Durchgelesen – „Als ich ihr Balzac vorlas“ v. Rachid Benzine

„Seit gut sechzig Jahren hänge ich an Büchern“ erklärt der Ich-Erzähler, denn sein Vater arbeitete in einer Papierfabrik. „Jeden Tag brachte er Bücher, Zeitschriften, Zeitungen mit nach Hause. So viel er tragen konnte. Wir nutzten sie für alles: zum Heizen, Fenster-Abdichten, wir klemmten sie unter wackelnde Möbel, verwendeten sie als Toilettenpapier und eben als Windeln für die Kleinsten. Und manchmal lasen wir sie sogar.“

Der Ich-Erzähler stammt wie der Autor aus Marokko. Rachid Benzine ist ein angesehener Politologe und Historiker. „Als ich ihr Balzac vorlas. Die Geschichte meiner Mutter“ („Ainsi parlait ma mère“ 2020) ist sein erster Roman, der vor genau zwei Jahren ( 2021) in hervorragend deutscher Übersetzung (Andreas Jandl) erschienen ist.

Der Roman spielt in Belgien. Der Ich-Erzähler lebt bei seiner betagten Mutter, um die er sich seit über 15 Jahren neben ausgewiesenen Pflegefachkräften ganz persönlich als jüngster von fünf Söhnen kümmert. Die Familie immigrierte 1950. Der Ich-Erzähler ist Single und Professor für Literatur an der Universität von Louvain. Er bereichert das Leben seiner Mutter, in dem er ihr regelmässig aus ihrem Lieblingsbuch vorliest: „Das Chagrinleder“ („La peau de Chagrin“) von Honoré de Balzac.

„Das Chagrinleder“ ist ein Roman, der fantastische und realistische Merkmale vereint und mit seinem Hauptprotagonisten, der zum Selbstmord entschlossen ist, zeigt, wie er mit Hilfe eines magischen Chagrinleders seine Wünsche erfüllen kann, dabei aber gleichzeitig die Verkürzung seines Lebens in Kauf nehmen muss.

Der Ich-Erzähler ist jedes Mal überrascht, wie wichtig seiner Mutter dieses Buch von Balzac ist. Seine Mutter ist Analphabetin und hatte sich nur mühevoll bestimmte Wörter und Sätze mit Zeitschriften, Hörkassetten, Fernsehshows angeeignet und auswendig gelernt. Unabhängig davon hatte sie einen so starken Akzent, dass sich der Ich-Erzähler oft für die „französische Sprache“ seiner Mutter schämte. Sie liebte französische Chansons von France Gall, Charles Aznavour, Sascha Distel, zu dessen Konzert der Ich-Erzähler seine Mutter zu ihrem 50. Geburtstag begleiten durfte; ein unvergesslicher Abend für Beide.

In verschiedenen Rückblicken lernen wir diese besonders herzenswarme Frau kennen, die ihre Kinder – nachdem der Vater sehr früh verstorben war – mit einem Hungerlohn als Zugehfrau durchbrachte und lernen musste, wegen ihrer Krankheit Hilfe anzunehmen.

Dieser feine kleine Roman ist in Wirklichkeit ein ganz Grosser. Er verknüpft elegant eine Integrations- und Immigrationsgeschichte mit Analphabetismus und den Problemen zwischen Eltern und Kindern. Humorvoll, sensibel, aber auch mit einer gewissen Bitterkeit wird hier der Wunsch nach einem langen Leben, aber auch die Angst vor dem Tod in Worte gezeichnet. Dank Rachid Benzine durchwandert der Leser eine raffiniert kompakte Zeitreise und streift dabei die Jugend und das Erwachsensein, um am Ende zum Alter mit all seinem Reichtum und seinen Schwächen zu gelangen.

Wer Glück, Trauer, Scham, Mut und Peinlichkeit auf so poetische Weise erleben möchte, muss diese wundervolle Liebeserklärung eines Sohnes an seine Mutter und an die Literatur unbedingt lesen!

Durchgeblättert – „Die Sommerhäuser der Dichter“ v. Thomas Lardon

„Am offnen Fenster lehnt im Sommerhaus

Maria, blickend in das Meer hinaus.

Sie sieht der Sonne letzte Gluten schwinden,

Sie überläßt ihr blondes Haar den Winden,

Die freudig mit der Lockenbeute schwanken,

Und ihre Seele sinnigen Gedanken.“

Spätestens beim Lesen dieses Auszugs aus dem Gedicht „Der Maler“ von Nikolaus Lenau sehnt sich jeder ein wenig nach einem Sommerhaus, das Ruhe-Refugium und Inspirationsquelle zugleich sein könnte. Somit ist es nicht überraschend, dass gerade Dichter und Schriftsteller den Traum eines Sommerhauses verwirklichen mussten und konnten.

Thomas Lardon, Herausgeber und Unternehmer im Verlags- und Kunstbereich, hat Zeit und Muse investiert, um nach den schriftstellerischen Kreativ-Orten, an denen die schönste Zeit des Jahres verbracht wurde, zu suchen. Mit seinem von ihm aktuell erschienen Werk „Die Sommerhäuser der Dichter“ dürfen wir nun auf eine ganz besondere Reise gehen.

Bestimmte Autoren suchten die inspirierende Ruhe und Kühle auf dem Land wie zum Beispiel Bertolt Brecht. Er verbrachte mit Helene Weigel die Sommermonate in Buckow, wo einer der wichtigsten Werke der deutschsprachigen Lyrik, der Gedichtzyklus „Buckower Elegien“, entstanden ist. Edward Said fuhr als Kind jedes Jahr mit seinen Eltern von Kairo aus mit Taxis und Zug in das libanesisches Bergdorf Dhur el-Shweir. Jean-Cocteau arbeitete am Liebsten in seinem Haus in Milly-La-Forêt, eine Stunde südlich von Paris entfernt. Heinrich Böll hatte ein ländliches „Versteck“ in der Eifel. Hermann Hesse konnte gleich zwischen mehreren Sommerhäusern wählen und Rimbaud kehrte, obwohl er die Ardennen schrecklich spiessig fand, immer wieder in sein Landhaus zum Arbeiten zurück. Inzwischen hat die Punk- und Rockmusikerin Patti Smith, die eine grosse Rimbaud-Verehrerin ist, sein Haus gekauft.

Einige Schriftsteller brauchten die Nähe zum Wasser. Günter Grass zog sich oft zum Schreiben an seinem Roman „Der Butt“ auf die kleine dänischen Insel Mon zurück. Gerhart Hauptmann freute sich sehr über die Natur am Hiddensee, der eine Schaffensquelle für ihn war. Und wieder andere Dichter fanden ihr Sommerhaus in einer Stadt, wie bespielsweise Anton Tschechow, der den dazugehörigen üppigen Garten in Jalta zu seiner Oase gestaltete.

Die Bedürfnisse der Dichter, aber auch Wünsche, das richtige Sommerhaus zu finden und zu bewohnen, konnten nicht unterschiedlicher sein. Dieses wirklich wunderschön gestaltete Buch verführt vor allem durch die hervorragenden Texte, die mit feinem und sehr ansprechendem Fotomaterial ergänzt werden. Wir entdecken unbekannte Orte und unberührte Landschaften und bekommen sehr persönliche Einblicke in das Sommer-Leben von mehr als 30 Dichterinnen und Dichtern, die dank ihrer intimen und kenntnisreichen Porträts sehr neugierig machen.

Welche.r Leser.in würde nicht gerne auch im Juni jetzt den Koffer packen und die nächsten Monate in seinem eigenen Sommerhaus verbringen. Träume nach einem luftig leichten Leben im ganz persönlichen Garten Eden auf dem Land, am Meeresstrand oder auch im urbanen Sommerflair lassen sich eventuell nicht erfüllen.

Doch jetzt gibt es „Die Sommerhäuser der Dichter“, das perfekte Buch für die heisse Jahreszeit, das die Sehnsüchte nach literarischer Sommerfrische, Meeresbrise, Bergluft und Stadtgartenglück in so traumhaft schöner Weise stillt und uns beim Lesen ein wahres und unvergängliches Sommerglück schenkt.

Durchgeblättert – „Chanson“ v. Olaf Salié

Mitte der 80ziger Jahre entdeckten wir durch verschiedene Umwege Serge Reggiani, der in Deutschland kaum bekannt war. Seine sensible warme Stimme traf ins Herz. Die Interpretation von Ma Liberté“ (Text und Komposition von Georges Moustaki) öffnete unbekannte Türen im Universum des französischen Chansons.

Es gabe Tage, da erklang bereits beim Frühstück per Zufall im deutschen Radio „Sous le ciel de Paris“ mit Edith Piaf und das trockene Hörnchen schmeckte wie ein frisches Croissant. Bei Liebeskummer half am Besten „Ne me quitte pas“ von Jacques Brel. Ja, und um die Wartezeit auf Urlaub zu verkürzen, versetzte uns Charles Trenet mit „La mer“ bereits an den Strand.

Diese nostalgischen Momente kamen und gingen, verlierten sich in den letzten Jahren, da das Pariser Leben und die französischen Chansons inzwischen zum Alltag gehören. Und plötzlich werden all diese Erinnerungen wieder wach dank Olaf Salié und seinem äusserst elegant wissenswerten Text- und Bildband „Chanson“.

Olaf Salié kennt Frankreich, Paris, liebt die französische Kultur und das französische Chanson. Er war lange Zeit Chefredakteur eines Kölner Wissenschaftsverlages und lebt inzwischen in Berlin.

Leidenschaft, Melancholie und Lebensfreude aus Frankreich, das ist der Untertitel dieses sehr informativen und schön gestalteten Werkes. Dass das Chanson in Frankreich zu einem Kulturgut, gehört steht wohl ausser Frage. Dass es auch eine Art Schutz von Seiten des Staates geniesst, ist vielleicht ausserhalb von Frankreich unbekannt. Durch ein Gesetz wird dafür gesorgt, dass 40 Prozent der im französischen Radio gesendeten Lieder auch wirklich original französischer Herkunft sein müssen. All dies und vieles mehr erfährt der Leser in der Einleitung dieses Buches. Die geschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge, die auch das Chanson massgeblich beeinflusst haben, werden durch das sehr gut ausgewählte historische Bildmaterial anschaulich erläutert. Auch die Bedeutung der französischen Literatur wird nicht vernachlässigt. Ganz im Gegenteil, denn Einige der berühmten Dichter und Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Jacques Prévert, Louis Aragon oder Jean-Paul Sartre waren die Urheber sehr bekannter Chansontexte.

Wir blättern beispielsweise durch die Biographien von Maurice Chevalier, Yves Montand, Charles Aznavour, Georges Moustaki, Gilbert Bécaud. Tauchen ein in das Leben von Juliette Gréco, Barbara, Georges Brassens, Jacques Brel. Lernen auch Léo Ferré genauer kennen, der zu den poetischten Chansonniers gehört. Und machen dann einen Sprung von den sechziger Jahren u.a. mit Jonny Hallyday, Serge Gainsbourg zu den Frauen der siebziger Jahre wie Jane Birkin, France Gall. Am Ende dieses aussergewöhnlichen musikalischen Parcours gibt es noch Einblicke in den Übergang vom klassischen Chanson zum sogenannten „Nouvelle Chanson“, wo natürlich Carla Bruni, Patrick Bruel und ZAZ nicht fehlen dürfen.

Die Porträts dieser Chansonniers/Chansonnières sowohl in Text als auch im Bild machen nicht nur neugierig, mehr darüber zu erfahren. Sie machen vor allem Lust, endlich wieder die alten CDs auszupacken und sich mit diesen lyrischen Hymnen dem Leben und der Liebe zu widmen. Dieses wundervolle Buch von Olaf Salié ist eine grossartige Hommage an das französische Chanson. Ein Buch, das in jeder Lebenssituation Wissen, Genuss und Trost spendet durch eine der poetischsten Formen der Musik, die selbst die Einsamkeit mit „Ma solitude“ von Georges Moustaki in ein Glücksgefühl verwandelt!

Durchgelesen – „Die Zartheit der Stühle“ v. Jürg Beeler

Die „Zartheit zwischen zwei Menschen ist nichts anderes als das Bewusstsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen“ hatte bereits Theodor W. Adorno in seinem Werk „Minima Moralia“ definiert. Vielleicht kann die Strahlkraft dieses Adorno-Zitats durch den gerade aktuell erschienen Roman „Die Zartheit der Stühle“ von Jürg Beeler bestätigt werden.

Jürg Beeler, in Zürich geboren, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Er lebt und schreibt sowohl in Südfrankreich als auch in der Schweiz. Vielfach ausgezeichnet hat er zwei Gedichtbände und inzwischen sieben Romane veröffentlicht.

Matteo, die Hauptfigur in Beelers neuen Roman, ist ein ehemaliger Clown, Pantomime und Schauspieler. Aufgewachsen in einem Bündner Dorf, lädt er den Leser ein in sein Leben zwischen Schweigen, Beobachten, Sprechen, Lieben und Trauern.

Zuhause im Alltag ist Matteo eher schweigsam, nur auf der Bühne, lernte er später als Schauspieler mit der Sprache und den Worten zu spielen. Insbesondere bei Shakespeares Hamlet oder King Lear war er dank seines aussergewöhnliches Gedächtnisses in seinem Element. Doch dann passiert etwas, vor dem sich wirklich jeder Schauspieler in seinem Bühnenleben fürchtet. Er hatte seinen Text verloren, eine Gedächtnislücke, die selbst mit Hilfe der Souffleuse nicht mehr geschlossen werden konnte. Es passierte genau in der dritten Vorstellung nach dem Begräbnis seiner langjährigen Lebenspartnerin Zofia.

Zofia war für Matteo eine elegante Polin, die in seinen Augen zu den Frauen gehörte, die am Besten zuhören konnten. Nun war sie tot und Matteo zieht sich von der Bühne zurück:

„Vom Rampenlicht trat ich in ein Dunkel hinaus.“

Er flieht von Berlin nach Lerone, einer kleinen süditalienischen Stadt. Vor dreissig Jahren kam Matteo an diesen Ort, lernte dort per Zufall seinen inzwischen guten Freund Ettore kennen, der ihn als Anwalt dabei unterstützte, eine passende Wohnung zu kaufen. Lerone sollte ihm helfen, den Verlust von Zofia zu verarbeiten. Sie hatten gemeinsam hier viele intensive Momente verbracht, oft auch jeder für sich. Matteo auf seinem Lieblingsplatz der Piazza d’Oriente.

Und genau auf diesem Platz begegnet ihm jetzt nach seiner Flucht eine fremde Frau, die ihn anspricht. Sie nennt sich Vera, sie kam von Montréal nach Paris und sucht hier in Lerone Ruhe für ihre Komposition. Sie kommen ins Gespräch. Und dann steht Vera plötzlich vor seiner Wohnungstür. Sie bleibt ein paar Tage und dann ist sie wieder weg, worüber Matteo sich fast schon freute:

„Ich war gerne mit mir allein, wenigstens wusste ich, was ich an mir hatte.“

So ganz allein war Matteo jedoch auch in Lerone nie, denn Zofia war immer bei ihm. Er spürte gerade in Lerone ihre fünfzehnjährige Verbindung, aber auch die Probleme, die sie zusammen hatten. Sie zogen nach Berlin, nach dem sie sich in Paris bei einer Veranstaltung kennenlernten. Zofia war Musikerin, Pianistin, Cembalistin. In Matteos Augen war es ein grosser Fehler gewesen, gemeinsam nach Berlin zu gehen. Sie lebten jedoch in getrennten Wohnungen. Vielleicht war er es genau dies, was die Liebe so komplex gestaltete. Er hatte sich während ihrer Krankheit zu wenig um sie gekümmert und letztendlich, nachdem sie keine weitere Behandlung mehr wollte und mit ihrem Leben abschloss, hatte sie sich von ihm getrennt.

Matteo versuchte mit ihrem Tod umzugehen, sein schlechtes Gewissen zu analysieren und neuen Mut zu fassen, um Vera genauer zu verstehen. Irgendwie spürte er, dass Vera nicht zufällig in Lerone war und seine Nähe suchte…

All die Beziehungen, die Matteo in seinem Leben hatte, mit Zofia, mit Vera, waren, wenn man an das Zitat von Adorno denkt, vollkommen zweckfrei. Eines ist sicher, Matteo ist ein Mensch, der intensiv lebt und gelebt hat. Dabei von der Vergangenheit immer wieder eingeholt wurde, die Gegenwart aber nicht ignorierte und behutsam in eine noch ungewisse Zukunft blickte.

Selten wird in der Gegenwartsliteratur mit soviel Feingefühl, ja mit so einer unglaublichen Zartheit das Leben, Leiden und Lieben eines Mannes und zweier Frauen aufgezeichnet. Matteo teilt neben Zofia und Vera seine Gedanken, Gefühle, Sorgen und Wünsche ganz vorsichtig mit dem Leser, ohne ihn dabei zu überfordern. Natürlich wirkt er dabei oft verletzlich und ein wenig hilflos, denn auch Matteo stürzt ab und versucht sich zurück zu kämpfen.

Jürg Beeler ist ein Sprachkünstler und Wort-Jongleur. Der Leser spürt den Dichter, den Lyriker und freut sich bei jeder Zeile, wie die Sätze durch ihre Eleganz und ihre Musikalität die sensible Lebens-Dramatik ohne jeglichen Kitsch in eine sehr anrührende und vielschichtige Liebesgeschichte verzaubern. Matteo lernt seine Schmerzen zu ertragen und dem Leben eine neue Ordnung zu geben, die in dieser so besonderen sprachlichen Atmosphäre zwischen achtsamer Melancholie und romantischer Heiterkeit eine unerwartete Sorgwirkung auslöst, der sich der Leser nicht entziehen kann.

„Die Zartheit der Stühle“ ist ein grandioses Buch. Ein sanfter und starker Roman zugleich, der in diesem Literatur-Frühling zu den wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen zählt. Ein wahres literarisches Bijou, dem wir ein grosses Lesepublikum und einen hoch verdienten Buchpreis wünschen.

Durchgelesen – „Die Entscheidung“ v. Amélie Cordonnier

Bleiben oder gehen!? Für wen bleiben bzw. warum gehen? Fragen, die sich viele Frauen in einer Beziehung oder Ehe nicht stellen wollen, dürfen oder können. Auch dann, wenn die Antwort so wichtig und lebensrettend wäre. 

Amélie Cordonnier, als Journalistin tätig, stellt in ihrem Erstlingsroman „Die Entscheidung“ („Trancher“ 2018) – aktuell erschienen dank der hervorragenden Übersetzung von Amelie Thoma –  ihrer Hauptprotagonistin genau diese Fragen. Cordonnier erzählt die Geschichte einer Frau, die liebt, leidet und kämpft.

Das Familiendasein könnte eigentlich schön sein zwischen Aurélien, der Mann und Vater zweier Kinder und seiner Frau. Sie führen in Paris ein ganz beschauliches Leben. Die Frau und Mutter erlebte jedoch vor Jahren ein Wechselbad zwischen Liebe und Gewalt, war dadurch gezeichnet von Depressionen. Sie fand durch Therapien wieder Halt und schaffte es, sich von ihrem Mann zu lösen, bevor er selbst auch mit einer Therapie seine Aggressionen bearbeitete.

Aus Liebe ist die Frau wieder zu ihm zurückgekehrt, in der Hoffnung, dass es nochmal funktioniert. Sieben Jahre lang war alles scheinbar wieder gut bzw. hielt er durch. Doch plötzlich kam die Gewalt zurück. Es war eine verbale Gewalt, die alles zerstörte und sie wurde erneut eine „geschlagene“ Frau:

„Die Frau eines gewalttätigen Typen, der es schafft, sie kaputt zu schlagen, ohne sie zu berühren.“

Demütigungen, Beleidigungen, Schimpfwörter von „fette Hure“, „Ratte“ über „Schlampe“, „Flittchen“ bis zur „Schickse“ ist alles dabei. Jedes Wort trifft sie ins Mark. Es fühlt sich an wie ein Schlag, der jedoch nicht über die Hand, sondern durch sein Gebrüll auf die Frau einwirken.

Selbst Marie, die Freundin der Frau, versteht nicht, warum sie sich erneut wieder so behandeln lässt und drängt, dass sie endlich eine endgültige Entscheidung fällen muss. Nur welche Entscheidung? Sie will partout ihren Kindern nicht den Vater nehmen, obwohl selbst diese miterleben, wie mies Aurélien seine Frau und die Mutter seiner Kinder behandelt. 

Sie versucht die permanent angespannte Situation auszusitzen, nachdem sie sich eine Frist für ihre Entscheidung Anfang Januar zu ihrem Geburtstag gesetzt hat. Doch es wird immer schwerer:

„Du wartest schweigend, dass die Gewalt abebbt. Dass seine angestaute Wut abfliesst wie der Eiter aus einer Geschwulst.“

Inzwischen überträgt sich auch die Wut von Aurélien auf den Sohn, der seine Schwester grundlos schlägt. Ein Signal, dass die Frau eigentlich nicht ignorieren sollte. Sie quält sich, sie leidet und sie entscheidet!

