen sich ein zweites Mal und heiraten schliesslich, denn Hem ist der Meinung, dass sie genau das richtige Mädchen für ihn ist. Hadley ist eher das Gegenteil von ihm: zurückhaltend, konservativ, fast schon ein wenig altmodisch. Auch wenn sich Ernest über ihre Art manchmal ein wenig lustig macht, schätzt er besonders ihre uneingeschränkte Loyalität. Das junge Paar lebt noch kurze Zeit in Amerika und verlässt auf Anraten eines Freundes die Heimat in Richtung Paris.

Mit wenig Geld in der Tasche – die Reise konnte durch eine Erbschaft von Hadley finanziert werden –  kommen sie in das pulsierende Paris der Goldenen Zwanziger Jahre an. Eine Welt, in welche die eher altmodische Hadley nicht wirklich zu passen scheint. Die Pariser Frauen sind selbst-bewusst, kleiden sich in Chanel, tragen schicke Kurzhaarfrisuren, ziehen mit Eleganz an ihrer Zigarettenspitze und geben sich dem Rausch der Nach-kriegsjahre hin. Auch Hadley und Hem versuchen in dieser neuen Welt Fuss zu fassen. Musik liegt in der Luft, der Jazz hat Paris fest im Griff, aber nicht nur das, auch der Alkohol spielt eine sehr grosse Rolle. Hadley und Hem wohnen sehr spartanisch in einem kleinen Appartement im 5. Arrondissement, das direkt neben einem Tanzlokal liegt. Diese Gegend gehörte damals zum alten Paris : ein wenig arm und dreckig. Hem verbringt viel Zeit in Cafés, um zu arbeiten – wie er immer behauptet – und Hadley kümmert sich um den Haushalt, kauft ein und entdeckt ihr Paris, wie beispielsweise die Märkte von Les Halles und die erwürdigen Häuser und schmalen Gässchen der Ile-St.-Louis. Auch wenn Hadley sich immer noch nicht richtig wohlfühlt, Hem ist von Paris begeistert :

« « Hier ist es so schön, dass es schon weh tut », bemerkte Ernest eine Abends, als wir auf dem Weg zum Dinner waren. « Liebst du es nicht auch ? » Das tat ich nicht, noch nicht, aber ich war beeindruckt. In dieser Zeit durch die besten Pariser Strassen zu laufen erweckte den Eindruck, durch die geöffneten Vorhänge in einen surrealen Zirkus zu blicken und jederzeit die Seltsamkeit und Pracht bewundern zu können. »

Ernest mietet sich ein kleines Zimmer zum Arbeiten und knüpft langsam immer mehr Kontakte in den Schriftstellerkreisen, während Hadley den Tag mit Klavierspielen und Spaziergängen verbringt. Inzwischen werden sie von namhaften amerikanischen Kollegen eingeladen, wie Gertrude Stein, Ezra Pound, F. Scott und Zelda Fitzgerald, die Hem endlich die Türen zu den berühmten Pariser Künstlerkreisen öffnen. Doch Hadley bleibt immer die Ehefrau, sitzt abseits, auch wenn sie ihren Mann unterstützt und sich als erste Leserin seiner Werke intellektuell einbringt. Ernest schreibt wie besessen und ist sehr launisch : einerseits lebt er fast schon euphorisch seine extreme Arbeitswut aus, andererseits ist er oft deprimiert, entmutigt und cholerisch. All diese Stimmungschwankungen erträgt Hadley mit einer würdevollen Selbstverständlichkeit, die sich durch ihre grosse Liebe zu Hem entwickelt hat. Sie reisen gemeinsam durch Europa, verbringen schöne Zeiten in Österreich und entdecken den Stierkampf in Spanien. Die Liebe ist stark und schwierig zugleich. Sie wird jedoch durch ein sehr grosses Missgeschick von Hadley, bei welchem sämtliche Manuskripte Hemingways in einem Zug gestohlen werden, zum ersten Mal auf eine harte Probe gestellt. Die Tatsache, dass Hadley dann auch noch von ihm schwanger wird, macht die bereits angespannte Lebens-situation zwischen ihr und Hem noch schwieriger. Ernest ist durcheinander und wird negativ von einigen Kollegen dahingehend beeinflusst, dass ein Kind nicht wirklich in ein Schriftstellerleben  – insbesonderen in seines – passt. Die zuerst sich viel versprechend entwickelnde Liebe zwischen Hadley und Ernest wird immer komplizierter, und erreicht ihren dramatischen Höhepunkt, als Hem sich in die Freundin von Hadley verliebt…

« Madame Hemingway » ist ein bemerkenswertes und mutiges Buch. Ein Roman, der zum ersten Mal Ernest Hemingway in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Die Autorin zeichnet einen Mann, der mehr als ein Macho ist, sich eigentlich nur um seine Arbeit und um seinen weiteren schriftstellerischen Erfolg kümmert. Doch in dieser beeindruckenden Liebesgeschichte kommt auch seine mitfühlende Seite zum Vorschein, die das Bild seiner komplexen Persönlichkeit ergänzt und nicht nur negativ darstellt.