Amélie Cordonnier fordert den Leser heraus. Der ungewöhnliche Erzählstil in der zweiten Person, dieses „Du“ verwirrt und trifft, lässt jedoch nicht mehr los und man hängt an den präzisen Worten und scharfsinnigen Sätzen wie ein Besessener und Abhängiger, als gäbe es kein Entkommen mehr. Dass Wörter töten könnten, wird spätestens nach dieser Lektüre deutlich. 

„Trancher“ ist im Französischen mehr als nur eine „Entscheidung“. Es bedeutet auch etwas „durchschneiden“, „durchschlagen“, „beseitigen“, „klären“ und bei Schwierigkeiten „aus dem Weg räumen“. Ein gut gewählter Titel im französischen Original, der die verletzende Gewalt in all seinen Facetten betrachtet, einordnet und bearbeitet. 

Wut, Panik, Kampf, Leid und Ambivalenz der Gefühle, alles packt die Autorin in gerade mal 170 Seiten, um Gewalt in der Ehe ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen. Es ist ein bewegender, aufwühlender Roman, ein grandioses Buch, auch wenn es weh tut und Angst macht. Die Autorin mit ihrem spektakulären „Du“ spricht eine Wahrheit aus, die gesehen und gehört werden muss. Gewalt und Misshandlung in der Ehe, auch wenn sie nicht sofort durch blaue Flecken oder schwere äusserliche Verletzungen ersichtlich ist, darf nicht unerkannt bleiben. 

Lesen Sie „Die Entscheidung“! Ein wichtiges literarisch beeindruckendes Debüt, das man auf gar keinem Fall in diesem Jahr verpassen sollte! 

Durchgeblättert – „Jeux de Mains“ v. Cécile Poimboeuf-Koizumi & Stephen Ellcock

„Nichts gibt mehr Ausdruck und Leben, als die Bewegung der Hände; im Affekte besonders ist das sprechendste Gesicht ohne sie unbedeutend.“ Gotthold Ephraim Lessing hatte mit diesem Satz bereits die Bedeutung von Händen ganz klar erkannt. Die Bewegung der Hände kann, darf und muss vieles bedeuten. Menschen schreiben mit den Händen, sie malen, sie spielen ein Instrument und sie sprechen mit ihnen. Die Hände können aber auch Angst verbreiten, sie können bestrafen und schlagen. Hände können auch ganz unbewegt bleiben, sie können aber auch streicheln, trösten und Liebe schenken. Hände können fast alles oder nichts. 

In der Kunst ist die Hand das absolute Sinnbild der Kreativität. Und um dieses so unterschiedlich interpretierte Kunstsinnbild einzuordnen, zu bewundern, zu verstehen, zu lieben und zu erleben, haben Cécile Poimboef-Koizumi und Stephen Ellcock ein Werk geschaffen, das dem Namen Kunstbuch mehr als alle Ehre erweist. Cécile Poimboef-Koizumi stammt aus einer französisch-japanischen Familie, sie arbeitet als Verlegerin, hat den Verlag Edition Chose Commune mitgegründet und leitet diesen als künstlerische Direktorin. Stephen Ellcock ist ein in London lebender Schrifsteller, Publizist und Sammler von Bildern. Er hat ein virtuelles Museum auf Facebook und Instagram kreiert. Die Kombination von diesen beiden Ausnahmetalenten hat nun ein wundervolles und sehr beeindruckendes Werk hervorgebracht: „Jeux de mains“, das man mit Handspiele oder Händespiel – je nachdem – übersetzen könnte. 

Dieses Kunstbuch ist gleichzeitig auch ein Werk der Buchkunst. Die japanische Bindetechnik hat einen gewissen Einfluss genommen und nicht alle Seiten dieses Werks sind offen geschnitten. Somit kann der Leser, Betrachter und Kunstgeniesser nach jedem Kunstwerk die Seiten ganz vorsichtig durchschneiden, damit er die dazugehörigen Informationen nachlesen kann.

Die beiden Schöpfer dieses Buch-Objekts haben sich bei der Auswahl der darin vorgestellten Hand-Kunstwerke sehr viele Gedanken gemacht. Mehr als 100 Kunstwerke aus den verschiedensten Bereichen wie beispielsweise Malerei, Fotographie und Skulptur. Unbekannte und sehr berühmte Künstler werden hier in diesem Buch vereint. Ein so aussergewöhnlicher Ansatz, der dem anonymen Unbekannten einen so unfassbar grossen Wert verleiht dank der Nähe zu dem berühmt Bekannten. Auch die Epochen werden so wundervoll durcheinander gewürfelt und die Form der Darstellung zeigt all seine Facetten. 

Der Leser bzw. Betrachter betritt mit diesem besondern Buch ein Museum der besonderen Art, ein wahres „Hand-Museum“. Wir sind erstaunt über die Hand-Vielfalt von Schiele, Rodin, Holbein, v. Menzel, Degas und Ingres. Fasziniert von unbekannten plastischen Werken aus Mexiko oder anonymer Fotokunst, entdecken wir natürlich nebenbei auch Picasso, Alberto Giacometti, Louise Bourgeois, Paul Steinberg, Man Ray, Gerhard Richter, Oscar Munoz und Sophie Calle unter vielen Anderen. 

Beim Betrachten dieser Bilder und Kunstwerke spürt man selbst durch das Blättern und Aufschneiden bzw. Öffnen der Seiten, wie wichtig doch Hände auch beim Lesen sind. Welch ein unbeschreiblich schönes Gefühl es doch ist, mit seinen Händen ein Buch aufzuschlagen, darin zu blättern, die Seiten zu berühren und zu erspüren. Hände sind in diesem Fall eine Art zweites oder manchmal sogar das einzige Auge, um das Wichtige im Leben zu sehen bzw. zu erfühlen. Und gleichzeitig geben diese Hände sehr viel mehr, als man im ersten Moment vielleicht glauben mag, an Ausdruck, Information und Gefühl weiter. 

In den aktuellen komplexen Zeiten, in welchen Hände zur Begrüssung und zur Berührung wegen vorgeschriebener Distanz einen noch höheren Stellenwert bekommen, kann dieses so traumhaft schöne Kunstbuch diesen Mangel ein wenig ausgleichen. Doch vergessen wir nicht, wie wichtig Hände sind, welche Bedeutung sie haben, vor allem dann, wenn wir sie nicht in wichtigen Momenten so benützen können und dürfen, wie wir es gewohnt sind und wie wir es uns so sehnlichst wünschen.

Heinrich Heine meinte „Eine schöne Hand ziert den Menschen“. Ob die Hand des individuellen Lesers schön ist, bleibt jedem in seiner ganz privaten Betrachtungsweise selbst überlassen. Halten Sie, verehrter Leser, einfach dieses so besondere Kunstbuch in Ihren schönen Händen – denn nur dies zählt!

Durchgeblättert – „Literaturhotels“ v. Barbara Schaefer

Friedrich Hebbel brachte es mit diesem Zitat auf den Punkt: „Eine Reise ist ein Trunk aus der Quelle des Lebens“.

Nur leider kann in den aktuellen komplexen Zeiten sich kaum jemand an diesem so essentiellen und lebenswichtigen Trunk laben. Glücklicherweise vermögen Bücher ein wenig hinwegtrösten und dem Leser eine andere Art des „Reisens“ erlauben.

Gut geeignet sind dazu Bildbände, die sich auch noch mit dem Reisen und insbesonderen mit dem literarischen Reisen beschäftigen. Barbara Schaefer, inzwischen als freie Autorin aktiv, hat Theaterwissenschaften und Germanistik in München und Italien studiert. Sie hat eine grosse Vorliebe für ungewöhnliche Hotels, im Besonderen Literaturhotels, denen sie ihr aktuell erschienenes Buch widmet. 

Charmant eingeführt über die Vorzüge in einem Hotel zu schreiben oder als Schriftsteller doch lieber das eigene Heim zu preferieren, begleitet uns Barbara Schaefer mit ihren sehr informativen und charmanten Texten durch eine Reise von 19 Hotels, in denen Literatur und Bücher entstanden sind, die aber auch Fluchtort und Heimat für viele bedeutende Schrifsteller wurden.

Die Reise beginnt in Deutschland, über Österreich in die Schweiz, dann nach Italien und Frankreich. Sie führt weiter nach England, Schottland und Polen. Lässt den Leser einen Abstecher in die Türkei machen, wirft gleich zwei Blicke nach Thailand und einen in die USA. 

Ein paar Hotels, wie das Adlon in Berlin und das Waldhaus Sils Maria in der Schweiz sind sicher bei vielen literarisch Interessierten bekannt. Doch wir entdecken viel Neues, wie das Bauhaus-Hotel Albergo Fondazione Monte Verità im schweizerischen Tessin, in dem Hermann Hesse einige Zeit verbrachte. Oder das Belmond Hotel Timeo in Südsizilien, auf dessen Terrasse D.H. Lawrence gelegentlich gesehen wurde. 

Wer noch nicht das berühmte Werk „Hotel Savoy“ von Joseph Roth gelesen hat, sollte unbedingt im gleichnamigen Hotel in der Altstadt von Lodz (Polen) Roth-Luft schnuppern. Am Ende dieser „Buch-Reise“ besuchen wir noch ein im ersten Moment eher unbekanntes Hotel – „The Algonquin“, das älteste Hotel von New York City. Berühmt wurde dieses Hotel durch seinen legendären Literaturzirkel, den „Algonquin Round Table“ und bei dem die Theaterkritikerin Dorothy Parker eine zentrale Rolle spielte.

„Literaturhotels“ ist ein wirklich schön gestaltetes Werk, einladend natürlich auch durch diverse wundervolle Bilder aus den Hotels und den dazugehörigen Landschaften und Städten. Ein Buch, das die Sehnsucht nach Ferne, nach Flucht, nach Ankommen und nach Genuss zu einem gewissen Punkt erfüllen kann. Doch am Ende hilft nur die wahre Reise selbst, wie Gogol treffend formulierte: „Wie schön ist eine lange, lange Reise! Wie oft habe ich danach wie nach einem Rettungsanker gegriffen! Und wie oft hat mich so eine Reise errettet!“

Geniessen wir fürs Erste diesen schönen Bildband und gleichzeitig hoffen wir, dass uns bald eine echte Reise zu diesen besonderen Literaturhotels im Sinne von Gogol „erretten“ kann!

Durchgelesen – „Rose Royal“ v. Nicolas Mathieu

„Die Liebe ist ein seltsames Spiel, Sie kommt und geht von einem zum andern, Sie nimmt uns alles doch sie gibt auch viel zu viel, Die Liebe ist ein seltsames Spiel“ genau so wurde bereits mit dieser ersten Strophe eines berühmten Schlagers in den sechziger Jahren von Connie Francis die Liebe besungen.

Das überrascht auch heute nicht, denn die Liebe ist, wird und kann immer ein seltsames Spiel bleiben. Doch wie seltsam, verrückt, intensiv, fatal und glücklich eine Liebe sich entwickeln kann, wird sehr klar durch das aktuellste literarische Werk „Rose Royal“ von Nicolas Mathieu, das ganz neu – in ausgezeichneter deutscher Übersetzung von Lena Müller und André Hansen – erschienen ist.

Nicolas Mathieu, 1978 in Épinal (Vosges) geboren, lebt und arbeitet in Nancy. Inzwischen hat er mehrere Romane veröffentlicht, sein erster Roman „Aux animaux la guerre erschien 2014 und wurde für eine französische Fernsehserie adaptiert. 2018 folgte sein zweiter Roman „Wie später ihre Kinder“ („Leurs enfants après eux“), der im gleichen Jahr unter anderem mit dem wichtigsten französischen  Literaturpreis geehrt wurde – dem Prix Goncourt! 2019 entstand sein letztes kleines feines Werk, eine Art „Roman-Novelle noir“ – „Rose Royal“ – die nun ein Jahr später erfreulicherweise in deutscher Sprache vorliegt.

Dieses neue Werk von Nicolas Mathieu ist die Geschichte einer Frau – Rose – 50 Jahre alt, geschieden, zwei Kinder, Sekretärin. Sie hat viele Schicksalsschläge und Trauerfälle überwunden, einige Beziehungen und Liebschaften erlebt und überlebt. Und sie hat eine Freundin, mit der sie sich in ihrer Stammkneipe dem „Royal“ regelmässig trifft und  dort ihren Durst nicht nur nach Bier stillen kann und wird. 

Obwohl Rose sich ihr Leben soweit unabhängig eingerichtet hatte und auch spürte, dass sie mit Männern selbstbewusster und stärker umgehen konnte, gab es doch immer wieder einen Moment, wo sie sich durch die männliche Dominanz verletzt und bedrängt fühlte. Das musste aufhören und so beschloss Rose, sich einen kleinen Revolver für ihre ganz persönliche Sicherheit zu besorgen.

„Die Angst sollte die Seiten wechseln.“

Bei einem konkreten Abend im „Royal“ war die Stimmung eher verhalten, denn ihre Freundin konnte nicht wie gewohnt die Kneipe als einen privaten „Friseur-Salon“ benutzen. Doch kurz vor der Sperrstunde stürmten Jugendliche das Lokal und wollten ihre letzten 100 Tage vor der Abiturprüfung feiern. Der Wirt liess sich darauf ein und es wurde viel getrunken. Ganz plötzlich nach einem Knall, stürmte ein Mann mit einem sehr schwer verletzten und blutüberströmten Hund in die Kneipe und hoffte auf Hilfe und Unterstützung. Rose beobachtete die Situation, holte ihren Revolver und schoss zielgerichtet in den Kopf des Hundes. Der Hund war von seinem Leiden erlöst und der Hundebesitzer war erleichtert. 

Genau dieser Hundehalter – namens Luc – meldete sich keine zwei Tage später bei Rose per Telefon und seit dem waren sie irgendwie zusammen, mal mehr und weniger. Doch diese Beziehung entwickelte sich anders, als Rose je erwartete und sich vielleicht gewünscht hätte, wären dann nicht so viele Probleme: der Alkohol, das Schweigen, die Gewalt und die Abhängigkeit.

Rose wollte sich eigentlich befreien und war im selben Moment dabei sich zu bewaffnen. Doch sie liess es zu, sich in eine Art goldenen Käfig einsperren und darin gleichzeitig entwaffnen zu lassen. Was konnte jetzt noch passieren…?

Dieser Mini-Roman ist ein kleines Kunstwerk! Meisterhaft in seiner Sprache, die nur so vor Klarheit, Schärfe und Direktheit strotzt. Hier kann nichts versteckt und geschönt werden. Alles wird ausgesprochen und wie auf einem Sektionstisch zerlegt. Und genau dadurch wird diese literarisch-psychologische „Studie“ hinsichtlich der späten Liebe einer Frau zu einem mehr als unvergesslichen Lese-Ereignis.

Nicolas Mathieu skizziert bravourös in 90 Seiten das Leben einer Frau, das sich komplett verwandelt. Nachdem sie einen Hund von sein Schmerzen befreit hat, beginnt sie letztendlich selbst wie ein Hund zu leiden. Rose wechselt von ihrer schwer erkämpften  Unabhängigkeit in die totale Abhängigkeit, nicht nur vom Alkohol auch von der Liebe eines Mannes. 

„Sie konnte sich nicht vorstellen, ohne ihn zu leben, und ärgerte sich über sich selbst, die Gleichung aus Ablehnung und Anziehung nicht lösen zu können.“ 

„Rose Royal“ ist ein grandioser Text und eines der besten Bücher in diesem Sommer,  das man mit einem Atemzug durchlesen kann und muss. Es zeigt die realistische Banalität von menschlichen Beziehungen und macht viele sozialgesellschaftlichen Probleme sichtbar ganz ohne Pathos, aber trotzdem sehr poetisch. Nicht umsonst gibt es trotz der Kürze drei Teile in diesem Roman, der wie eine echte Tragödie in drei Akten konzipiert ist. Eine Tragödie, die Rose – eine Frau, die sich nach Liebe sehnte – vielleicht hätte verhindern können, doch wie und ob darf bzw. sollte der Leser unbedingt selbst herausfinden…

 

Durchgeblättert – „Do You Read Me“ – Besondere Buchläden und ihre Geschichten

Philippe Djian hatte bereits klar erkannt: „Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“

Und um dieses kaum zu übertreffende Zitat noch konkreter zu erleben, sollte es im wahrsten Sinne des Wortes Bücher auf Rezept geben, die das Leben herausfordern, hinterfragen und bereichern. Ja und genau so ein Buch hat gerade das „Licht der Welt“ erblickt, einer ganz besonderen Welt – der Welt der Buchläden. 

Buchhandlungen sind Orte, die Fragen zu lassen, in denen man Antworten findet, die zu literarischen Reisen einladen, die Informationen und Kultur vermitteln, die Möglichkeiten des Austausches bieten, die Ablenkung nicht nur vortäuschen und die Aktualität mit Beständigkeit elegant verknüpfen.

„Do You Read Me“, ein wunderschön gestalteter Bildband über genau diese Buch-Orte, ist zur Zeit das interessanteste und abwechslungsreichste Buch über Buchläden und ihre dazugehörigen unerlässlich spannenden Geschichten. Der Titel des Buches wurde der Buchhandlung „Do You Read me“ aus Berlin „entliehen“, die ein eher ungewöhnliches Buchhandlungskonzept vorweist, welches Magazinen aus aller Welt mehr Bedeutung in Auswahl und Platz schenkt, als dem zusätzlich angebotenen aussergewöhnlichen Buchsortiment.

Über 60 Buchhandlungen bzw. Buchläden werden in diesem Werk mit grandiosem Bildmaterial und fein kuratierten Texten vorgestellt. Die Auswahl ist absolut international, neben bereits auch berühmt bekannten Buchhandlungen wie „Shakespeare & Company“ in Paris oder der „Boekhandel Dominicanen“ in Maastricht, entdecken wir bezaubernde und atemberaubende Buch-Paradiese und Buch-Kleinode, die ihresgleichen suchen.

Da gibt es beispielsweise ein charmant in Türkisfarben gehaltenes Buchladen-Café in Istanbul oder ein spektakuläres Buchhandlungskonzept in Mexiko-Stadt, bei der im jüngsten Buchhandlungprojekt „Cafebreria El Péndulo“ eine riesige Palme mitten in der Buchhandlung steht und aus deren Dach ragen darf. In Island wird ein entzückendes kleines Antiquariat „Bokin“ zum Kulturbotschafter. Die USA zeigt eine Fülle von faszinierenden unabhängigen Buchhandlungen, die mehr als klassisches Engagement beweisen, wie zum Beispiel der Initiator „Michael Seidenberg“ seines vollkommen „geheimen“ Buchladens – „Brazenhead Books“ in New York City -, den er aus und mit seinem eigenen Appartement gemacht hatte. Aber auch eine schwimmende Buchhandlung mit dem Titel „The Book Barge“, die am Canal du Nivernais in Frankreich liegt, sorgt für Erstaunen.

Richtig spektakulär darf es natürlich auch sein, vor allem wenn man die Bilder der Buchhandlung „WUGUAN BOOKS“ aus Kaohsiung (Taiwan) bewundert, denn in dieser Buchhandlung werden ungefähr 400 Bücher in absoluter Dunkelheit mit jeweils eigenem Licht präsentiert. Oder vollkommen unverwechselbar, wenn man sich die Buchhandlung „Morioka Shoten“ in Tokio ansieht. Hier wird nur ein einziges Buch zum Verkauf angeboten!

Die vielfältige Auswahl an Buchläden in diesem Werk ist beeindruckend, inspirierend und motivierend zugleich. Die hier präsentierten Buchhandlungen sind auf verschiedenste Weise und in  ihrer Kombination inhaltlich, aber auch gestalterisch und architektonisch die wundervollsten „Meisterwerke“ in Punkto Lese-Paradiese!

Kaum verwunderlich, dass bereits in einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung dieses Buch als „Verneigung vor einer fantastischen Institution: der Buchhandlung“ bezeichnet wird. Es könnte sogar noch mehr sein als „nur“ die Verneigung vor der Institution Buchhandlung. 

Selbstverständlich ist es auch die Verneigung vor den buch-begeisterten Köpfen, kreativen Initiatoren und kompetenten Buchhändlern, die diese Lese-Orte mit gebührendem Engagement und grosser Leidenschaft geschaffen haben und weiterhin alles dafür tun, sie langfristig anziehend und lebendig zu halten. Doch vergessen wir nicht den Leser, Buchliebhaber und potentiellen Kunden, der genau diese Buchläden regelmässig frequentiert, schätzt, liebt, verehrt und belebt. Und genau diesem Bücherfreund gebührt gleichwohl eine eben so grosse Verneigung, die man in der aktuellen Zeit auf keinem Fall unerwähnt lassen sollte!

„Do You Read Me“ ist ein grandioses „Sammelsurium“ der unterschiedlichsten Buchhandlungen jedoch mit einer grossen Gemeinsamkeit: diese Buchläden geben eine Art „Zuhause“, erfüllen Wünsche und schenken uns – wie bereits Mark Forsyth in seinem Essay erläuterte – eine besondere und unverwechselbare Art des Glücks, nämlich „das große Glück, das zu finden, wonach man gar nicht gesucht hat“!

Durchgelesen – „Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain“ v. Alex Lépic

Commissaire Lacroix ist wieder im Einsatz! 

Alex Lépic, der Erfinder von „Commissaire Lacroix –  den wir bereits durch seinen ersten Fall mehr als schätzen gelernt haben –  entführt den Leser in seinem gerade frisch erschienen zweiten Fall in die besondere Welt der Pariser Bäckereien!

Hätten Sie gewusst, dass es in Paris 1200 unabhängige Bäckereien gibt und dass jedes Jahr ein Wettbewerb um den „Grand prix de la baguette de tradition française de la ville de Paris“, den grossen Preis hinsichtlich des besten Baguettes von Paris, veranstaltet wird? 

Ja, Paris hat so einige Überraschungen zu bieten und da bleiben auch die Pariser Bäcker nicht verschont. Dieser Preis für das beste Baguette bringt dem Bäcker nämlich auch noch eine besondere Ehre ein – dieser auserwählte Bäcker darf nun für ein Jahr bis zur nächsten Wahl des besten Baguettes den Élysées Palast und somit den Französischen Präsidenten beliefern.

Und über diesen wichtigsten Preis der Stadt Paris konnte sich nun die Bäckerei – Boulangerie Lefèvre in der Rue de Seine, im 6. Arrondissement von Paris – freuen. Doch diese grosse Freude über den – vor allem zum zweiten Mal in Folge hintereinander gewonnenen  – 1. Paris für das beste Pariser Baguette, was es bis jetzt noch nie gegeben hat, wird dramatisch getrübt. Monsieur Maurice Lefèvre ist tot! Nach der Verleihung dieser Auszeichnung früh morgens entdeckt ihn ein Gas-Techniker erschlagen in seiner Backstube.

Commissaire Lacroix ist selbst erschüttert, denn für ihn war Maurice Lefèvre ein rechtschaffener und vor allem sehr fleissiger Bäcker, dessen Baguette äusserst beliebt war und selbst Monsieur le Commissaire einen kleinen Umweg dafür nicht scheute. Unterstützt von seinem engagierten Team mit „Capitaine“ Rio, dem „Commandant“ Pagnelli und natürlich auch mit Gerichtsmediziner Docteur Obert, kann die Tatwaffe – ein Brotschieber aus Holz – schnell gefunden werden. Doch was steckt hinter dieser schrecklichen Tat, was sind die Motive und wer ist der Täter?

Der Fall entwickelt sich als delikat, denn die Bäckerinnung und insbesondere deren Chef und dessen „Handelssekretärin“, beide in gewisse Machenschaften verstrickt, haben einen wichtigen organisatorischen Einfluss auf die Zusammensetzung der Jury des Pariser Baguette-Wettbewerbs. Sie hatten Maurice Lefèvre als Letzte gesehen und waren somit wichtige Zeugen. Und bereits bei der ersten Befragung bemerkte Lacroix eine aufsteigende Nervosität und subtile erste Andeutungen auf eine potentielle Wahlmanipulation innerhalb der Jury. 

Die Situation war angespannt, erste Verdächtigungen wurden ausgesprochen auch in Bezug auf Konkurrenz mit anderen Bäckern. Doch Commissaire Lacroix – wie sein berühmter „Kollege“ Maigret –  liess sich glücklicherweise nicht von den ersten Erkenntnissen zu stark beeindrucken und keineswegs beeinflussen, was auch gut war, denn der Fall hatte es in sich und musste auch in besonderer Rücksichtnahme auf den „Élysées Palast“ als „Kunde“ dieser Bäckerei schnellst möglich aufgeklärt werden…

Alex Lépic ist ein echter Paris-Kenner und Flaneur! Mit dem charmanten, etwas altmodisch angehaltenen Commissaire Lacroix, der übrigens nach wie vor kein Mobiltelefon besitzt und deshalb am Besten über die Festnetznummer seines Stammlokals erreichbar ist, kann man nicht nur einen spannenden Kriminalroman lesen, sondern auch durch Paris „reisen“. Und diese „Reise“ lässt sich nun durch die so schön gestaltete Karte auf der Innenseite des Buchcovers ausgezeichnet vor-  und nachbereiten.

Der zweite Fall spielt schwerpunktmässig im 6. Arrondissement – konkret im Quartier Saint-Germain-des-Près mit seinen Literatencafés und vielen guten Bäckereien und Restaurants. Commissaire Lacroix nimmt nie die Metro, geht vorzugsweise zu Fuss – vor allem zwischen seiner Wohnung im 7. Arrondissement und seinem Arbeitsplatz dem Kommissariat im 5. Arrondissement. Hin und wieder nimmt er den Bus und lässt sich in seinen Polizei-Einsätzen von Capitaine Rio chauffieren, die sich – zu seinem Leidwesen – dem Pariser Fahrstil mehr als angepasst hat. 

In diesem zweiten Kriminalroman kommt der Leser den Haupt-, aber auch den Nebenfiguren immer näher, man wird vertrauter, erkennt die Eigenarten, freut sich über neue Feinheiten und fühlt sich beim Lesen in Paris, bei Commissaire Lacroix, seiner Familie, seinen Kollegen und Freunden im wahrsten Sinne des Wortes „ zu Hause“. 

Doch trotz oder gerade wegen dieser „Wohlfühlatmosphäre“  bleibt  „Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain“ ein ganz ausgeklügelt fesselnder Kriminalroman, bei dem der Leser so en passant mit der Pariser Bäckereikunst verführt und gleichzeitig in ein perfides Verbrechen verwickelt wird.

Eric Lépic und sein „Maigret“ alias Commissaire Lacroix entwickelt sich quasi von „Fall zu Fall“ zu der besonderen neue Kriminalreihe, die intelligent, unterhaltsam, informativ und so mitreissend erzählt wird, dass die Lust auf mehr, hoffentlich bald mit dem dritten Fall gestillt werden kann…

Durchgelesen – „Das Ensemble“ v. Aja Gabel

Das Streichquartett ist eine der wichtigsten Gattungen der abendländischen Musikgeschichte. Es bezeichnet aber auch die Zusammensetzung eines Ensembles, das aus zwei Violinen, einer Bratsche und eines Cellos besteht, die von vier Musikern gespielt werden. Bereits Goethe hatte in einem Streichquartett nicht nur eine Musikgattung, sondern auch eine Zusammenführung von vier musizierenden Menschen gesehen:

„Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“

Und von genau vier solch „vernünftigen“ und in diesem Falle jungen Leuten erzählt dieser besondere Roman „Das Ensemble“ von Aja Gabel, der gerade aktuell dank der wunderbaren Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence in deutscher Sprache erschienen ist. 

Der Roman von Aja Gabel ist nicht nur eine Geschichte von vier Musikern, es sind eigentlich vier Geschichten von vier Mitgliedern eines Streichquartetts – eines Ensembles: die Erfolgsgeschichte, die Leidensgeschichte und vor allem die Liebes- und Freundschaftsgeschichte.

Es gibt vier Hauptcharaktere – vier Freunde –  und jeder hat eine einzelne Stimme, nicht nur im musikalisches Sinne, sondern auch im Lebenssinne und diese vier Einzelstimmen müssen in ihren einzelnen Persönlichkeiten in das komplexe Ensemble integriert und dazu zu einer musikalischen Stimme vereint werden.

Da gibt es Jana, 24 Jahre alt, die erste Geigerin, eine zielstrebige, zeitweise hektische Musikerin, die das absolute Gehör hat, auf Selbstvertrauen baut und sich von ihrer unerlässlich aufstrebenden Mutter, eine berühmte Schauspielerin zu sein, zu distanzieren versucht.

Henry, Bratschist, der jüngste des Quartetts und ein echtes Wunderkind. Dies sorgt nicht nur für Erstauen bei den anderen drei Musikern, sondern hin und wieder auch für Neid und grosse Auseinandersetzungen.

Dann treffen wir auf Daniel, den Cellisten dieses Ensembles, ein Musiker, der spät zur Musik kam, ein Musiker, der viel arbeiten bzw. üben muss, um den musikalischen Ansprüchen der anderen Drei gerecht zu werden.

Und dann gibt es noch Brit, die zweite Violinistin. Sie ist eine unverbesserliche Romantikerin, die manchmal den Schwerpunkt ihres Lebens nicht in die Musik legt, sondern sich lieber mit der Gründung einer eigenen Familie beschäftigt.

Diese vier Personen formen das Van-Ness-Quartett, sie lernen sich im Konservatorium kennen, befreunden sich und vereinen sich zu einem Ensemble, das in einer Zeitspanne von 1994 bis 2010 durch viele Höhen und vor allem auch Tiefen gehen muss. Die Musiker vermasseln einen Wettbewerb, sie streiten, sie kämpfen mit Missgunst und Unverständnis, sie planen die nächsten Konzerte, üben bis zum Umfallen und stehen auch vor vielen menschlichen und ganz persönlichen Entscheidungen…

Aja Gabel hat einen sehr intensiven, emotionalen, spannenden und auch aktionsvollen Debüt-Roman geschrieben, der mehr als nur das vielschichtige Leben und Wirken eines Streichquartetts erzählt. Diese enge Verknüpfung, diese Freundschaft, diese Nähe zwischen diesen vier Musikern, ist jederzeit übertragbar auf andere Freundesgruppen und Familien, die auch wie diese vier Musiker um Akzeptanz, Anerkennung, Wertschätzung und Respekt innerhalb ihres Ensembles hart arbeiten und kämpfen. 

Mit grosser Hingabe und Einfühlungsvermögen werden durch die Musik als Inbegriff der zwischenmenschlichen Kommunikation neue Erlebnisse, Konflikte und Lösungen vermittelt, die den Leser nicht nur in den Bann ziehen, sondern auch emotional berühren und aufrühren. Und trotz des – für den Laien – so unfassbar vorstellbaren Erfolgsdrucks eines Musikers, erleben wir diese vier sehr unterschiedlichen Charaktere, wie stark sie doch – schwankend zwischen spannungsgeladenen Differenzen und tief gehendem Einvernehmen – miteinander eng zusammengehören.

Das „Ensemble“ ist ein grossartiges Buch, das man bereits nach den ersten Seiten nicht mehr aus der Hand legen kann. Und dieser Roman ist ein besonderes Geschenk, das den Leser nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch verführt und man bereits während der Lektüre grosse Lust verspürt, so manch berühmtes Streichquartett sei es von Beethoven, Dvorak, Haydn, Mendelssohn, Mozart, Ravel, Schostakowitsch und Tschaikowski endlich neu oder wieder zu entdecken!

Durchgelesen – „Fehlstart“ von Marion Messina

Wer kennt das Phänomen nicht: man möchte neu starten und beginnt gleichzeitig diesen Start mit einem Fehler und am Ende fügt sich alles zu einem perfekt geplanten Fehlstart zusammen.

Und von genau so einem Fehlstart handelt der aktuell in deutscher Sprache erschienene Debütroman von Marion Messina, der grandios aus dem Französischen von Claudia Steinitz übersetzt wurde.

Marion Messina wurde 1990 in Grenoble geboren und hat nach dem Abitur Politik- und Agrarwissenschaften studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin. Ihr Debüt-Roman „Fehlstart“ („Faux départ“) wurde in Frankreich nach Erscheinen 2017 sehr gefeiert!

Aurélie, eine junge begabte Schülerin mit einem sehr guten Abiturabschluss, bleibt es verwehrt an den berühmten Eliteuniversitäten von Paris zu studieren. Aus finanziellen Gründen – aufgewachsen in einer Sozialwohnung in Grenoble – muss sie ihr Studium in Ihrer Heimatstadt aufnehmen. Obwohl sie viel lieber ein Literaturstudium absolvieren wollte, entschliesst sich Aurélie notgedrungen für das Jurastudium, um ihre Eltern zufrieden zu stellen. Doch kaum hatte sie ihr Studium aufgenommen, stellten sich die ersten eher desillusionierenden Gedanken ein:

„Nach den zwei Stunden dieser ersten Vorlesung hatte sich Aurelie wie ein frisch defloriertes Mädchen gefühlt, sie konnte es nicht fassen, dass etwas so lange Erträumtes so fade, unnütz und endlos sein konnte.“

Aurélie versuchte das Beste aus der Situation zu machen und fand einen Studentenjob, um sich von ihrer Familie etwas mehr zu befreien und selbstständiger zu werden. Zuerst verteilte sie Flyer und landete schliesslich als Reinigungskraft in einem Wohnheim. Dabei lernt sie Alejandro, einen kolumbianischen Studenten kennen, der sich in seinem  letzten Studienjahr befindet und seine Wohnungsmiete verdienen musste.

Alejandro war genervt von Kolumbien und musste unbedingt nach Europa gehen, um dort seinen Master zu beenden. Er war 24 Jahre alt und sprach fast perfekt Französisch. Aurélie war 18 Jahre alt, verliebte sich in Alejandro und träumte von einer besonderen Zweisamkeit, die sie beflügelte:

„Ihre Zuneigung brachte sie zum Strahlen: Sie hatte abgenommen, und ihr Teint war reiner; durch ein Wunder hatte sie die Erstsemesterprüfungen bestanden.“

Alejandro war ein echter Lateinamerikaner, ein guter Liebhaber, aber nicht bereit, sich festzulegen und er wollte sein Leben leben, die Welt entdecken und konnte sich somit eine definitiv feste Bindung an eine Frau, wie Aurélie noch nicht vorstellen. Er ging einfach weg aus Grenoble und Aurélies Leben war damit mehr als durcheinander, sie hatte Liebeskummer und ihr Studium war gefährdet. Auch Aurélie wollte weg, von Grenoble, von dem Studium, von ihrer Familie.

Aurélie entschied sich für Paris! Sie wollte endlich in die Stadt, die für sie mehr als nur eine Metropole, sondern der Inbegriff von Freiheit und Erfolg war bzw. sein musste. Doch leider hatte sie den kühlen „Empfang“ von Paris nicht so erwartet und musste sich für die erste Zeit mit einem Sechs-Betten-Schlafsaal einer Jugendherberge arrangieren.

Niemand wusste von ihrem „Ausflug“ nach Paris, denn Aurélie wollte erst mal Fuss fassen, einen Job und natürlich eine Wohnung finden. Sie fand eine Stelle als „flexible“ Empfangsdame und wusste immer erst morgens gegen 6 Uhr zu welcher Firma sie jetzt fahren sollte, um eine fehlende Hostess zu ersetzen. Die Arbeit war einerseits langweilig, andererseits auch anstrengend. Denn auch nur zu warten und immer zu lächeln, kostete so manche Kräfte, die sie im ersten Moment zu unterschätzen wagte.

„Die Stadt macht einen verrückt.“

Das Leben in Paris entwickelte sich vollkommen anders als erwartet, die Träume wurden nicht erfüllt. Weder konnte sie genügend Geld verdienen, um sich eine angemessene Wohnung zu leisten, noch konnte sie ihren Erfolg und ihr Glück finden. Wie würde dieses Leben in Paris für Aurélie nun weitergehen…

„Fehlstart“ ist ein ernstes und äusserst wichtiges Buch – wahnsinnig fesselnd geschrieben – das vollkommen transparent und direkt, die Realität einer jungen Französin schildert, die nicht aus einer bourgeoisen Pariser Familie stammt, sondern aus Grenoble und durch ihre Geburt in einem sozial schwachen Umfeld aufwächst und sich daraus befreien möchte.

Nur diese Befreiung kostet mehr als physische und psychische Kraft, denn sie ist nicht möglich. Es gibt keinen Aufstieg, es gibt Versuche bezüglich eines sozialen Aufstiegs, doch dieser wird ständig von äusseren Umständen verhindert. Und da setzt Marion Messina an und hat mit ihrer ausgezeichneten Beobachtungsgabe ein so klares Sittengemälde gezeichnet, das durch ihre scharfe Ironie und ihren subtilen Zynismus dem Leser ganz besondere Einblicke in die heutige französische Gesellschaft öffnet.

„Fehlstart“ ist nicht umsonst ein mehr als gefeierter Debütroman in Frankreich gewesen und sollte nun – dank der deutschen Übersetzung – für ein anspruchsvolles und frankophiles Leserpublikum zur absoluten Pflichtlektüre werde!

 

Durchgelesen – „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“ v. Alex Lépic

Durch den berühmten Kommissar Maigret sind wir doch alle ein wenig verwöhnt. Wie sehr hat er uns in den Bann gezogen, nicht nur seine Fälle aufgeklärt, sondern uns auch Frankreich und Paris nähergebracht. Doch endlich gibt es einen würdigen Nachfolger für Kommissar Maigret, den wir Alex Lépic zu verdanken haben.

Alex Lépic ist gebürtiger Franzose, in Deutschland aufgewachsen, und ein echter Paris-Kenner, das man unschwer in seinem ersten in Deutsch geschriebenen Roman „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“ erkennen kann.

Commissaire Lacroix – immer mit Hut, Mantel und Pfeife ausgerüstet – muss sich gleich nach seinem Sommerurlaub mit einem schwierigen Fall beschäftigen. Eigentlich arbeitet er im Kommissariat des 5./6. Arrondissement, das sich ganz nah am Boulevard Saint Germain in der Rue de La Montagne-Sainte-Geniève im 5. Arrondissment von Paris befindet. Es ist ein sehr hässliches Gebäude und verfügt auch noch über das Musée de la préfecture de Police, was so manche komische Begegnung mit Schulklassen etc. mit sich bringt. Doch dieses Mal brauchen die Kollegen aus dem 1. Arrondissement dringend Unterstützung, denn ein Toter Clochard liegt unter der berühmten und ältesten Brücke von Paris, dem Pont Neuf. Er wurde auf perfide und perfektionnistische Art und Weise mit dem Messer getötet.

Zwei Mitarbeiter, eine junge Polizistin – stammt aus dem Überseedépartement Mayotte – und ein Polizist – Korse – unterstützen Lacroix bei seinen Aufgaben und Recherchen. Der Fall ist sehr verzwickt und lässt den schönen Urlaub mit seiner Frau Dominique gleich wieder in Vergessenheit geraten. Aber auch seine Frau, Bürgermeisterin des 7. Arrondissements, ist auch wie immer schnell in ihren Arbeitsalltag zurückgekehrt.

Glücklicherweise kann er noch auf die Unterstützung seines Priester-Bruders Pierre-Richard zurückgreifen, der in Paris gerade in der Obdachlosen-Szene so einige wichtige Kontakte hat. Und dann gab es noch Yvonne, die Wirtin seines Stammlokals „Chai de l’Abbaye“, die sich nicht nur um das kulinarische Wohl während der Arbeitszeiten von Commissaire Lacroix kümmerte, sondern auch Gott und Welt in ganz Paris kannte.

Die ersten Spuren bei dem toten Clochard unter dem Pont Neuf führen zu einer potentiellen Bettler-Mafia, die angeblich Gelder von sämtlichen Obdachlosen in dieser Gegend eintrieben. Der Verdacht fällt auf zwei Brüder und bevor diesem Verdacht genau nachgegangen werden konnte, gibt es schon den zweiten Toten, wieder ein Obdachloser. Die Lage spitzt sich zu, es sieht nach einem Serienmord aus und nun ist auch Commissaire Lacroix trotz seiner grossen Erfahrungen unter Druck…

Alex Lépic ist ein Wunder gelungen, denn Commaissaire Lacroix ist mehr als nur ein würdiger „Nachfolger“ von Maigret. Lacroix ist so perfekt in die aktuelle Zeit gesetzt, dass man es nicht besser machen könnte. Der Krimi ist sehr gut aufgebaut, subtil, fein und äusserst spannend erzählt. Alle Personen in diesem Roman haben ihre Eigenarten, es ist von furchteinflössend, skurill, amüsant und verrückt alles vorhanden.

Alex Lépic schreibt wunderbar, endlich mal wieder ein Krimi, der sich so richtig gut liest und der einem das Paris des 21. Jahrhunderts mit all seinen schönen, aber eben auch mit seinen Problemen und Schattenseiten zeigt. Man taucht ein in die sogenannten Pariser Welten und möchte wegen des so sympathischen Personals und wegen der Spannung und Dramatik gar nicht mir auftauchen. Deshalb hoffen wir sehr, dass nach diesem grandiosen ersten Fall, der Zweite bald folgen wird…!