Paula Mclain ist es gelungen, ein sehr bewegendes, informatives und beeindruckendes Porträt von Hadley Hemingway zu « malen ». Sie verwandelt die Hauptpersonen  zu wunderbaren Akteuren, welche durch die vielen Dialoge dem Leser eine Lebendigkeit und aktive Gegenwart vermitteln, als würde man am Nebentisch eines Cafés sitzen und mithören. Paula Maclain hat sich äusserst intensiv mit Hadely Richardson und natürlich auch mit Ernest Hemingway auseinandergesetzt. Sie sagt selbst, wie wichtig es ist, dass alle Personen, die tatsächlich gelebt haben und hier in dem Roman als fiktive Figuren auftreten, trotzdem so autenthisch, aber vor allem auch im Hinblick auf die historischen Lebensläufe so realistisch wie möglich dargestellt werden. Paula McLain erzählt mit sehr graziler Feingefühligkeit und hoher Empathie den Lebens- und Liebestraum eines ganz aussergewöhnlichen Paares. Sie findet den richtigen Ton und Rhythmus in ihrer Sprache und kann diesen literarisch gekonnt an ihre Hauptdarsteller weitergeben.

« Madame Hemingway » ist eine Liebesgeschichte, eine romaneske Biographie einer sehr charakterstarken Frau und ein sehr stimmungsvolles Buch über die «Golden Twenties» in der Kulturmetropole Paris. Dieses Buch wird jeden literatur- und kulturbegeisterten Leser in seinen Bann ziehen. Es ist ein Roman voller Leidenschaft, Glück, aber auch Verrat, Selbstsucht und Angst. Ein emotional und sprachlich sehr gelungenes Werk, das nicht nur eine Frau in ihrer ganzen Würde trotz Einsamkeit und Schmerz porträtiert, sondern auch zeigt, wie aufregend und gleichzeitig kompliziert es sein kann, mit einem Schriftsteller-Genie wie Ernest Hemingway verheiratet zu sein.

Tauchen Sie ein in das pulsierende und glamouröse Paris der zwanziger Jahre und begleiten Sie ein ungewöhnliches Paar durch ihre respektvolle, aber auch schmerzliche Liebe! Sie werden es nicht bereuen, denn dieses Buch ist wie Paris, ein wahres Fest für das Leben !

Durchgelesen – „Der Sommer ohne Männer“ v. Siri Hustvedt

Ehebruch und Betrug gehören zu den klassischen Themen der allseits beliebten Frauenliteratur. „Der Sommer ohne Männer“ unterscheidet sich jedoch ganz klar von den gewöhnlichen Beziehungskisten-romanen mit viel Herz und Schmerz, bei denen man bereits auf der ersten Seite weiss, wie das letzte Kapitel endet. Nein, dies ist ein grandioser Roman über Frauen und Männer und über die zwischen beiden Geschlechtern oft daraus entstehenden Probleme, welche nicht nur Leid verursachen, sondern sehr wohl auch positive Erfahrungen und wichtige Erkenntnisse zur Folgen haben können.

Siri Hustvedt hat sich mit diesem gerade frisch auf deutsch erschienen Werk selbst übertroffen, denn so ironisch und witzig haben wir sie in den letzten Jahren selten erlebt. Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie ist die Tochter einer Norwegerin und eines Professors für norwegische und amerikanische Geschichte. Schon als junges Mädchen wollte sie unbedingt Schriftstellerin werden. 1980 lernte sie den Autor Paul Auster kennen, den sie ein Jahr später heiratete. 1986 beendete sie ihre Promotion in englischer Literatur mit einer Arbeit über Charles Dickens. Berühmt wurde sie durch die Romane „Die Verzauberung der Lily Dahl“ (1992) und „Was ich liebte“ (2003). 2008 erschien „Die Leiden eines Amerikaners“ und vor einem Jahr „Die zitternde Frau“. Sie lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Paul Auster und der gemeinsamen Tochter in Brooklyn.