Durchgelesen – „Eine Frau am Telefon“ v. Carole Fives

Frauen und Telefonieren gehört sicher zusammen. Und wenn es sich dann bei dem Telefonieren auch noch um Mütter handelt, die ihre Kinder anrufen, wird alles noch viel interessanter. Und ganz besonders aufregend sind sicherlich die Gespräche zwischen Mutter und Tochter. Wie gerne möchte man da nicht mithören ohne betroffen zu sein. Diese Gelegenheit gibt uns nun die französische Autorin Carole Fives mit ihrem gerade aktuell auf Deutsch erschienen Roman „Eine Frau am Telefon“.

Carole Fives, geboren 1971, ist Schriftstellerin und Künstlerin. Diplomiert mit einem Abschluss in Philosophie und Kunst hat sie 2010 ihre ersten Texte veröffentlicht. Sie wurde mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet und war für ihren Roman „Une femme au téléphone“ – erschienen 2017 bei L’Arbalète/Gallimard – Finalistin für den Grand Prix RTL Lire. Dieses Buch ist nun ihr erstes Werk in deutscher Übersetzung.

Die Hauptfigur in diesem Roman ist Charlène, eine doch eher sehr lebenslustige, aber nicht ganz einfache Frau. Anfang sechzig, schlägt sich Charlène so durch ihr Leben, sie hat zwei Kinder und ist Witwe. Doch so einfach ist das mit dem Alleinsein nicht, was wir als Leser quasi live miterleben können. Sie nervt ihre Tochter mit ständigen Anrufen, doch diese nimmt die Gespräche aus welchen Gründen auch immer nicht an.

Das hält aber Charlène nicht im Geringsten davon ab, Ihre Probleme laut kundzutun. Der Anrufbeantworter der Tochter wird somit zum besten Freund von Charlène. Alle Probleme werden besprochen: es geht teilweise um eher einfachere Themen wie ihr Hund und Fernsehserien, die immer wieder so nebenbei einfliessen. Die grossen Themen wie die überwundene Krebserkrankung, das ewige Alleinseins, die erfolglose Suche nach einem neuen Mann im Internet und eine angebliche bipolare Störung bieten enorme Abwechslung in diesen rasanten Monologen:

„Ich bin normal, das sind wir übrigens alle. Dass wir hier sind, bedeutet nur, dass wir normaler sind als die anderen, die draussen rumlaufen, und die alle verrückt sind.“

Charlène lässt sich nichts gefallen, kämpft sich aus den unmöglichsten und teilweise manchmal fast schon ausweglosen Situationen heraus, ohne jemals an Kraft und Humor zu verlieren. Trotzdem vergeht kein Anruf, bei dem sie sich nicht beschwert, dass ihre Kinder sich nicht um sie kümmern. Dass vor allem auch ihre Tochter nie für sie Zeit hat, obwohl diese ja nicht verheiratet ist und keine Kinder hat. Bei ihrem Sohn ist es ja etwas anderes, verheiratet und Kind. Auch wenn sie bei Ihrem wörtlichen „Auskotzen“ immer nur den Anrufbeantworter vor sich hat, fühlt Charlène sich von ihrer Tochter nicht richtig behandelt:

„Wir wollen hier nicht die Rollen vertauschen. Die Mutter bin immer noch ICH. Du bist nur die Tochter. Ich erlebe es immer wieder, dass Kinder mit Ihren Eltern reden, als wären diese erst vier, man könnte meinen, sie wollten sich rächen.“

Letztendlich tröstet sich Charlène mit Zigaretten und Whiskey, stärkt sich hin und wieder mit Antidepressiva, bevor sie sich vielleicht doch manchmal eine gewisse Übertreibung und Schuldgefühle eingestehen muss.

„Eine Frau am Telefon“ ist ein wunderbares Buch, trotz ernster Themen ist es sehr amüsant. Man schüttelt den Kopf, lacht laut, wundert sich und freut sich auf jeden neuen Anruf bzw. auf jede neue Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Es zeigt eine Frau, die so verrückt und gleichzeitig vielleicht auch wieder so normal ist. Das Schweigen der Tochter und diese grandiosen Monologe, zaubern aus diesem kleinen Roman ein Feuerwerk an Dynamik, Vehemenz und Ehrlichkeit, das man unbedingt erleben bzw. erlesen muss!

Durchgeblättert – „Meine schöne Buchhandlung“

Lesen Sie noch „echte“ Bücher? Dann besuchen Sie auch Buchhandlungen, vielleicht so gar unabhängige, inhabergeführte Buchhandlungen, die mehr sind als nur eine reine Verkaufsstelle für Bücher. Und trotzdem werden Sie nun fragen, braucht es denn heute in der digitalen Welt wirklich noch einen örtlichen Buchhändler? Die Antwort lautet knapp und ganz einfach: Ja!

Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass dieser wunderschöne und informative Bild- und Textband „Meine schöne Buchhandlung“ gerade aktuell erschienen ist.

Für dieses gelungene Ergebnis sind zwei Verlagsfrauen (Lektorat bei Knesebeck), Elizabeth Bandulet und Maria Platte verantwortlich und natürlich Andreas Licht – einer der besten Fotografen – der uns bereits durch die mehr als gelungene Kooperation mit Rainer Moritz mit dem Bildband „Dicht am Paradies – Spaziergänge durch Pariser Parks und Gärten“ von seiner Fotokunst überzeugen konnte. Somit ist es keine Überraschung, dass dieses wundervolle Buch bereits durch die Bilder, welche die Räumlichkeiten der einzelnen Buchhandlungen und die leitenden und mitarbeitenden Buchhändler porträtiert, eine durch grosse Neugierde fördernde Anziehungskraft ausübt. Doch die feinen und informativen Texte von Elizabeth Bandulet und Maria Platte machen daraus ein kleines Gesamtkunstwerk. Es werden hier nämlich keine klassischen Kurzbeschreibungen präsentiert. Sämtliche hier vorgestellten Buchhändler kommen zu Wort, es geht um das echte Leben und Arbeiten in der jeweiligen Buchhandlung, die Sortimentsidee, die Veranstaltungen, den direkten Austausch mit den Kunden und vieles mehr.

Der Leser kann hier 35 Buchhandlungen entdecken, alle unabhängig und inhabergeführt, in ganz Deutschland verteilt, mit einem kleinen Blick auch nach Österreich und in die Schweiz. Die Buchhandlungen haben unterschiedlichste Grössen von 45m2 bis 7000m2, sind allgemeinsortiert oder spezialisiert und haben aber sehr vieles gemeinsam: sie werden von und mit hoch motivierten, engagierten und kreativen Menschen geführt, geleitet und organisiert. Es sind gelernte Buchhändler, Germanisten, Philosophen, aber auch Quereinsteiger. Ein geballtes Wissen verknüpft mit unendlichem Enthusiasmus, der jedem Leser und potentiellem Kunden der Buchhandlung zur Verfügung steht. Aber letztendlich geht es um wesentlich mehr als nur um Wissensvermittlung und Service, es geht um einen besonderen Treffpunkt, ein Ankommen in der Welt der Bücher, um eine besondere Wohlfühl-Atmosphäre, um starke Inspiration, um Anti-Alogrithmus, natürlich um echte Beratung von Angesicht zu Angesicht, es geht aber auch um Tradition und Innovation, um Sinnerlebnisse und Lebendigkeit. Und es geht nicht um die Zukunft der Buchhandlung, die ist durch diese tollen Buchmenschen zu hundert Prozent gesichert, sondern um die Zukunft des Buchlesers.

Dies alles wird hier auf sage und schreibe nur 160 Seiten stilvoll und informativ gezeigt, so dass man bereits bei der Lektüre dieses schönen Bildbandes sich in der jeweiligen Buchhandlung verweilend sieht. Der Leser ganz sicher und vielleicht sogar der Nicht-Leser, sie beide bekommen eine unglaubliche Lust, all diese wunderbaren Orte so schnell als möglich aufzusuchen, die dahinterstehenden Menschen kennenzulernen und miteinander über Bücher und Literatur zu sprechen. Denn genau dieser persönliche Kontakt und der individuelle Austausch verleihen all diesen schönen und aussergewöhnlichen Buchhandlungen dadurch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal, das letztlich das einzige, beste und wichtigste Service-Argument im Buchhandel ist und bleiben wird.

Also, worauf warten Sie! Laufen Sie los und stürmen Sie Ihre ganz persönliche unabhängige Buchhandlung, denn Ihr Buchhändler wartet auf Sie, schenkt Ihnen sein Vertrauen und wird Sie mit Freude, Engagement, mit einem besonderen Buchsortiment und individuellster Beratung empfangen. Und sollten Sie dabei noch dieses wundervolle Buch „Meine schöne Buchhandlung“ entdecken, sind nicht nur Ihr Buchhändler, sondern auch Sie glücklich!

 

Durchgelesen – „Das Päckchen“ v. Franz Hohler

Kann ein kleines Päckchen ein eher beschaulich friedvolles Leben durcheinanderbringen? Natürlich! Und wie es das kann, zeigt uns mit seiner wundervollen Erzählkunst Franz Hohler mit dem gerade aktuell erschienen neuen Roman „Das Päckchen“.

Franz Hohler, geboren 1943 in Biel, ist nicht nur Liedermacher und Kabarettist, sondern auch Schriftsteller. Bereits während seines Germanistik- und Romanistik-Studiums hat er sein erstes Kabarettprogramm aufgeführt. Er hat mit Grössen aus der Kabarett-Szene wie zum Beispiel Hanns Dieter Hüsch und Emil Steinberger zusammengearbeitet. Sein umfangreiches Gesamtwerk bietet neben vielen Kabarettprogrammen, Theaterstücken, Film- und Fernseh-Produktionen, auch Kinderbücher und natürlich Kurzgeschichten und Romane. Franz Hohler wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem mit dem Kassler Literaturpreis 2002, dem Kunstpreis der Stadt Zürich 2005, dem Solothurn Literaturpreis 2013 und dem Johann-Peter-Hebel-Preis 2014. Er ist Mitglied beim International PEN und lebt in Zürich. Zu seinen wichtigsten Prosawerken zählen beispielsweise „Tschipo“ (Kinderroman) 1978, „Der neue Berg“ (Roman) 1989, „Es klopft“ (Roman) 2007 und „Gleis 4“ (Roman) 2013“. In diesem Leseherbst beschenkt uns Franz Hohler mit seinem neuen Roman „Das Päckchen“.

Die Geschichte spielt in verschiedenen Städten und Orten, wie Zürich, Bern, St. Gallen, in den Schweizer Bergen, aber auch in der Nähe von Regensburg nämlich im Kloster Weltenburg und in kleinen Orten Italiens. Das Besondere an diesem Werk sind die unterschiedlichen Zeitebenen, zwischen dem „Jetzt“ im 21. Jahrhundert und dem „Früher“ im 8. Jahrhundert, in die uns der Autor entführt.

Die Erzählung beginnt in Bern, in der Nähe des Hauptbahnhofs, wo sich Ernst Stricker befindet und gerade dabei war, seine Frau anzurufen. Just in diesem Moment klingelt ein anderer öffentlicher Telefonapparat und Ernst nimmt das Gespräch entgegen.

„Und auf einmal war er unterwegs zu seiner alten Frau namens „Ich“, die Hilfe brauchte, seine Hilfe.“

Normalerweise war Ernst kein Mann der spontanen Tat. Er war 48 Jahre alt, arbeitete als Bibliothekar in der Zentralbibliothek Zürich. Mit seiner Frau Jacqueline ebenfalls Bibliothekarin in der Kantonsbibliothek St. Gallen, wohnte er in Winterthur. Er führte ein zufriedenes, aber letztendlich doch sehr unaufgeregtes und geordnetes Leben. Es war eine Überraschung, dass Ernst zielstrebig, diese alte Dame – unbekannterweise – in Bern aufsuchte. Die Dame wirkte etwas verwirrt, nannte ihn Ernst, verwechselte ihn mit ihrem Neffen und gab Ernst Stricker ein Päckchen zur Aufbewahrung, da sie Sorge hatte, es käme sonst in falsche Hände.

Er nahm das Päckchen mit nach Hause, versteckte es erst einmal, damit auch seine Frau nichts mit bekam. Doch lange konnte er seine Neugierde nicht unterdrücken und packte ganz vorsichtig, dieses kleine Päckchen aus.

„Zum Vorschein kam tatsächlich ein Buch, ein Buch, bei dessen Anblick Ernst eine Gänsehaut bekam.“

Das war auch kein Wunder, denn bei diesem besonderen Buch handelte es sich um das „Abrogans“, ein lateinisch-althochdeutsches Synonymwörterbuch, von dem man behauptet, dass es das älteste Buch der deutschen Sprache sei. Das meinte auch Ernst Stricker, dem diese Kostbarkeit sofort ein Begriff war und die – in seiner Erinnerung – neben zwei anderen sogenannten Abschriften zu den Schätzen der Stiftsbibliothek St. Gallen gehören musste. Das Original galt als verschollen. Vielleicht hielt er nun genau dieses Exemplar in seinen Händen? Ernst Stricker war berührt, betroffen und verwirrt zu gleich, er wusste im ersten Moment nicht, was zu tun war. Doch er forscht nach und taucht in die Welt des 8. Jahrhunderts ein, „trifft“ den neunzehnjährigen Novizen „Haimo“, der im Kloster Weltenburg – in der Nähe von Regensburg – mit der Abschrift dieses Wörterbuchs beauftragt wurde…

Und so beginnt eine wundervolle, spannende Geschichte, die mit Ernst Stricker einen perfekten „Detektiv“ gefunden hat. Franz Hohler lässt seine Haupt- und Nebenfiguren mit unglaublicher Vorsicht, aber auch mit grosser Intelligenz handeln und wirken. Trotz der grossen Zeitspannen wird man als Leser so persönlich vertraut durch die Handlung geführt, so dass man sich nie verloren, sondern ganz im Gegenteil fast schon als Teil oder „Assistent“ dieses Privatermittlers im Sinne der Buchkunst fühlt. Ja, man leidet mit, hofft endlich auf neue Erkenntnisse, freut sich über die nächsten Erfolgsschritte und überlegt, ob dieses besondere Buch, jemals da ankommen wird, wo es eigentlich hingehört.

Franz Hohler beweist wieder einmal zartes Feingefühl hinsichtlich eines schönen Themas, das ganz unerwartet, aber sicher nicht unabsichtlich Interesse auf mehr Details entfacht. Franz Hohler schreibt einfach brillant. Die Klarheit und Einfachheit in seinem unverwechselbaren Stil erwecken eine so elegant und kluge Leidenschaft, die den Leser mehr als beglückt.

Das „Päckchen“ ist ein literarisches Bijou und zählt sicherlich zu den wichtigsten und schönsten Entdeckungen in diesem Literaturherbst.

 

Durchgelesen – „Unsere Frau in Pjöngjang“ v. Jean Echenoz

Was wäre die Literatur ohne Humor, Witz und Ironie? Natürlich sollte dies alles raffiniert und kreativ literarisch umgesetzt werden. Somit überrascht es nicht, dass dies Jean Echenoz mit seinem aktuell in Deutschland erschienen Roman „Unsere Frau in Pjöngjang“ sehr gut gelungen ist.

Jean Echenoz, geboren 1947, gehört zu den wichtigsten französischen Schriftstellern. Er hat in verschiedenen französischen Städten, unter anderen Lyon, Marseille und Paris, Soziologie studiert und kurz für eine Fachzeitschrift gearbeitet. Seit 1975 lebt er in Paris und 1979 publizierte er seinen ersten Roman „Le Méridien de Greenwich“ bei dem Verlag Éditions de Minuit, dem er bis heute treu geblieben ist und der inzwischen alle seine Bücher veröffentlicht hat. Jean Echenoz wurde mit einer Fülle von Literaturpreisen geehrt. Zu den wichtigsten gehören der „Prix Medicis“ für den Roman „Cherokee“ (1983) und der „Prix Goncourt“ für das Werk „ Je m’en vais“ (1999). In Deutschland wurde er zuletzt sehr bekannt durch sein kleines feines Buch „14“. Sein aktueller Roman –  bei seinem französischen Verleger – unter dem Titel „Envoyée spéciale“ publiziert – ist nun dank der meisterhaften Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel (2004 Celan-Preis, 2015 Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis) in deutscher Sprache erschienen.

„Ich will eine Frau, verkündete der General. Eine Frau brauche ich, so.“ Und ja, genau so beginnt der neue Roman von Jean Echenoz. Der Roman spielt in Paris, in La Creuse – einer eher ländlichen Gegend zwischen Limoges und Clermond-Ferrand – und in Nordkorea, genauer in Pjöngjang. Es gibt einen Erzähler, der dem Leser, diese ungewöhnliche Geschichte näher bringt, aufklärt und als eine Art Mediator fungiert, was sich als sehr praktisch erweist, da er den Leser auf die Feinheiten hinweist, jedoch das Unwichtige galant ignoriert und mit eigenen Kommentaren nicht spart.

Kurzum wir haben mehrere Hauptprotagonisten und dazu gehören in erster Linie Constance, eine junge Frau, die gerade in Trennung von ihrem Mann Lou Tausk lebt, Komponist von vielen sehr berühmten Songs, General Bourgeaud und dessen Leutnant Paul Objat. Es gibt noch einige andere Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Jean-Pierre und Christian, Clément Pognel, Nadine Alcover und Gang Un-ok.

Die Geschichte beginnt mit der Suche nach einer Frau, wie bereits der erste Satz schon verrät, die in ein ganz bestimmtes Schema passen muss: „ Na ja, eine Ahnungslose, nicht wahr, so brachte der General es auf den Punkt. Die nichts begreift, die tut, was man ihr sagt, und keine Fragen stellt. Und möglichst eine Hübsche.“ Und Leutnant Objat, nimmt sich dieser Herausforderung an, hat schon eine grandiose Idee und entführt auf doch eher ungewöhnliche Weise Constance, die gerade dabei ist auf dem Friedhof von Passy einen kleinen Spaziergang zu unternehmen.

Die Entführung klappt, die junge Frau wird in ein ländliches Gebiet im Departement La Creuse gebracht und man versucht, sie so gut wie möglich zu behandeln. Letztendlich ist sie ja die sogenannte Auserwählte für eine geheimdienstliche Aktion in Nordkorea, und das bedarf natürlich unglaublich genauer Vorbereitungen im Hinblick auf diese nicht einfache Mission. Doch nicht alles scheint so zu funktionieren, wie der Leutnant sich das vorstellt und die ersten Hindernisse, Komplikationen, natürlich auch Verzögerungen treten auf…

Dieser Roman ist ein Feuerwerk an Ironie, Spass und Esprit. Dieses Werk hat auch viel von einer Parodie, die subtil viele Fragen zulässt, die jedoch nicht alle während der Lektüre beantwortet werden und damit dem Roman nochmal einen ganz besonderen Kick verleiht. Jean Echenoz zaubert mit der Sprache, verleiht ihr den diskreten ironisch rebellischen Charme, gibt ihr einen musikalisch-rhythmischen Takt vor, der den Leser zu einer Dynamik anstachelt, die sich einfach richtig gut anfühlt.

„Unsere Frau in Pjöngjang“ ist ein sehr komisches und spannendes Buch zu gleich. Eine Art Spionage-Roman, quasi eine „Mission Impossible“ der besonderen Art. Jean Echenoz gibt seinen – trotz des brisanten Auftrags – eher etwas trägen Figuren viel Raum, die sich vielleicht im sogenannten Weltbürgertum bewegen können, dürfen oder müssen. Er konfrontiert den Leser vollkommen spielerisch informativ mit psychologischen Phänomenen wie dem Stockholm-Syndrom und bereichert gleichzeitig diese Geschichte in stilistisch gekonnter Weise mit absurden Episoden, die nicht komischer sein könnten. Kein Wunder, dass dieses Buch purer Lesegenuss ist!

 

Durchgelesen – „Deutschland à la française“ v. Pascale Hugues

Wie französisch ist Deutschland? Eine interessante Frage, die man sich, sei es als frankophiler Deutscher, oder deutschliebender Franzose vielleicht stellen sollte.

Pascale Hugues, geboren in Straβburg, arbeitet seit 1989 als Korrespondentin in Deutschland zuerst für die französische Zeitung „Libération“ und aktuell für das französische Magazin „Le Point“. Gleichzeitig schreibt sie die sehr bekannte Kolumne „Mon Berlin“ im Tagesspiegel, für die sie mit dem Deutsch-Französischen Journalistenpreis ausgezeichnet wurde. Pascale Hugues hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, „Marthe & Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland“ (2008) und „Ruhige Strasse in guter Wohnlage“ (2013) – prämiert mit dem „Prix Simone Veil“ und dem Europäischen Buchpreis. In ihrem neuen Buch „Deutschland à la française“ (wunderbar übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke) geht Pascale Hugues dieser potentiellen Frage nicht nur nach, sondern sie schildert uns voller Charme ihre eigenen Beobachtungen.

Pascale Hugues lebt als Französin zwar schon seit vielen Jahren in Berlin, fühlt sich manchmal immer noch ein wenig fremd und ist des Öfteren verwundert über so manche deutsche Eigenheit im Alltag, in der Sprache und in der Mentalität.

Bereits ganz aktuell im Hinblick auf die Amtseinführung von Emmanuel Macron sieht man die ersten grossen Unterschiede zwischen den beiden Ländern Deutschland und Frankreich. Vergleicht man dazu die Abgabe des Amtseides von Angela Merkel vor dem Bundestag, wird die deutsche Schlichtheit mehr als deutlich. „Ein feierliches Ritual, aber ohne Pathos“ laut Pascale Hugues, im Gegensatz zur „Machtübergabe in Paris mit ihrem monarchistischen Pomp: Man könnte glauben, Frankreich würde den Präsidenten zum König weihen.“ Und so kann man diesen königlichen Stil auch im „Élysée Palast“, dem Amtssitz des französischen Präsidenten, beim einmal im Jahr stattfinden Tag der offenen Tür im Detail erleben. Man denke nur an die goldenen Wasserhähne, prunkvollen Lüster und edlen Möbel, Teppiche und Kamine, wie es sich für ein Schloss eben gehört. Da fühlt sich das Kanzleramt sehr schlicht, aber vielleicht doch funktionaler an. „Eher Bauhaus als Rokoko“, schreibt P. Hugues.

Aber nicht nur im Machtzentrum der einzelnen Länder gibt es Unterschiede, auch im Alltag lässt sich so einiges an Verschiedenheiten feststellen. Da wäre zum Beispiel die „Mülltrennung“. Ein wunderbares klischeebehaftetes Thema, das sich für viele Ausländer perfekt eignet, sich über Deutschland lustig zu machen. Natürlich ist es beispielsweise für Franzosen bereits ein gewisser „Fort-Schritt“, in Frankreich zwischen Restmüll (schwarze Tonne) und Papier/Plastik (gelbe Tonne) zu trennen. Doch letztendlich wird nicht wirklich kontrolliert, weder von Nachbarn noch einer übergeordneten Stelle.

Pascale Hugues hat in Deutschland ihre ersten traumatischen Erfahrungen mit der Mülltrennung gemacht. Sie war gerade ganz neu nach Bonn gezogen und „eines Morgens trommelte es an meine Tür. … Ich öffnete die Tür. Sie hielt die graue Mülltüte in der Hand, die ich gerade in den Müllkeller gebracht hatte. Ich verstand nicht. Sie kippte den gesamten Inhalt der Tüte auf meinen Küchenboden aus.“ Das war der Grund, dass P. Hugues die Richtlinien des Umweltbundesamtes nicht nur studierte, sondern quasi auswendig lernen wollte bzw. musste. Aber letztendlich beobachtet sie auch hin und wieder Deutsche, die sich nicht immer an all diese Richtlinien halten. Ein kleiner Grund für P. Hugues, sich in gewissen regelmässigen Abständen einen kleinen Verstoss zu erlauben.

Neben vielen Alltagssituationen und gesellschaftlichen Unterschieden, liegen natürlich auch die Besonderheiten in der Sprache und in ihren Bedeutungen. Viele deutsche Wörter haben eine unglaubliche Kraft und Klarheit – denke man beispielsweise an das deutsche Wort „Donnerwetter“ -, die Franzosen wie Pascal Hugues begeistern und beeindrucken. Es gibt auch viele verdeutschte französische Wörter, die jedoch so manchen Franzosen fast schon zur Verzweiflung bringen. Nehmen wir das Wort „Niveau“. Im Französischen ist „Niveau“ ein Ergebnis-Mess-Intrument in der Schule. Doch im Deutschen gibt es Niveau fast überall. Bereits im Kaufhaus gibt es das 1. oder 2. Niveau, was wesentlich schicker klingt, als Etage. Interessant ist auch die Verwendung des deutschen „Niveaus“ hinsichtlich einer gesellschaftlichen Ebene bei der Suche eines geeigneten Lebenspartners, wie P. Hugues treffend auf den Punkt bringt: „Aber nirgends ist „mit Niveau“ schöner als auf der Website von ElitePartner: Partnersuche für Akademiker mit Niveau.“

Pascale Hugues durchforstet die deutschen, aber natürlich auch die französischen Eigenarten. Sie vergleicht und entdeckt interessante Unterschiede, aber auch kleine Anpassungsmerkmale von beiden Seiten, die das Leben vereinfachen, verbessern, und/oder bereichern können. Sie lässt kein aktuelles Thema aus, wie beispielsweise Streik und Korruption. Ihr messerscharfer Blick für die Feinheiten aus diesen Nachbar-Welten zeigt den Leser einen wunderbaren Querschnitt des Lebens auf beiden Seiten des Rheins. Durch ihren unglaublich subtilen, aber auch unheimlich direkten klugen Witz taucht der Leser in die doch manchmal schwere deutsche Seele aus Sicht einer Französin mit schwungvoller Leichtigkeit ein und spürt im gleichen Lese-Atemzug den koketten französischen Esprit.

„Deutschland à la française“ ist ein sehr kompetentes, amüsantes und aber vor allem  wichtiges Buch in den aktuell nicht einfachen Zeiten einer neu zu belebenden und vertiefenden deutsch-französischen Freundschaft!

Durchgeblättert – „Das Problem mit den Frauen“ v. Jacky Fleming

Frauen sind ein Problem und machen Probleme, nicht nur in den unterschiedlichen zwischenmenschlichen Beziehungen. Bereits in der Geschichtsschreibung liegt das Problem mit den Frauen, somit ist es nicht verwunderlich, sondern höchste Zeit, dieses zeitlose Problem zu nennen.

Jacky Fleming nimmt sich diesem « Problem » an und weiss wovon sie spricht und zeichnet. Geboren 1955 in London hat sie sich bereits während ihres Kunststudiums an der Leed University mit dem Feminismus beschäftigt. Seit 1978 erscheinen ihre Comicstrips , die sie unter anderem für verschiedene Zeitungen wie The Guardian und The Observer kreiert. Ganz aktuell ist nun ihr neuestes Comic-Werk « Das Problem mit den Frauen » in Deutschland erschienen.

Frauen hatten es schwer in der Geschichte, es gibt nur wenige grossen Namen, wenn man beispielsweise an Marie Curie denkt. Doch bis diese Frau aus ihrem weiblichen Schatten treten konnte, blieben viele Frauen auf der Strecke. Sie waren in der Minderzahl, « aber sie hatten sehr kleine Köpfe, weswegen sie zu nichts nütze waren, ausser zu Handarbeit und Krocket ». Und so nimmt das weibliche Drama seinen Lauf. Es gab « keine schwarzen Frauen », es gab « Frühfrauen » wie Queen Victoria und « gefallene Mädchen ». Und nicht unschuldig daran waren natürlich die genialen Männer, von denen es mehr als genug gab. Bereits Jean-Jacques Rousseau fand es richtig, dass « Mädchen zeitig lernen müssten, sich zu fügen… ».

Die Probleme mit den Frauen weiteten sich aus, bedenke man schon allein die Kleidung, die sie trugen bzw. tragen mussten. Wie sollte man da Fahrrad fahren können, geschweige denn andere sportliche Leistungen erbringen, von geistigen Aufgaben wie Denken und Schreiben ganz zu schweigen. Bei den Frauen war alles klein, nicht nur das Gehirn, sondern auch die Ergebnisse daraus. So entstand bei Frauen nur kleine Kunst. Es fehlte den Frauen an Geniehaaren und intellektuellen Bärten. Doch besonders markant war letztendlich laut dem Assistenten von Darwin : «  Frauen besitzen nur wenig von jener beharrlichen Zielstrebigkeit und Durchsetzungskraft, die für den mannhaften Geist charakteristisch sind. »

Dazu bleibt nur noch hinzuzufügen, dass glücklicherweise auch wenn es manchmal nicht so scheint, die Entwicklung der Frauen stetig voranschreitet und das Problem mit den Frauen ein Problem der Männer ist und bleiben wird.

Das Buch zeigt in schwarz-weiss die Vergangenheit ohne dabei die Gegenwart indirekt nicht zu vergessen. Denn irgendwo fragt man sich, wie konnten sich Frauen dies alles zur damaligen Zeit so gefallen lassen. Aber letztendlich könnten sich heute Frauen diese Frage immer noch bzw. wieder stellen. Im 21. Jahrhundert tragen Frauen zwar kein Kleiderkorsett mehr, aber so manch anderes gesellschaftliche Korsett lässt sich nicht leugnen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Frauen wie Jacky Fleming mit Ihrem Können und Ihrer Hartnäckigkeit, dazu beitragen, die Unsichtbarkeit der Frau in der Geschichte sichtbar zu machen.

Jacky Fleming hat mit grandioser Zeichenfeder im viktorianischen Stil einen so bösartigen, originellen, amüsanten und bissigen Comic geschaffen, der wirklich für alle Frauen und Männer jeglicher Couleur und Gesinnung zu Pflichtlektüre werden sollte. Das bekräftigte auch die Zeitung « The Independent », die dieses Buch unbedingt auf dem Schullehrplan sehen möchte. Das kann man nur bestätigen !

Durchgelesen – „Der Eiffelturm“ v. Roland Barthes

Warum sollte man ausgerechnet ein Essay über den Eiffelturm lesen ? Genügt es denn nicht, sich an den Bildern von dieser Sehenswürdigkeit zu erfreuen oder den Turm direkt in Paris selbst zu entdecken ?

Der Eiffelturm – das Wahrzeichen der Stadt – international bekannt, beliebt und gerne besucht – steht im vornehmen 7. Arrondissement in Paris. Gebaut anlässlich der Weltausstellung in Paris 1889, ist der Turm 324 m hoch. Es gibt insgesamt drei Etagen, wobei die ersten zwei Etagen neben Aussichtsplattformen – bei der im Winter sogar eine kleine Eisfläche zum Schlittschuhlaufen vorgesehen ist – , Restaurants und Geschäfte anbieten. Der Eiffelturm gehört seit 1991 auch zum Weltkulturerbe mit anderen historischen Bauwerken in Paris und hat im Jahr 2015 mehr als 7 Millionen Besucher empfangen. Seit der Eröffnung 1889 konnten bereits mehr als 250 Millionen Touristen dieses architektonische Wunderwerk besuchen. Und nicht nur für diese vielen Touristen auch für Roland Barthes ist der Eiffelturm ein unübersehbares Objekt !

Roland Barthes, geboren 1915 in Cherbourg und gestorben 1980 in Paris, zählte zu den wichtigsten Philosophen und Literaturkritikern Frankreichs im 20. Jahrhundert. Er war Direktor der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) und Professor am Collège de France. Er machte am berühmten Gymnasium « Lycée Louis le Grand » sein Abitur und schrieb sich im Anschluss daran an der Sorbonne für das Studium der klassischen Literatur ein. Trotz seines Lungenleidens arbeitete er nach seinem Studienabschluss als Lehrer an verschiedenen Gymnasien in Paris, musste jedoch immer wieder durch Aufenthalte in Sanatorien unterbrechen. Aufgrund schwieriger finanzieller Verhältnisse lebte er bis zum Tode seiner Mutter (1977) mit ihr zusammen in einer Wohnung. 1977 erschien dann sein erstes äusserst kommerziell erfolgreiches Werk « Fragments d’un discours » (« Fragmente einer Sprache der Liebe » 1984), obwohl er durch sein in Frankreich bereits 1957 veröffentlichtes Buch « Mythologie » (« Mythen des Alltags » 1964) den Grundstock für sein Schwerpunktthema die kritische Semiotik gelegt hatte. Ja und auch der Eiffelturm ist für Roland Barthes eine Art Mythos des Alltags.

Der Eiffelturm war zur damaligen Zeit, gleich nach Fertigstellung, alles andere als ein beliebtes Baudenkmal. Der Turm wurde teilweise gehasst, er sollte am Besten nach der Weltausstellung wieder abgerissen werden. Viele Künstler und Autoren konnten sich keineswegs mit diesem Turm anfreunden und versuchten alles Mögliche, um ihn nicht sehen zu müssen. Roland Barthes beginnt sein Essay mit einer kleinen charmanten Anekdote über Maupassant :

« Maupassant ass häufig im Restaurant des Eiffelturms zu Mittag, obwohl er den Turm nicht mochte : « Es ist die einzige Stelle in Paris, von wo aus ich ihn nicht sehe » pflegte er zu sagen. In der Tat muss man sich in Paris grosse Mühe geben, den Eiffelturm nicht zu sehen. »

Der Eiffelturm war und ist präsent und gehört im Pariser Alltagsleben einfach dazu, ob man will oder nicht. Und somit versucht Roland Barthes den Sinn dieses Turms in genau diesem Alltagsleben in seinem Essay in ganz unterschiedlichen Ansätzen zu ergründen, wie zum Beispiel: « Der Turm ist freundschaftlich. »

Er hat aber auch verschiedene Aufgaben, sowohl im wirtschaftlichen als auch im technischen Bereichen und ist gleichzeitig jedoch vollkommen unnütz. Doch noch viel interessanter ist der Blickwinkel von Seiten des Turms. Der Besucher blickt vom Turm aus in die Natur, in die Stadt. Doch auch « der Eiffelturm betrachtet Paris », wie Barthes kurz und klar zusammenfasst.

Aber es geht um mehr als nur um Blicke auf und von dem Eiffelturm, es ist nicht nur das grandiose « Panorama », was hier zählt, es ist der Bedeutungsunterschied zwischen Objekt und Symbol. Und genau durch diesen Unterschied kann wiederum eine ganz neue Funktion entstehen, nämlich die einer « Vermittlungsfunktion, die eines historischen Objekts ».

Der Eiffelturm ist das Symbol von Paris, er ist aber zu allererst auch ein Technik-Objekt, ein Zeichen von kühnster Modernität, ein architektonisches Kunstwerk und er besitzt trotz allem eine im gewissen Sinne « menschliche Silhouette ». Denn für die Franzosen ist der Eiffelturm eine Dame (une tour), er bzw. sie ist die Dame aus Eisen (la dame de fer):

« Der Turm ist eine über Paris wachende Frau, die die Stadt zu ihren Füssen versammelt hält, sitzend und stehend zugleich kontrolliert und schützt, überwacht und behütet sie sie. »

Roland Barthes hat mit diesem Essay einen wahren Klassiker geschaffen, der nun endlich nach über 50 Jahren auch in Deutschland dank der wunderbaren Übersetzung von Helmut Scheffel veröffentlicht werden konnte. Dieses kleine feine Buch – im Anhang mit Abbildungen zur Entstehung – ist mehr als nur ein Essay. Es ist der Versuch als Strukturalist diesen Turm in den unterschied-lichsten Facetten zu « erforschen » und gleichzeitig damit eine noch grössere Bedeutung diesem Turm anzuerkennen aufgrund der äusserst überraschenden und  bedeutsamen « Forschungs-ergebnisse ».

Letztendlich zählt nicht das Objekt allein, sondern der Mensch, was er aus dem Objekt, in diesem Fall dem Turm macht :

Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt. »

Mehr lässt sich dazu fast nicht mehr sagen bzw. schreiben, ausser dass wir dem Leser diesen ausgesprochen eindrucksvoll zeitlosen und stilistisch eleganten Essay sehr zur Lektüre empfehlen, besonders vor der Besichtigung bzw. Besteigung dieses Turms !

Durchgelesen – „Riviera Express“ v. Gaëlle Josse

Wie elegant hat uns bereits Marcel Proust mit seinem Zitat « Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit anderen Augen zu sehen » auf die eigentliche Bedeutung einer Reise aufmerksam gemacht. Doch nicht weniger charmant und poetisch dürfen wir mit dem gerade aktuell erschienenen Roman « Riviera Express » von Gaëlle Josse eine ganz besondere Reise antreten, die nicht nur für die Hauptfiguren dieses Werks, sondern auch für uns Leser schöne, unerwartete und spannungsreiche Überraschungen bereit hält.

Gaëlle Josse, geboren 1960, hat Jura, Journalismus und klinische Psychologie studiert. Sie schreibt ab 2005 ihre ersten Gedichte. 2011 erscheint ihr erster Roman « Les Heures silencieuses »  und 2015 wird sie für ihren Roman « Le Dernier Gardien d’Ellis Island » mit verschiedenen Preisen, wie den Prix de Littérature de L’Union Européenne, ausgezeichnet. Nun endlich können wir auch auf Deutsch – dank der wunderbaren Übersetzung von Mayela Gerhardt – den in Frankreich 2013 veröffentlichten Roman « Noces de neige » unter dem deutschen Titel « Riviera Express » entdecken.

Der Roman ist komponiert wie eine Art « Spiegel-Roman », der in zwei verschiedenen Jahrhunderten und in einem besonderen Zug, der jedoch auf der gleichen Strecke zwischen St. Petersburg und Nizza verkehrt, spielt. Eine russisch-französische Geschichte mit zwei Frauen als Schlüsselpersonen, die sich in vielen Bereichen unterscheiden und trotzdem in wenigen Dingen gleichen. Sie sind beide auf der Suche nach dem Glück, verbunden mit der grossen Liebe. Die Unterschiede mögen im ersten Moment sehr markant erscheinen, wenn man bedenkt, dass Anna – Tochter einer reichen russischen aristokratischen Familie – in Nizza im März 1881 in den Zug steigt und die Heimreise nach St. Petersburg mit ihrer Familie antritt. Ja und Irina, eine eher mittellose Frau ohne Familie, im März 2012 die Reise in St. Petersburg in Richtung Nizza beginnt.

Die Reise in diesem besonderen Zug dauert mehr als 2 Tage, ist je nach Vermögen und Klasse entweder eine Luxusreise oder nur eine « normale » Reise von A nach B, so in dem Fall für Irina. Doch Irina hat dieses Fortbewegungsmittel für sich gewählt, weil sie Flugangst hat und nun endlich nach über sechs Monaten äusserst regen Email-Austausch ihren zukünftigen Mann persönlich kennenlernen möchte, der in Nizza lebt und laut Internet-Kontakt-Börse ein in London arbeitender erfolgreicher Banker sein soll. Irina hat nur ein Ziel, sie möchte endlich ein besseres Leben führen und geliebt werden.

Bei Anna sind die Voraussetzungen für die Reise etwas anders, denn sie kann in der Luxusklasse diesen vielen Kilometer nach St. Petersburg wesentlich entspannter entgegensehen. Sie träumt nicht von einem besseren Leben im Allgemeinen, da sie ja nicht ums Überleben kämpfen muss, nein sie träumt von einem Leben, das mit Pferden zu tun hat, denn nur auf dem Rücken der Pferde hat sie das Gefühl zu existieren. Und auch sie möchte geliebt werden, von einem Mann, in den sie sich bereits verliebt hat und den sie so bald als möglich nach Ankunft in St. Petersburg zu heiraten erhofft.

Zwei Frauen auf dem Weg zu ihrer potentiellen Hochzeit, auf dem Weg in ein unbeschreibliches Glück, obwohl sie sich beide gar nicht schön finden, vielleicht ein wenig begabt, jede auf ihre Weise. Doch eine lange Reise in einem Zug, der keine Fluchtmöglichkeiten bietet, der eine Art « rollender silberner oder goldener Käfig » darstellt, kann so manche unvorhergesehene emotionale « Reise-Ziel-Änderung » auslösen, die nicht nur für befreiende und beglückend erkenntnisreiche sondern auch für absolut unerwartet dramatische Entwicklungen sorgt…

Gaëlle Josse gelingt es kunstvoll und feinfühlig auf gerade mal 140 Seiten nicht nur zwei Jahrhunderte, sondern auch Russland und Frankreich trotz der mehreren tausend Kilometer langen Entfernung zu verknüpfen und sie gleichzeitig auch gegenüber zu stellen. Das Thema « Leben » wird übertragbar und somit auch zeitlos. Es geht um die gleichen Fragen der Identität, der Entscheidung und der Wahrheit, die letztendlich auch noch viele eher im ersten Moment unwichtig erscheinen Punkte, wie die Schönheit betrifft. Die äussere Schönheit an die wir denken ist oft von grosser Bedeutung. Doch eine Schönheit, die durch ein eben geformtes Gesicht, prachtvolle Haare und eine zarte Figur definiert wird, ist nicht immer die Schönheit, die uns hilft ein glückliches und ehrlich erfülltes Leben zu führen. Der Vater von Anna hat es mit diesem Satz, den er ihr nach einem dramatischen Vorfall im Zug nahe legt, auf den Punkt gebracht :

« Geben Sie auf Ihre Seele acht, sie allein ist es, die uns Schönheit verleiht. »

« Riviera Express » ist eine intensive Reise über viele Länder und während unterschiedlicher Zeiten. Und es ist eine Reise, voller Poesie und Erstaunen durch die Seelen besonderer Menschen. Mit sensibelster Selbstbeobachtung der einzelnen Hauptdarsteller gelingt es Gaëlle Josse den Leser, in eine unglaublich subtil entstehende und berührend dramatische Geschichte zu verwickeln, ohne auch nur einen Hauch sentimental zu werden. Der Roman ist eine wunderbare literarische Entdeckung und deshalb sehr empfehlenswert!