„Der Sommer ohne Männer“ analysiert auf intellektuelle und gleichzeitig amüsante Weise die Beziehung zwischen der New Yorker Dichterin Mia und dem Neurowissenschaftler Boris. Sie stecken beide in einer echten Krise. Diese Krise nennt Boris charmant diplomatisch eine „Pause“. Doch für Mia war sofort klar, dass diese „Pause“ zweibeinig ist:

„Die Pause war eine Französin mit schlaffem, aber glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Rechteckbrille und einen exzellenten Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute, dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre signifikanten Bereiche stürzte.“

Mia ist so geschockt! Nachdem Boris ihr erklärte, dass er eine „Pause“ bräuchte, dreht sie total durch und landet schliesslich in der Psychiatrie. Sie wird mit Psychopharmaka ruhig gestellt, denn sie leidet an einer kurzfristigen psychotischen Störung, die man auch als „Durchgangssyndrom“ bezeichnet. Sie ist verrückt, aber zum Glück nicht lange. Nach gut zehn Tagen wird sie aus der Klinik wieder entlassen und weiterhin von ihrer Frau Dr. S. ambulant betreut. Mia braucht jetzt selbst eine Pause und fährt zur Erholung in ihre Geburtsstadt in Minnesota, in die Nähe ihrer neunzigjährigen Mutter, die dort in einem Altersheim wohnt.

Mia mietet sich ein nettes Haus, lernt nicht nur ihre Nachbarin – Mutter von zwei kleinen Kindern – kennen, die sich oft lautstark im Garten mit ihrem Mann streitet, sondern auch die entzückenden Freundinnen ihrer Mutter. Alle Damen sind Witwen und äusserst interessante Charaktere, vor allem Abigail, die ein ganz besonderes Hobby hat. Mia verbringt viel Zeit mit ihrer Mutter und gibt einen Lyrikkurs für sieben pubertierende Mädchen, die nicht nur begeisterte Mini-Dichterinnen werden wollen, sondern auch sich gegenseitig das Leben ziemlich schwer machen.

Dazwischen grübelt Mia über ihren untreuen Boris nach und macht sich Gedanken über die Männer ganz im Allgemeinen. Sie ist wütend und enttäuscht und beginnt, eine Art erotisches Tagebuch zu führen, welchem sie ihre Gefühle und Erinnerungen in Punkto Liebe, Sex und Ehe anvertraut. Aber nicht nur diese Verarbeitungsform, auch die neuen Freundschaften, die sie in ihrer Heimat schliessen kann und die spannende Arbeit als Kursleiterin haben sie auf ganz neue Wege gebracht. Die Erholung wird mehr und mehr spürbar und die neue Lebensfähigkeit auch ohne Boris ist deutlich erkennbar. Und genau das könnte der Auslöser und die Gelegenheit für ihren Mann sein, Mia wieder interssant und attraktiv zu finden. Boris erkundigt sich nach ihr in Form von kleinen Briefen und schmeichelt ihr. Und Mia macht sich ein wenig lustig darüber und geniesst gleichzeitig im Stillen! Denn eines ist ganz sicher, Frauen wollen umworben werden….

„Der Sommer ohne Männer“ wird aus der Sicht der Dichterin Mia in der Ich-Form erzählt, das den Leser in die Seele einer intellektuellen Frau auf so wunderbar poetische und gleichzeitig freche Weise hineinzieht. Durch die faszinierende  Mischung zwischen Tagebucheintrag, Gedanken, Erlebnissen, Telefongesprächen, Briefen und Gedichten ist dieses Buch nicht nur äusserst kurzweilig, sondern auch sehr klug und wahnsinnig erfrischend.  Siri Hustvedt spricht den Leser direkt an, als würde sie sich mit ihm verbünden bzw. ihn ins absolute Vertrauen ziehen. Was für ein intelligenter Schachzug in Bezug auf Leserbindung.

„Der Sommer ohne Männer“ ist kein Roman, den man so en passant herunterliest. Er bedarf einer gewissen Konzentration und Aufmerksamkeit, denn es ist ein sehr anspruchsvolles und sprachlich unglaublich komplexes Werk. Siri Hustvedt fordert uns als grossartige Erzählerin heraus mit Ironie, Humor und Geist über die Empfindungen dieser Frau oder der Frau im Allgemeinen nachzudenken. Hier geht es nicht um Klischees oder Männerhass, ganz im Gegenteil, hier wird die weibliche Demut zelebriert und der Mut und die Kraft, sich selbst wiederzufinden, brillant geschildert. Siri Hustvedt schenkt uns ein wunderbares Buch über Frauen im Lauf der Jahrhunderte, über die Reife eines Lebens und die weibliche Sensibilität. Ein hoch literarisches Highlight in der Fülle der sogenannten „Frauenliteratur“, das man insbesondere Männern sehr ans Herz legen sollte!