Durchgeblättert – „Mehr Musenküsse“ v. Mason Curry/Arno Frank

Jetzt sind sie wieder da, die wunderbaren « Musenküsse » diesmal geschrieben und zusammengestellt von Mason Currey und Arno Frank. Bereits im ersten Band wurden berühmte Künstler und ihre Rituale treffend und mehr als kurzweilig vorgestellt. Im aktuell veröffentlichten zweiten Band « Mehr Musenküsse » bekommt Mason Currey durch Arno Frank die perfekte Unterstützung.

Mason Currey, in Pennsylvania geboren, studierte an der University of North Carolina und war einige Jahre Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Der erste Band « Musenküsse », der 2014 erschien, ist durch seinen Blog « Daily Routines » entstanden. Arno Frank, der nun die Ehre hat, bei der Fortsetzung mitzuwirken, war elf Jahre als Redakteur bei der taz in Berlin tätig und arbeitet nun als freier Journalist für Spiegel Online, Die Zeit und Musikexpress.

Lesen wir nicht alle gerne über Menschen und ihre Rituale, Alltagsgewohnheiten, ja vielleicht so gar auch über ihre Marotten und Eigenarten. Es hat doch einen gewissen, wenn nicht so gar starken Reiz, als Leser seine Nase in die Gewohnheiten berühmter und vielleicht sogar verehrender Künstler hineinzustecken. Bei den « Musenküssen » handelt es sich keinesfalls um eine Art Klatschpresse auf intellektuellem Niveau. Nein, es sind die richtig spannend zu lesenden Arbeitsrituale, die wir hier in knapper und nicht weniger präziser Manier kennenlernen dürfen, sei es von sowohl noch lebenden und als auch bereits verstorbenen Künstlern.

Wer hätte gedacht, dass zum Beispiel der Philosoph Peter Sloterdijk sich nicht nur nach getaner Schreibarbeit auf seinen Hometrainer schwingt und lange « Fahrradtouren » unternimmt, sondern sich auch gerne mal vom Fernseher berieseln lässt :

« Ich benutze das Fernsehen als Gleichgültigkeitsmaschine. »

Genau so wenig vorstellbar ist, dass der berühmte Tänzer und Choreograph George Balanchine sich sehr gerne mit Hausarbeit insbesondere mit seiner Wäsche beschäftigte :

« Am kreativsten bin ich, wenn ich bügle. »

Peter Handke dagegen schreibt nur mit Bleistift. Der Grund war eine nicht vorhandene Schreibmaschine während eines Andalusienaufenthalts :

« Über das Geräusch eines Bleistifts könnte ich fast eine Ballade schreiben. Es ist auch schön und richtig zu radieren. »

Viele Künstler nutzen ihre Schlaflosigkeit als Schreib- und Arbeitspotential. Doch andere wiederum brauchen viel Schlaf und gehen äusserst früh zu Bett, um sich bereits in den frühen Morgenstunden in die Arbeit stürzen zu können. Für einige Schriftsteller ist ein Leben ohne Schreiben nicht vorstellbar. Andere brauchen Drogen und Alkohol damit sie überhaupt in Fahrt kommen. Und der Kaffee geht bei manchen als einziges Nahrungsmittel direkt durch den Magen. Aber auch Rituale wie kalte Bäder am Morgen oder bestimmte Speisen gehören zu den absolut notwendigen Gepflogenheiten, die zu einer erhöhten Produktivität beitragen können.

« Mehr Musenküsse » ist ein Vademekum der Sonderklasse, ein Panoptikum der Künste und Kultur. Mehr als 80 Persönlichkeiten lassen uns an ihren Alltagsritualen oder sollte man eher sagen Überlebens- und Arbeitsstrategien teilhaben. Mason Currey und Arno Frank haben ein Buch konzipiert, in dem man sich festliest und es so schnell nicht wieder aus der Hand legen kann. Die Prägnanz der Texte ist wie bereits beim ersten Mal wieder vom Feinsten und der Unterhaltsamkeitswert mehr als gegeben.

« Mehr Musenküsse » ist ein handlich gestaltetes Buch-Kunstwerk über und mit den verschiedensten Künstlern, Schriftstellern, Philosophen, Musikern, Komponisten und anderen Kreativen, das nur so vor Lebendigkeit sprüht, für Überraschungen sorgt und die Neugierde nach mehr steigert!

Durchgelesen – „KL – Gespräch über die Unsterblichkeit“ v. John von Düffel

Wollen wir nicht alle unsterblich sein, oder es zumindest versuchen ? In der heutigen Zeit könnten aus medizinischer Sicht die Chancen auf eine gewisse körperliche Unsterblichkeit gar nicht so klein sein. Aber ist diese Unsterblichkeit auch wirklich erstrebenswert, sowohl für sich selbst als für die Gesellschaft, in der wir uns bewegen ? Fragen über Fragen, die sich nicht sofort und vielleicht auch nur unter philosophischen Aspekten beantworten lassen. Wäre da nicht ein perfekter Kandidat für diese Fragen bereits vorhanden, der uns sicher weiterhelfen kann. John von Düffel hat diesen Menschen « getroffen » und zeigt uns in seinem neuesten Werk « KL – Gespräch über die Unsterblichkeit » das unglaublich beeindruckende Ergebnis.

John von Düffel, geboren am 20. Oktober 1966 in Göttingen, hat nach seinem Abitur Philosophie, Germanistik und Volkswirtschaftslehre studiert. Nach seiner Promotion arbeitete er als Filmjournalist und Theaterkritiker. Er war und ist Dramaturg an mehrerer deutschen Bühnen und ist derzeit am Deutschen Theater Berlin tätig. Nebenbei ist er Professor für szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane « Vom Wasser » (1998), « Beste Jahre » (2007) und « Goethe ruft an » (2011). John von Düffel wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet unter anderen mit dem Aspekte-Literaturpreis 1998 und dem Nicolas-Born-Preis 2006.

John v. Düffel begibt sich in seinem aktuellen Werk auf den Weg zu einem ganz besonderen « Interviewpartner » um ein nicht ganz einfaches Thema « Die Unsterblichkeit » erstmals so richtig zu durchleuchten. Wer könnte es nicht anderes sein als KL, den wir – selbst wenn wir mit Mode nicht das geringste zu tun haben oder uns dafür nur rudimentär interessieren –  als eine « unsterbliche » Persönlichkeit wahrnehmen. Gerade erst hatte er seinen angeblich 80. Geburtstag, denn so keiner weiss sein wirkliches Geburtsdatum, aber vielleicht macht genau dies die Unsterblichkeit aus, die KL so perfekt lebt und inszeniert.

Der Ich-Erzähler, das alter Ego von John v. Düffel – nennen wir ihn den Journalisten – wird standesgemäß vom einem Fahrer am Bahnhof in Paris abgeholt und es geht direkt in das Atelier von KL. Es folgt eine sehr lange Wartezeit. Natürlich kommt KL nicht gleich, es ist der Assistent, der zu erst einmal viele Punkte klarstellen muss, bevor das anberaumte Interview überhaupt stattfinden kann. Die Bedingungen sind schwierig, es gibt viele Gebote, wenig journalistische Freiheit, letztendlich kann man eigentlich fast keine Fragen stellen und die Interviewzeit darf dreissig Minuten nicht überschreiten. Der Journalist bereits desillusioniert von den komplizierten Umständen ist mehr als überrascht als KL plötzlich vor ihm steht.

KL gibt sofort klar zu verstehen, dass er grundsätzlich keine Interviews gibt und keine Gespräche mit Menschen führt, die er nicht kennt. Doch KL lässt seine Gedanken sprechen und es sprudelt nur so aus ihm heraus. Es geht über Kultur, Erziehungsfragen, Disziplin und deutsche Mentalität :

« Ich bin ein deutsches Mentalitätsmuseum, ein Vatikan der deutschen Tugenden, die wandelnde deutsche Tugend-Enklave – lachen Sie nicht ! »

Aber das ist nicht alles. Der Journalist versucht ein philosophisches Gespräch mit KL zu führen. Es drängt sich im Hinblick auf so viel Disziplin die Frage nach dem Genie auf. Denn für ein Genie wird KL of gehalten. Aber genau diese Bezeichnung wendet er vehement ab :

« Ich sage Ihnen, ich kenne Kollegen – hochtalentierte, begnadete Künstler ! – , die so mit dem Genialsein beschäftigt sind, dass sie überhaupt keine Zeit mehr haben zu arbeiten. Genie ist ein full-time-job. Mir persönlich ist das zu anstrengend. »

Kurzum, KL ist kein Genie und will auch keines sein und somit ist es kaum verwunderlich, dass er dem Journalisten eindringlich erläutert, wie hart er arbeitet, nicht konsumiert, was aber nichts mit Enthaltsamkeit zu tun hat und er nichts anderes als ein Produzent ist : « Ich bin ein Fließbandarbeiter im Luxussegment. »

Das Gespräch ist nach 27 Minuten und 30 Sekunden beendet und KLs Assistent begleitet den Journalisten wieder aus dem Atelier. Doch es bleibt nicht bei dieser einzigen Begegnung mit KL, davor trifft der Journalist noch ganz zufällig während zweier Zugfahrten BS und HS, zwei Damen – die eine im Show-Business eine mehr als beliebt bekannte Grösse und die andere eine « Politpensionärin » aus Schleswig-Holstein, die im Bezug auf Unsterblichkeit so einige Aspekte beisteuern können und könnten. Doch letztendlich wird das Gesprächs-Finale mit KL – ausgerechnet in Deutschland und nicht in Frankreich – der philosophische Höhepunkt und dadurch werden nicht nur komplexe Fragen in puncto Unsterblichkeit sondern auch weitaus einfachere in Bezug auf die kaum zu bändigende Müdigkeit etc. beantwortet.

Dieses Buch befreit uns so unglaublich charmant vor Überheblichkeit, Unnahbarkeit und lässt die Hüllen der Distanz fallen, ohne jedoch unangenehm aufdringlich zu werden. Wir begegnen durch John v. Düffels KL einen Mann, den wir vielleicht – dank der Regenbogenpresse – glauben zu kennen, der deutscher ist als wir denken, der disziplinierter ist, als wir es uns je vorzustellen wagen und weder eine Ikone noch ein Genie sein möchte. Wie schön, dass von Düffel diese grandiose Kunstfigur KL geschaffen hat, die doch sehr viel mit einem gewissen Modedesigner namens Karl Lagerfeld gemeinsam hat bzw. haben könnte, er es aber nicht ist, oder vielleicht doch?

John v. Düffel kann mit seiner raffinierten Technik des literarisch-kunstvollen Interviews nicht nur tiefgreifende Probleme der profanen Übermüdung, sondern auch die Relevanz der kaum zu überbietenden Selbstvermarktung treffsicher analysieren. Er lässt seine Protagonisten, KL, aber auch die Damen BS – alter Ego vielleicht von Barbara Schöneberger – und HS – Heide Simonis – immer in einer respektvollen und fürsorglichen Umgebung agieren, somit ist dieses Buch keine böse und mit übler Nachrede gespickte Satire. Es ist ein sehr amüsantes, frech bissiges Werk, das die Disziplin und einige andere doch eher deutsche Tugenden gekonnt verpackt und in so manch anderes Licht rückt.

« KL- Gespräch über die Unsterblichkeit » ist ein mutiges Buch, ein Buch zum Lachen, Schmunzeln, aber eben auch zum Nachdenken. Es überrascht mit Begegnungen, gibt interessante und unerwartete Einblicke in eine Gesellschaft, die alles versucht, der Unsterblichkeit mit welchen Mitteln auch immer näher zu kommen !

Durchgelesen – „Adèle“ v. Irene Ruttmann

Die Schlacht an der Somme (Fluss im Norden Frankreichs) vom 1. Juli bis 18. November 1916 zählte zu den grössten Schlachten an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Durch die britisch-französische Grossoffensive gegen die deutschen Truppen war dies die mit mehr als einer Million getöteten, verwundeten und vermissten Soldaten verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs. Ist es denn möglich trotz der vielen dramatischen Erlebnisse genau nach dieser Zeit Gefühle für einen Menschen zu entwickeln, der durch Zufall in ein vollkommen zerstörtes und eher zukunftsloses Leben tritt? Ja, denn dank der erzählerischen Kunst von Irene Ruttmann dürfen wir in ihrem neuen Roman „Adèle“ eine solch aussergewöhnliche Begegnung entdecken.

Irene Ruttmann, geboren 1933 in Dresden, studierte in Leipzig, Ost-Berlin und Frankfurt a. Main Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Sie promovierte in Frankfurt und war von 1972 bis 1976 Dozentin an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt. Seit dieser Zeit arbeitet sie als freie Mitarbeiterin für den Rundfunk und verschiedene Verlage. Bekannt wurde sie durch ihre Kinder- und Jugendbücher. Ihr erster Roman für Erwachsene „Das Ultimatum“ erschien 2001. Sie lebt in Bad Homburg.

Der Roman „Adèle“ ist eine Art Tagebuchroman. Der Hauptprotagonist heisst Max, ein junger zwanzigjähriger Infanterist aus Dresden. Max hätte gerne Medizin studiert, aber sein Vater war dagegen. Als Alternative durfte er eine Lehre als Drogist machen, die seine Begeisterung für Pflanzen und Kräutern im Hinblick auf das Anrühren verschiedensten Salben stillen konnte.

Max erwachsene Tochter entdeckt diese Tagebucheintragungen, die rudimentär im Sommer 1916 beginnen, wo sich ihr Vater Max freiwillig zum Sanitätsdienst gemeldet hatte und glücklicherweise statt an die Front als Hilfspfleger eingesetzt wurde. Dann gibt es Lücken und die Aufzeichnungen setzen Anfang Oktober 1916 wieder ein. Max ist Krankenträger. Danach ist wieder eine Schreibpause und die nun ersten ausführlichen Tagebucheintragungen beginnen am 11.Dezember 1916 und Max beschreibt die kurzfristige Erleichterung nach den dramatischen Tagen bei Chaulnes (eine Stadt an der Somme).

Er war in einem Gutshof, konnte sich endlich etwas ausruhen. Die Bedingungen waren besser als erwartet, es gab Feldbetten, Öfen und so gar ein Kino. Doch Max wollte lieber schreiben und zeichnen. Leider war das Papier so knapp, so dass er immer auf der Suche nach Material war. Dabei lernte er Bruno kennen, einen jungen Maler aus Berlin. Bruno war begeistert von der „guten Bohème“ in Dresden und freute sich, dass Max die Maler Heckel, Kirchner und Schmitt-Rottluff kannte. Bruno besorgte ihm Papier und ein Heft und Max unterhielt sich gerne mit ihm. Er könnte sich jetzt so einfach um seine Geschichten kümmern, wenn nicht die vielen Probleme in der Krankenstation wären. Viele seiner Kameraden litten an extremen Bauchkrämpfen und es gäbe doch nichts besseres, als Kräuter wie Salbei, um diese zu lindern.

Max machte sich auf zur Apotheke, welche jedoch verbarrikadiert war, und entdeckte dabei per Zufall ein Haus mit einem grossen Garten immer auf der Suche nach einem Kräuterbeet. Doch plötzlich hörte er eine Stimme. Max vollkommen irritiert stand einer jungen attraktiven Frau gegenüber, gekleidet in einem für ihn so schönen roten dicken Mantel. Sie war Französin, Max sprach fast kein Französisch und versuchte mit Händen und Füssen zu erklären, dass er nur Salbeikräuter suchen würde. Sie verstand seine Zeichensprache und konnte ihm seine dringend erwünschten Salbeibüschel geben. Wie glücklich er plötzlich war, nicht nur wegen der gesuchten Kräuter. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit dieser Begegnung. Die Nacht konnte er nicht schlafen, immer wieder sah er das hübsche Mädchen vor sich. Und am nächsten Tag ging er wieder hin, er holte nochmals Salbeibüschel, diesmal soviel er wollte und war noch entzückter, als sie plötzlich ein paar Worte sagte. Sie war überrascht über seine schwarze Haarfarbe und braunen Augen, so wie sie, obwohl er doch deutsch war. Auch Max sah erstmals ihre Haare und Augenfarbe. Nach diesem kurzen doch eher stillen Austausch ging er wieder in Richtung Gutshof:

„ « À demain », sagte sie und verschwand in der Tür. « Demain » heisst morgen, « aujourd’hui » heisst heute und ist schwierig zu schreiben. Und « gestern » fiel mir nicht ein. Ich brauchte es auch nicht. « Demain » heisst morgen. À demain, à demain, à demain!“

Max war beseelt von dieser so unerwarteten Begegnung und er besuchte das Mädchen wieder, am nächsten Tag. Diesmal lud sie ihn ein, ihr Haus zu betreten, er bekam einen Cognac und etwas zu essen und dabei stellte sich heraus, dass sie eine gewisse Zeit im Elsass verbrachte und ein bisschen Deutsch verstand. Ihr Name war übrigens Adèle. Bis jetzt hatte Max nur wenig Glück bei den jungen Frauen, er langweilte sie mit seinen Gesprächen über Museen und Literatur. Und hier bei Adèle konnte er gar nichts erzählen, es lag nicht an seinen fehlenden Französischkenntnissen, nein selbst in seiner Muttersprache hätte er nichts sagen können. Und vielleicht war genau das ihr Geheimnis, das Besondere zwischen ihm und Adèle…

Irene Ruttmann hat unbeschreibliche Empathie, die sie so wunderbar an ihren Hauptprotagonisten Max weitergibt und dabei gelingt es so raffiniert unaufgeregt die vollkommen unerwartete Begegnung zweier Menschen in Zeiten des Krieges vorsichtig und klar zu entwickeln, dass selbst die Kriegsszenerie für gewisse Momente so erleichternd unwichtig in den Hintergrund rückt. Die Sprache ist sowohl von zarter und unprätentiöser Klarheit und kann dabei der so charmanten Sprachlosigkeit zwischen Max und Adèle und dem daraus so grandios entstehenden Schweigen eine kaum zu übertreffende Intensität verleihen.

Als Leser geniessen wir diese so stilvolle Sinnlichkeit die sowohl von Max als auch von Adèle ausgeht und fühlen uns trotz der wahrlich sehr widrigen Kriegszustände mit ihnen und ihrer Situation so unglaublich wohl. Besonders gelungen ist ein Treffen, bei dem Adèle Max etwas auf Französisch vorliest, da er doch sehr gerne Bücher mag. Und es gibt noch so viele schöne andere Szenen in diesem Roman, der gerade mal 156 Seiten umfasst, dass man bei der letzten Zeile angekommen geneigt ist, das Buch gleich noch ein zweites Mal zu lesen.

„Adèle“ ist ein berührendes, anrührendes und sehr beeindruckendes Buch. Dieser Roman ist ein literarisches Bijou und gehört sicherlich zu den besten Neuerscheinungen in diesem Leseherbst.

Durchgelesen – „Die Kunst des Wartens“ v. Catherine Charrier

Das „Warten“ kann so viele Bedeutungen haben, dass man nicht immer genau sagen kann, ob das „Warten“ nun eher positive oder negative Dinge vermittelt. Wer wartet schon gerne auf etwas und empfindet dabei ein eher wohliges und vielleicht sogar meditatives Gefühl. Selten wird dies eintreffen, aber es ist durchaus möglich. Doch wenn wir nicht nur durch das Warten Gefühle erzeugen können und wollen, so ist es um so schwieriger aufgrund von Gefühlen oder wegen Gefühlen zu warten. In Liebesbeziehungen hat das Warten eine nochmals ganz andere Bedeutung und kann zu unglaublich überraschenden Wendungen führen. Und was das Warten nun in Liebesangelegenheiten auslöst, zeigt uns Catherine Charrier äusserst ausdrucksstark in ihrem Erstlingsroman „Die Kunst des Wartens“.

Catherine Charrier, geboren 1961 in Alençon, studierte Kunstgeschichte und Kunst an der École du Louvre. Sie arbeitet in Paris im Bereich der Werbung. „Die Kunst des Wartens“ wurde in Frankreich 2012 unter dem Titel „L’Attente“ veröffentlicht und ist nun dank der wunderbaren Übersetzung von Claudia Steinitz aktuell in deutscher Sprache erschienen.

Die Geschichte spielt hauptsächlich in Frankreich, in verschiedenen Städten, wie beispielsweise Nantes und Paris. Die Hauptprotagonisten sind Marie, eine moderne, selbständige und verheiratete Frau mit zwei Kindern, und Roch, ein ebenfalls verheirateter Mann mit einem Kind. Beide kennen sich durch ihre Arbeit und haben ein Verhältnis. Roch kündigt seiner Geliebten Marie an, dass er seine Frau verlassen und sie heiraten wird, sollte ihre Affäre noch ein Jahr überdauern. Marie ist überrascht, konnte sich dazu nicht einmal äussern und entscheidet sich vollkommen unvorhergesehen, ein Jahr zu warten. Sie zählt ab sofort die Tage (X plus). Das Warten wird zum Inhalt ihres Lebens: sie organisiert alles um dieses Warten herum, ihren Beruf, ihren Mann, ihre Kinder und sich selbst. Denn das Warten ist mehr, als nur das Warten auf einen Anruf oder auf ein Treffen mit Roch:

„Das Warten ist eine Geschichte von sich erlauben und sich verbieten. Das Warten ist beherrschend. Man unterwirft sich ihm, seine Belanglosigkeiten werden zum Zwang.“

Jede Gelegenheit versucht Marie zu nützen, um sich mit Roch zu treffen. Doch Paul, Maries Mann, merkt, dass Marie sich verändert, zum Telefonieren beispielsweise die Garage aufsucht und somit unsicher wird. Marie zerstreut alle Zweifel von Paul und plant das nächste Tête-à-Tête mit Roch. Und dann passiert es. Marie merkt nicht, dass das Jahr, dieses eine Jahr, das sie warten wollte, bereits seit längerer Zeit schon vorbei ist. Inzwischen bei Tag X plus 498 angekommen wird die Affäre immer noch ausgelebt. Die Begegnungen häufen sich, da sie beide jetzt auch noch im Verhältnis Unternehmen = Marie und Kunde = Roch zusammenarbeiten und immer weniger von einander lassen können. Das Warten wird unbewusst verlängert und dadurch schleicht sich eine Angst ein, die anfängt zu dominieren, obwohl die Lust bis zu diesem Zeitpunkt immer noch stärker ist.

Marie wartet weiter unbewusst oder auch bewusst. Die Tage verstreichen und die Seele von Marie rebelliert. Seit einer gewissen Zeit muss sie sich ständig übergeben, selbst wenn sie mit Roch zusammen ist oder mit ihrem Mann. Liegt es daran, dass sie sich nicht entscheiden kann, weder für den einen noch für den anderen Mann? Marie ist nicht mehr in der Lage ihr Gefühls- und Liebesleben gut selbst zu steuern. Sie kann weder von Roch lassen und sich zu ihrem Mann bekennen, oder sich von ihrem Mann trennen und frei für Roch zu sein. Und ausgerechnet dann wird auch noch ihrem Mann ein neuer Job in Paris angeboten:

„Heute reisst mich ein Mann aus Nantes weg, mein Ehemann, während ein anderer nicht imstande ist, mich hier zu halten.“

Das Warten wird zur Hauptaufgabe für Marie, die Tage rennen vorüber und nichts hat sich geändert, oder vielleicht doch? Sie lebt jetzt in Paris und Roch nach wie vor in Nantes, doch bald wird auch Roch nach Paris fahren…

Catherine Charrier schreibt in ihrem Erstlingsroman mit einer wahrlich präzisen und gleichzeitig so unglaublich sensiblen und empathischen Feder, dass bereits zu Beginn der Lektüre eine Faszination von diesem Buch ausgeht, der man sich nicht entziehen kann. Mit sprachlicher Raffinesse werden die eingefügten Sequenzen über das Warten aus der ganz persönlichen Sicht von Marie zu einem fast schon philosophischen Leseerlebnis. Aber auch die durchdringende Lustbesessenheit kombiniert mit der mehr und weniger dominierenden Angst geben der Euphorie und der Hoffnung ein nicht kaum zu erreichendes Ziel.

„Die Kunst des Wartens“ zeigt ein so bewegendes und aufwühlendes Psychogramm einer Frau, die sich nach Liebe sehnt und ein Gefühl des Wartens erhält und lebt. Dieses Buch ist keine simple Lovestory zwischen einer Frau und zwei Männern. Es ist ein so emotional klug konzipiertes Stück Literatur, das den Leser nachhaltig zum Nachdenken anregt und das Begehren und die Lust in eine ganz neue und absolut authentische Form, nämlich die des „Wartens“ mit ehrlicher Direktheit und charmanten Fingerspitzengefühl, verwandelt.

Catherine Charrier hat mit ihrem Erstlingsroman absolutes Schreibtalent bewiesen, in dem sie klar dem Leser vor Augen führt, wie wenig sich die Schnelllebigkeit und das Alltägliche in unserer Zeit mit besitzergreifender Liebe und besessener Leidenschaft weder erleichtern, geschweige denn verdrängen lässt. „Die Kunst des Wartens“ ist ein wunderbares Buch über Liebeslügen und Gefühlsabhängigkeiten, das dem Leser ganz subtil die richtigen Fragen stellt und ihm gleichzeitig die Freiheit gibt, sie ganz für sich allein zu beantworten.

Durchgelesen – „Hôtel du Nord“ v. Eugène Dabit

Hotels sind heute und waren damals nicht nur gute, exklusive und schicke Übernachtungsmöglichkeiten, um eine andere Stadt zu erkunden oder sich zu erholen. Hotels können und konnten vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts den Menschen, eine Art Ersatz-Zuhause bieten und wurden als so genannte Wohn-Hotels genutzt. Und genau von so einem Hotel und deren Bewohnern erzählt der bereits 1929 veröffentlichte Roman „Hôtel du Nord“ von Eugène Dabit.

Eugène Dabit (1898 – 1936) wuchs in Paris als Kind von Arbeiter-Eltern auf und erlebte eine zwar einfache aber nicht weniger glückliche Kindheit, obwohl die Eltern oft wegen ihrer Arbeitsstelle umziehen mussten. 1911 hatte er mit dem Certificat d’études primaires seine für ihn doch eher langweilige Schulzeit beendet und konnte 1912 seine Lehre als Schlosser beginnen. Jedoch wurde diese durch den 1. Weltkrieg schlagartig unterbrochen. Er versuchte mit Vortäuschen von psychischen Problemen und einem Selbstmordversuch dem Militärdienst zu entkommen. Er wurde jedoch bei Kämpfen in der Nähe von Reims verwundet und konnte danach nur noch in einem Büro der Armee arbeiten. Bereits während der Lehre wurde Dabits zeichnerisches Talent erkennbar und somit begann er ab 1919 ein Studium der Malerei an zwei verschiedenen Pariser Akademien.
Über Freunde entdeckte er neben der Malerei auch die Literatur und las neben Baudelaire, Rimbaud, Stendhal auch Gide. 1923 kauften seine Eltern mit der Hilfe eines Kredits von einem Onkel ein Hotel in Paris, das Hôtel du Nord, in der Nähe des Canal St. Martin am Quai des Jemmapes im 10. Arrondissement. Anfänglich arbeitete er dort als Nachtportier, letztendlich wurde er später selbst Geschäftsführer dieses Hotels, welches ihn in seinen schriftstellerischen Arbeiten stark beeinflusste. Alle seine Beobachtungen und Erfahrungen als Mitarbeiter und Hotelier können wir nun – dank der hervorragenden Neuübersetzung von Julia Schoch – in seinem bis heute in Frankreich als absoluten Klassiker zählenden Roman „Hôtel du Nord“ miterleben, durch den übrigens 1931 Eugène Dabit mit dem Prix du Roman populiste als erster Preisträger überhaupt ausgezeichnet wurde.

Der Roman spielt in der gleichen Zeit, während welcher die Eltern von Eugène Dabit dieses Hotel in Paris erworben hatten. Die Hauptdarsteller sind zum einen die neuen Besitzer des Hotels – Emile und Louise Lecouvreur – und natürlich die zum Teil doch lang verweilenden und aber auch regelmässig wechselnden Hotelgäste.

Das Hotel war ein besonderer Ort, es war ein sogenanntes Wohn-Hotel, in dem Gäste nicht nur für ein oder zwei Nächte blieben, hier wohnten die Gäste zum Teil für mehrere Wochen oder Monate, konnten in ihren Zimmern, die teilweise mit einer kleinen Kochecke ausgestattet waren, sich selbst versorgen. Auch wenn das Hotel über ein gut bürgerliches Restaurant verfügte, zog doch so mancher Gast die Intimität beim Essen in seinem Zimmer vor.

Louise und Emile Lecouvreur haben mit Hilfe eines Maklers und durch die finanzielle Unterstützung der Familie dieses Hotel erwerben können. Der Vorbesitzer suchte dringend einen Nachfolger und somit war das Geschäft in doch sehr kurzer Zeit abgewickelt. Mit viel Engagement und Herzblut hatten die Lecouvreurs sehr schnell eine gute und angenehme Atmosphäre in ihrem neuen Zuhause und damit auch in ihrem Hotel nicht nur sich selbst sondern auch ihren Gästen bereiten können. Sie suchten ein neues Dienstmädchen, kümmerten sich um die Langzeitgäste nicht weniger intensiv, als um die Kurzbewohner und die reinen Tagesgäste im Restaurant, sei es nur zum unkomplizierten Frühstück oder doch auch zum reichlich und schmackhaft gekochten Mittagsmahl. Aber auch all abendliche Kartenspieler wurden genauso herzlich bedient und fühlten sich im neu geführten Hôtel du Nord wohl. Manchmal gab es jedoch auch Probleme mit den Gästen, die nicht immer sofort und unkompliziert gelöst werden konnten:

„Lecouvreur war im Kneipengewerbe noch ein Neuling. Er wusste nicht, wie man Nervensägen loswird, die ihn wegen einer Runde anpumpten, oder Besoffene, die stundenlang am Tresen rumhingen. Jeden Abend vor Ladenschluss landete irgendein Säufer bei ihm, Kutscher oder Auslader.“

Die Probleme lagen aber nicht nur an den täglichen und eher kleinen Schwierigkeiten mit so manchem Gast, der nicht wusste, wann es genug war oder nicht. Nein, die Probleme gingen zum Teil soweit, dass ausgerechnet auch noch das erst kürzlich eingestellte Dienstmädchen schwanger wurde. Und so war auch Madame Lecouvreur mehr als nur in ihrer Funktion der Hotelchefin gefragt und musste sich nicht nur in diesem Fall um zwischenmenschliche Probleme und Sorgen sowohl bei ihren Angestellten als auch bei den Gästen kümmern…

Dieser Roman ist – wie bereits oben schon erwähnt – ein französischer Klassiker, denn er zeigt Paris von einer ganz anderen Seite, und bietet nicht nur den neuen Hotelbesitzern, sondern auch den Gästen eine grosse Bühne für all ihre Befindlichkeiten, ob positiv oder negativ. Dieser Roman ist fast wie eine Art Theater-Stück konzipiert, das die verschiedensten Rollen vergeben hat, um uns Leser an den einzelnen Schicksalen zu dieser Zeit und in dieser besonderen Gesellschaft teilzuhaben.

Der Erfolg dieses Romans – auch stark beeinflusst durch die Fürsprache von André Gide – öffnet dem Autor Eugène Dabit eine ganz besondere und wichtige Tür im Bereich der Literatur. Damit durfte er von nun ab Artikel für die grosse und berühmte Literaturzeitschrift „La Nouvelle Revue Française“ schreiben, die dem berühmten Pariser Verleger Gallimard gehörte. Ab 1930 wurden dann alle Bücher von Dabit in diesem Verlagshaus veröffentlicht, was eine sehr grosse Anerkennung bedeutete.

„Hôtel du Nord“ ist einerseits eine romaneske Gesellschaftsstudie der Stadt Paris der zwanziger Jahre, andererseits auch eine Art Gemälde vor allem dieses Quartiers, wo man die malerische Begabung des Autors bei jedem fast wie mit dem Pinsel geführt geschrieben Wort verspürt. Hier treffen wir noch auf einfache Berufsstände, wie Kutscher und Wäscherinnen, die heute in dieser Form nicht mehr existieren. Eugène Dabit öffnet einen ganz anderen Blick auf die auch schon damals grosse Metropole Paris, der eine ganz neue und unverbrauchte Suche nach dem Glück vermittelt, die für uns aktuell nicht mehr vorstellbar ist.

Dieser Roman beeindruckt nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich, ab der ersten Seite und es ist ein wahrer literarischer Glücksfall, dass dieses wichtige Werk der französischen Literatur nun endlich in dieser fabelhaften Neuübersetzung dem deutschsprachigen Publikum präsentiert werden kann. Und wer in Paris nicht nur auf den klassischen Touristenpfaden wandern möchte, kann dieses Hotel noch heute am Quai de Jammapes entdecken oder sich auch mit der berühmten Romanverfilmung (1938) von Marcel Carné in das Paris von Eugène Dabit verführen lassen!

Durchgelesen – „Konzert ohne Dichter“ v. Klaus Modick

Worpswede ist eine niedersächsische Gemeinde nordöstlich von Bremen, gelegen im Teufelsmoor und bekannt als ein Erholungsort. Doch mit diesem Ort verknüpfen wir noch viel mehr und denken in erster Linie an die berühmte Künstlerkolonie Worpswede. Die 1889 gegründete Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Künstlern beheimatete hauptsächlich Künstler des Jugendstils, Impressionismus und Expressionismus. Einer der wichtigsten Orte in Worpswede war der Barkenhoff, der Mittelpunkt für Begegnungen und Feste. 1895 erwarb Heinrich Vogeler (1872 – 1942) diesen Barkenhoff und baute ihn im Jugendstil um. Heinrich Vogeler war Maler, Architekt, Grafiker, Schriftsteller und der „Märchenprinz“ aus dem „Märchen“ Worpswede. Klaus Modick hat dieses „Märchen“ neu erzählt und wir freuen uns sehr, in diese ganz besondere Welt voller Kunst und Literatur, aber auch Liebe, Freundschaft, Macht und Geld eintauchen zu dürfen.

Klaus Modick – geboren 1951 – studierte nach dem Abitur Germanistik, Geschichte und Pädagogik in Hamburg. Nachdem er sein erstes Staatsexamen für Lehramt Gymnasium in Deutsch und Geschichte abgelegt hatte, promovierte er 1980 in Literaturwissenschaft über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er als freier Schriftsteller und Übersetzer tätig. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen, wie zum Beispiel dem Bettina-von-Arnim-Preis und dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet. Zu seinen bekanntesten und erfolgreichsten Werken zählen „Vierundzwanzig Türen“ (2000), „Der kretische Gast“ (2003) und „Sunset“ (2010). Und jetzt ganz aktuell kann uns Klaus Modick mit seinem Roman „Konzert ohne Dichter“ rundum die Künstlerkolonie Worpswede und im Besonderen um die nicht ganz einfache Freundschaft zwischen Heinrich Vogeler und Rainer Maria Rilke beglücken.

Der Roman spielt zwei Tage vor und an dem Tag selbst der wichtigen Preisverleihung – Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft – an Heinrich Vogeler, genauer vom 7. bis 9. Juni 1905. Diese wichtige Auszeichnung wird ihm nicht nur für sein gesamtes Werk, sondern auch im Besonderen für das endlich nach fünf Jahren fertiggestellte Gemälde „Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff“ verliehen. Doch dieses Werk ist für Heinrich Vogeler persönlich nicht der Erfolg, wie ihn die Öffentlichkeit feiert. Für ihn steht das Bild in verschiedenster Hinsicht für ein Scheitern. Sowohl sein künstlerisches Selbstbewusstsein gerät ins Wanken, als auch seine Ehe wird von Krisen geschüttelt, aber vor allem bekommt die Freundschaft zwischen ihm und Rilke grosse Risse.

Heinrich Vogeler gehörte zur ersten Generation der Künstlerkolonie Worpswede. Sein Barkenhoff war der Treffpunkt dieser Künstler und die sogenannte Barkenhoff-Familie bestand nicht nur aus ihm und seiner Frau Martha, sondern auch aus Otto Modersohn und dessen Frau und Malerin Paula Modersohn-Becker und Rainer Maria Rilke und dessen Frau und Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff. Ja und genau Rilke war der literarische Stern in Worpswede, ein „Seelenverwandter“ für Vogeler, aber auch ein Mensch, der in seinem – um es diplomatisch auszudrücken – nicht einfachen Charakter weit unterschätzt wurde, vor allem was die Beziehungen zu Frauen betraf.

„Es bedeutete, dass die Dichter das Sagen hatten, die Maler das Zeigen, und den Frauen blieb das Sein. Insbesondere das Da-Sein, das ständige Bereit-Sein für die Dichter und Maler. Rilke brauchte die Frauen. Aber im Grunde liebte er sie nicht.“

Rilke war ein Mann, der im ersten Moment eher schwächlich, leicht blass und in sich versunken wirkte, jedoch eine unglaubliche Anziehungskraft bei Frauen besass, die nicht nur Liebschaften mit adeligen und reichen Damen von Welt zur Folge hatte, denke man nur an die nicht ganz eindeutig zu bewertende Liaison mit Lou Andreas-Salomé. Aber auch Frauen, die sich ganz der Kunst verschrieben hatten, wie Clara Westhoff und Paula Becker, waren hingerissen von Rilkes Dichtung und seiner sensiblen Vortragskunst. Doch Rilke war in seiner Art dominant, konnte und wollte ausser für seine Poesie für nichts anderes verantwortlich sein. Doch ohne jegliche Form von Bewunderung und Liebe, die er zwar nie wirklich für andere geben konnte, war er selbst nicht lebensfähig. Für Rilke zählte nur die Kunst und der Künstler müsste und könnte nur alleine agieren. Die Künstlerkolonie verbarg eine Widersprüchlichkeit schon im Wort direkt:

„Künstler müssen Einzelgänger sein, Eigensinnige jedenfalls, weil nur aus Eigensinn entstehen kann, was ein Werk ausmacht: Stil.“

Trotz der für Heinrich Vogeler nicht immer ganz so verständlichen und nachvollziehbaren Aussagen Rilkes, unterstützte Heinrich Vogeler Rilke wo immer er auch konnte. Er nahm ihn als Gast bei sich im Barkenhoff auf, so lange bis er noch kein eigenes Haus in Worpswede hatte. Und hin und wieder musste er auch kleine finanzielle Hilfen leisten bzw. organisierte Kunsthändler, die sich für die Werke von Rilkes Frau Clara interessieren könnten, damit das Leben wieder weitergehen und Rilke sich auf seine Dichtkunst konzentrieren konnte. Vogeler hingegen durfte bzw. erklärte sich bereit ausgewählte Werke von Rilke zu illustrieren. Somit entstand doch auch eine Art von Kooperation, von der man nicht immer ausgehen konnte. Ja es sah nach einer gewissen Harmonie aus zwischen Vogeler und Rilke, doch leider war diese vielleicht nur am Beginn der Begegnung zwischen den beiden Männern vorhanden und verselbständigte sich im Laufe der Zeit. Das Ergebnis dazu ist sichtbar, wenn man das Bild „Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff“ betrachtet. Denn ein Platz ist dort frei zwischen den zwei Frauen Clara und Paula. Eigentlich sollte da Rilke erkennbar sein. Vogeler hatte ihn aus dem Bild genommen, doch warum…?

„Konzert ohne Dichter“ ist ein wunderschöner, einfühlsamer und äusserst inspirierender Roman nicht nur über die Künstlerkolonie Worpswede und Heinrich Vogeler. Nein es ist auch ein Roman über die von Klaus Modick so beeindruckend klug und differenziert erzählte Dreiecksbeziehung zwischen Paula Modersohn-Becker, Clara Rilke-Westhoff und Rainer Maria Rilke. Ein Skandal, welcher der Mal- und Dicht-Kunst untergeordnet wird und genau so schnell wieder entschwindet, wie er auch aufgetaucht ist.

Dieses Buch bietet aber neben den Maler-Frauen und ihren Schwärmereien und erotischen Verwicklungen auch noch eine besondere Männerfreundschaft, die alles andere als stabil ist. Die Selbstliebe von Rainer Maria Rilke und die Selbstzweifel von Heinrich Vogeler lassen die anfängliche Harmonie langsam verblassen. Klaus Modick kann dies mit seinen so spielerisch eingebetteten Rückblenden so klar und ebenso emotional dem Leser vermitteln, dass man Vogeler und Rilke so nahe kommt, als wäre man, als Leser, ein ganz naher Beobachter dieser besonderen Künstler-Freunde .

Durch „Konzert ohne Dichter“ erleben wir nicht nur Rilke von einer doch ganz anderen Seite. Wir werden dadurch auch noch neugieriger auf seine Dichtkunst, verspüren Entdeckerlust auf Bilder von Heinrich Vogeler, Paula Modersohn-Becker und auf Skulpturen von Clara Rilke-Westhoff. Und gleichzeitig sehnen wir uns nach der besonderen Landschaft von Worpswede. Das „Märchen“ Worpswede wird mehr als lebendig durch die so wunderbare Erzählkunst von Klaus Modick! Ein literarisch absolut bemerkenswerter und sehr eindrucksvoller Kunstroman, der mehr als lesenswert ist!

Durchgelesen – „Liebe mit zwei Unbekannten“ v. Antoine Laurain

Für viele Männer werden die Geheimnisse von Frauen im Bezug auf ihre Handtasche immer unauflösbar sein und bleiben. Doch es gibt glücklicherweise Ausnahmen und besondere Momente, wo der Inhalt einer Handtasche bei der Suche nach einer unbekannten Frau eine wahrlich tragende Rolle übernimmt. Ja, und das alles verknüpft mit dem Charme eines Pariser Buchhändlers könnte sich doch zu einer entzückenden und feinsinnig literarisch anmutenden Liebesgeschichte entwickeln.

Antoine Laurain, geboren in den 70ziger Jahren in Paris, ist ein französischer Schriftsteller, arbeitet als Drehbuchautor und als Antiquitätenhändler. Er hat inzwischen fünf Romane geschrieben, darunter „Le Chapeau du Mitterand“ (2012) und 2014 „La femme au carnet rouge“, welcher zu einem sehr grossen Erfolg in Frankreich avancierte, in 14 Ländern nun erscheint und den wir – dank der Übersetzung von Claudia Kalscheuer – aktuell unter dem deutschen Titel „Liebe mit zwei Unbekannten“ entdecken dürfen.

Die Geschichte spielt in Paris. Eine junge Frau, wird nachts auf einem Boulevard in der Nähe ihrer Wohnung überfallen. Man raubt ihr die schöne neue Handtasche mit all ihren Papieren, Geld, Schlüssel etc. Sie wollte sich noch wehren und klammerte sich fest an ihre Tasche, doch der Täter stösst sie mit einem Schlag weg und sie fällt gegen eine schwere Tür. Vollkommen benommen versucht sie sich noch auf zu rappeln, weiss nicht wie sie in ihre Wohnung ohne Schlüssel kommen soll und spürt das Blut auf ihrem Hinterkopf rinnen. Sie kann jetzt nicht alle ihre Nachbarn wach klingeln und entscheidet sich deshalb im Hotel gegenüber ihrer Wohnung ein Bett zu finden. Trotz fehlender Anzahlungsmöglichkeit für das Zimmer, gibt der Portier ihr einen Schlüssel. Sie legt sich hin. Doch am nächsten Morgen wird sie durch die Aufmerksamkeit des Portiers und mit Hilfe von Sanitätern bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht.

Zur gleichen Zeit bereitet sich Laurent auf die Arbeit in seiner Buchhandlung vor, welche sich ganz in der Nähe des Viertels befindet, in dem die junge Frau überfallen wurde. Als er in diesem Quartier seinen üblichen Rundgang machte, entdeckt er auf dem Deckel einer Mülltonne eine vollkommen neue und edle Handtasche:

„Nach der Art zu schliessen, wie sie dastand, war die Tasche nicht leer. Wäre sie leer und kaputt gewesen, hätte ihre Besitzerin sie in die Mülltonne geworfen und nicht obendrauf gestellt. Aber werfen Frauen ihre Taschen überhaupt jemals weg?“

Das ist genau die Frage! Eher nicht, vor allem wenn Laurent an seine ehemalige langjährige Lebensgefährtin dachte, konnte er sich an so etwas nicht erinnern. Er beabsichtigte zuerst die Tasche bei der Polizei abzugeben, doch da das Kommissariat gerade vollkommen überfüllt war, entschloss er sich die Tasche mit nach Hause zu nehmen. Laurent versuchte sich um seine Kunden, seine Buchbestellungen und alles was seine Buchhandlung betraf, zu kümmern. Doch unbewusst liess ihn die Tasche nicht los, er kreiste um sie herum und schliesslich öffnete er abends sämtliche Fächer dieser Tasche, die mit Reissverschluss den Inhalt dezent zu verstecken versuchten. Er entdeckte eine Fülle von Dingen, die man sicherlich nur in einer Damenhandtasche finden würde, unter anderem ein edles schwarzes Parfümfläschchen, ein Taschenkalender, Lakritzbonbons, eine Haarspange, ein herausgerissenes Rezept, Taschentücher, Ladegerät, dafür kein Mobiltelefon, keine Brieftasche und keine Ausweispapiere.

Doch er entdeckte noch zwei Dinge, die ihn am meisten faszinierten. Zu einem das Buch Unfall bei Nacht von Patrick Modiano. Das lässt sofort sein Buchhändlerherz höher schlagen und es freut ihn sehr, dass die Besitzerin eine Modiano-Leserin war. Aber dieses Buch war mehr als nur ein Roman von Modiano, es war eine vollkommen unerwartete und versteckte erste Annäherung an die Besitzerin der Tasche:

„Laurent blätterte um und entdeckte zwei mit Kugelschreiber geschriebene Zeilen: « Für Laure, in Erinnerung an unsere Begegnung im Regen. Patrick Modiano. » Die Schrift tanzte vor meinen Augen. Modiano, der ungreifbarste unter den französischen Autoren… Der Autor von Die Gasse der dunklen Läden hatte ihm soeben den Vornamen der Frau mit der lila Tasche enthüllt.“

Laurent war sprachlos und irgendwie erfüllt, endlich den Namen der Taschenbesitzerin dank Modiano erfahren zu haben. Doch das rote Moleskine-Notizbuch, das er ebenfalls in dieser besagten Tasche fand, öffnete neue und ganz ungewöhnliche Einblicke in das Seelenleben dieser Frau. Er konnte sich gar nicht mehr richtig losreißen von diesen Sätzen, die er dort las. Es waren Gedanken, Ängste, Träume, alles notiert von dieser jungen Frau, namens Laure.

Laurent ist nicht nur Buchhändler und Literaturverehrer, er ist auch ein Mann mit Sehnsüchten und voller Neugierde. Diese Frau faszinierte ihn immer mehr. Er hatte das Gefühl, sie bereits zu kennen, was ja auch kein Wunder war durch diese intensive Beschäftigung mit dem doch sehr persönlichen Inhalt ihrer Handtasche. Somit gab es für Laurent keine Alternative, er musste Laure unbedingt finden…

„Liebe mit zwei Unbekannten“ ist eine romantische Komödie, die weder kitschig, noch rührselig, sondern charmant und luftig literarisch erzählt ist und dadurch sofort ein gewisses Wohlgefühl bei der Lektüre erzeugt. Allein die Kombination – Buchhändler, Paris, Handtasche, unbekannte Frau – ist schon ein gewisser Garant für eine entzückende Geschichte. Durch den äusserst klug eingesetzten Humor von Antoine Laurain werden die Zufälle und ungeahnten Wendungen innerhalb des Romans perfekt orchestriert und geben der Romantik eine gewisse geistvolle und witzige Spannung.

Der Roman hat sehr viel gute Energie, zeigt uns unglaublich sympathische Hauptfiguren allen voran Laurent als Pariser Buchhändler, dessen Buchhandlung – wie könnte es anders sein –  Le Cahier Rouge heisst. Antoine Laurent schenkt dem Leser mit diesem Buch einen kleinen Traum, der den Alltag ein wenig vergessen lässt. Der Leser schwebt auf einer Wolke, und vor allem die Leserin wird sich nichts Sehnlicheres wünschen, mit Hilfe ihrer verlorenen gegangen bzw. gestohlenen Tasche den potentiellen Mann fürs Leben zu finden.

„Liebe mit zwei Unbekannten“ ist ein Roman zum Verlieben und über das Verlieben. Es ist ein Buch über Zufälle, Überraschungen und über unerwartete Begegnungen – nicht nur mit Patrick Modiano. Antoine Laurain hat eine fast schon märchenhafte Geschichte geschrieben, die schmeichelt, Glücksgefühle erzeugt und grosse Lust auf einen romantischen Streifzug durch Pariser Buchhandlungen macht.

Durchgelesen – „Unterwerfung“ v. Michel Houellebecq

Natürlich ist dieser Roman seit geraumer Zeit in aller Munde. Es gibt zahlreiche und vor allem unterschiedlichste Reaktionen in den Medien. Inzwischen ist der Roman nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland zum sogenannten Bestseller aufgestiegen. Doch wie das Wort schon sagt, ist der Bestseller mit Betonung auf „Seller“, das meist verkaufte und nicht unbedingt das meist gelesene Buch. Ob das nun wirklich zutrifft, lässt sich nur mit einem Fragezeichen beantworten. Denn versucht man das neue Werk Houellebecqs vollkommen abstrakt von den letzten Ereignissen in Frankreich als Roman bewusst zu lesen, bedarf es nicht nur einer gewissen intensiven und sehr aufmerksamen Lektüre dieses neuen Werks, sondern auch einer nicht ganz unwichtigen Kenntnis, aber vor allem einem grossen Interesse an französischer Polit-Soziologie und an französischer Literatur im Allgemeinen und im Besonderen der des 19. Jahrhunderts!

Michel Houellebecq, geboren 1956 auf La Réunion, ist ein französischer Schriftsteller, Essayist, Dichter und Romancier. Er gehört seit den 90ziger Jahren in der ganzen Welt zu den am meisten übersetzten Autoren Frankreichs. Er ist aber auch noch Sänger, Schauspieler und Regisseur. 2014 kam sein Film „L’Enlèvement de Michel Houellebecq“ („Die Entführung des Michel Houellebecq“) heraus, der auch auf Arte gezeigt wurde. Zu seinen wichtigsten Romanen zählen die „Ausweitung der Kampfzone“, „Elementarteilchen“, „Plattform“ und „Karte und Gebiet“, für den Houellebecq 2010 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Aktuell ist nun – dank der Übersetzung von Norma Cassau und Bernd Wilczek – sein neuer Roman „Unterwerfung“ fast zeitgleich in Frankreich und Deutschland erschienen.

Der Roman spielt in Frankreich im Jahre 2022. Der Hauptprotagonist und gleichzeitig auch Ich-Erzähler, François, ist 44 Jahre alt. Er lehrt an der Pariser Universität Literatur des 19. Jahrhunderts und hat seine Dissertation über das Thema „Joris-Karl Huysmans oder Das Ende des Tunnels“ verfasst. Somit ist er nicht nur der Huysmans-Spezialist in wissenschaftlicher Hinsicht, nein Huysmans ist auch der Schriftsteller, der François bereits seit seiner Jugend begleitet und er diesen dadurch über die Jahre hinweg als seinen wahren „Gefährten“ bezeichnen kann. Für den doch eher einsam erscheinenden François hatte die Literatur schon immer eine sehr grosse Bedeutung und sie:

„…vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist, mit allem, was diesen Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Grösse, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiert, erregt oder abstößt.“

Neben seiner Literatur und den Büchern sind Frauen für François ein nicht ganz unwichtiges Thema. Als Universitätsprofessor sitzt er quasi an der Quelle der Jugend, obwohl er junge Leute eigentlich gar nicht wirklich mag. Myriam, eine Studentin, war aber einfach anders. Seine Ex-Freundin wollte er nun unbedingt wiedertreffen, denn der Sex mit ihr hatte doch irgendwie nachhaltig positive Spuren bei ihm hinterlassen. Doch Myriam entschloss sich – auch durch ihre Eltern forciert – Frankreich in Richtung Israel zu verlassen. Für François war dies überhaupt kein Thema und somit musste er sich früher oder später mit der Trennung von Myriam abfinden.

François leidet schwer durch seine nicht wirklich lebensbedrohlichen Krankheiten, aber vor allem wegen seiner Einsamkeit nicht nur durch die fehlende Liebe zu einer Frau, insbesondere zu Myriam. Nein, auch seine Eltern hat er bereits über Jahre nicht gesehen. Als er erfährt, dass sein Vater stirbt, bevor er jemals nochmal mit ihm sprechen konnte, wird er bereits nachdenklich. Doch spätestens durch die administrative Mitteilung über die Beerdigung seiner Mutter auf der Armen-Parzelle des Friedhofs bekommt das Wort „Erbärmlichkeit“ eine andere Bedeutung. François fährt in den Ort „Rocamadour“ im Südwesten von Frankreich und spürt zum ersten Mal den Verlust seiner spirituellen Gefühle nachdem er in der Kirche vor der „Schwarzen Madonna“ gebetet hatte.

Die politische Situation in Frankreich war bereits vor seiner Reise ziemlich angespannt und François hat die Entwicklungen, obwohl er eigentlich politisch gar nicht so interessiert ist und die Literatur für ihn den weitaus höheren Stellenwert hat, trotzdem genauestens verfolgt. Die Regierung von François Hollande nach einer zweiten Amtszeit ab 2017 ist nun abgewählt und der neue Präsident der Französischen Republik heisst Mohammed Ben Abbes. Er kommt von der berühmten Fakultät ENA und hat über Mandela promoviert. Die Regierung besteht nun aus einer Koalition von Mitte-Rechts-Bündnis und der Muslimbruderschaft. Durch den neuen Präsidenten bekommt nun der Islam eine neue und andere Bedeutung in Frankreich und besonders innerhalb der französischen Gesellschaft, so dass die Universität ab sofort nur noch von einem Dekan geleitet werden kann, der sich zum muslimischen Glauben bekennt. Das gleiche gilt natürlich auch für das Lehrpersonal, die Professoren. Somit stellt sich nun die Frage, ob François seine bereits von der neuen Leitung der Universität Paris vorgeschlagene erstaunlich hohe Pension trotz des noch jugendlichen Rentenalters in Anspruch nehmen wird, oder ob er doch zum Islam konvertiert, um seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen zu können. Doch in wie weit bei dieser Entscheidung sein langjähriger literarischer Weggefährte Joris-Karl Huysmans hilfreich sein kann, lässt sich nicht so einfach auf den Punkt bringen…!

„Unterwerfung“ ist auf ersten Blick sicherlich ein politischer Roman, ein echter Polit-Science-Fiction. Gleichzeitig präsentiert uns Michel Houellebecq aber auch einen durchaus provokant zynischen Entwicklungsroman, der sowohl die französischen Politiker, als auch die französische Gesellschaft durchaus in gewisse Bedrängnis bringen könnte. Doch nicht vergessen sollte man auf jeden Fall, dass dieses Werk auf geradezu taktisch durchdacht angelegte Weise auch eine Art französische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist, allen voran mit Joris-Karl Huysmans. Diesen bemerkenswerten Schriftsteller kennen wir bereits durch sein kleines feines Oeuvre „Monsieur Bougran in Pension“. Der Ich-Erzähler in Houellebecqs neuem Roman „Unterwerfung“ ist genauso wie André Breton begeistert von Huysmans:

„Er ist selbstlos, er lässt dem Leser einen Vorsprung, lädt ihn ein, sich im Voraus über den Autor zu mokieren, über die Exzesse seiner greinenden, grauenhaften oder komischen Beschreibungen.“

Mit dem Blick auf Huysmans öffnet der Roman nicht nur politisch visionäre Türen, er öffnet auch Türen zu einer Literatur, die vielleicht einigen Lesern – vor allem deutschsprachigen – doch im ersten Moment eher unbekannt erscheinen mag. Aber gerade wegen dieser brillant konstruierten Verbindung zwischen Literatur, Politik, Religion und Gesellschaft, wird dieses Buch zu einem anspruchsvollen und intellektuellen Polit-Sozio-Thriller, der sich letztendlich durch die unübersehbare Neutralität des Ich-Erzählers François auszeichnet und dadurch eine ganz eigene Form der „Verantwortlichkeit“ des Schriftstellers gegenüber dem Leser vermittelt.

„Unterwerfung“ ist ein spannender und literarisch ambitionierter Roman, der einen ausgeprägten Wissensdrang in vielerlei Hinsicht provoziert und für ausreichend Gesprächsstoff sorgt. Es ist aber auch ein Buch, das gleichzeitig fordert, empört, irritiert und amüsiert und somit sicherlich einen bleibenden Stellenwert in der Literatur des 21. Jahrhunderts erlangen wird!

Durchgelesen – „Weinhebers Koffer“ v. Michel Bergmann

Die Suche nach einem Geburtstagsgeschenk ist nicht immer ein leichtes Unterfangen, doch wenn plötzlich ein Objekt sich als das potentielle Präsent zu einer vollkommen unerwarteten Entdeckung entpuppt, wird die Neugierde nicht nur bei dem Protagonisten, sondern auch beim Leser geschürt. „Weinhebers Koffer“ ist nicht nur der Titel des neuen Romans von Michel Bergmann, sondern auch der Ursprung eines besonderen Geheimnisses.

Michel Bergmann, geboren 1945 als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge in der Schweiz, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Paris und in Frankfurt am Main. Nach der Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau arbeitete Bergmann als freier Journalist, wechselte aber später in die Filmbranche und ist inzwischen als Regisseur, Filmproduzent und insbesondere als Drehbuchschreiber – unter anderem für die Serien „Polizeiruf 110“ und „Unter Verdacht“ – tätig. Sein erster Roman „Die Teilacher“ erschien 2010 und war so erfolgreich, dass er sogar 2013 verfilmt wurde. Nach verschiedenen Romanen und Erzählungen erscheint nun ganz aktuell sein neuer Roman „Weinhebers Koffer“!

Die Rahmengeschichte spielt in Berlin. Die Hauptfigur ist der Journalist und Filmemacher Elias Ehrenwerth, der wie bereits eingangs kurz erwähnt ein passendes Geschenk für seine Freundin Lisa Winter sucht. In einer Art Trödelgeschäft stöbert Ehrenwerth nach dem richtigen Präsent, entdeckt viel Unbrauchbares, Überflüssiges und Altes. Dabei wird er fündig: ein Lederkoffer mit unglaublich vielen Aufklebern, die subtil und diskret die grossen „Reiseerfahrungen“ dieses Gepäckstückes erzählten. Doch das Besondere an dem Koffer waren vor allem die imprägnierten Initialen L.W.! Ganz klar für Ehrenwerth, das würde perfekt zu Lisa Winter passen und somit kauft er dieses Fundstück.

Bei sich zu Hause öffnet Ehrenwerth den Koffer und findet zu seiner Überraschung eine alte Visitenkarte von einem besagten Dr. phil. Leonard Weinheber, wohnhaft Viktoria-Louise-Platz 14 in Berlin-Wilmersdorf. Ab diesem Zeitpunkt war die Entscheidung getroffen, der Koffer konnte erst als Geschenk eingesetzt werden, wenn Ehrenwerth herausgefunden hätte, wer dieser Leonard Weinheber wirklich war.

Elias Ehrenwerth macht sich auf den Weg an die auf der Visitenkarte angegebene Adresse und erfährt, dass es sich bei Weinheber um einen Schriftsteller handelt, der 1939 auf der Flucht vor den Nazis sein geliebtes Deutschland verlassen musste und es keinen anderen Ausweg mehr für ihn gab, als nach Israel zu fliehen. Ehrenwerth forscht intensiv nach, woher denn nun dieser Koffer als letztes kam und wird über mehrere Ecken einen ersten Anhaltspunkt in Israel finden. Er reist in das Land, das vielleicht der letzte Lebensmittelpunkt von Weinheber sein konnte bzw. auch sein sollte. In Israel trifft er auf den Grossvater (Araber) des Trödelhändlers in Berlin, der diesen Koffer seinem Enkel für seine Reise nach Deutschland mitgegeben hatte. Der alte Mann ist äusserst hilfsbereit. Er entdeckte den Koffer am Hafenkai von Jaffa, wo er früher gearbeitet hatte. Da der Koffer nie vom dortigen Fundbüro von seinem rechtmässigen Besitzer abgeholt wurde, durfte er diesen mit nach Hause nehmen. Der alte Mann passte gut auf den Inhalt auf, die Kleidung trug er ganz vorsichtig und die Dokumente, wie Briefe von Weinhebers grosser Liebe, aber auch ein Buchmanuskript wurden sorgfältig aufgehoben. Elias Ehrenwerth freute sich sehr, dass er nun diese interessanten Papiere gefunden hatte und dadurch hoffentlich dem mysteriösen Geheimnis um Weinhebers Koffer und der damit verknüpften dramatischen Lebensgeschichte endlich auf die Spur kam…

Der Roman hat zwar nur 140 Seiten, enthält aber so viele Geschichten, Erfahrungen, Eindrücke, Emotionen, als würde man vor einem dicken Schmöker sitzen, der einen von der ersten bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt. Michel Bergmann hat eine besondere Gabe, die sicherlich auch seinem Erfolg als Drehbuchschreiber zuzuordnen ist: er kann in verschiedenen Ebenen, Sprachstilen und äusserst pointierten Dialogen schreiben. Selten wird man ein Werk finden, das so unaufgeregt und fliessend zwischen einer journalistisch lockeren Feder und einer wahrlich elegant literarischen Erzählkunst wechselt. Dadurch wird die Rahmenhandlung in Berlin zu einem amüsant, provokativen Feuerwerk und die eingebettete und eher düstere Geschichte um Leonard Weinheber zu einer sehr emotionalen, aber historisch nicht unwichtigen Recherche, die das Thema Vertreibung aus der Heimat gepaart mit Trauer und Sehnsucht sehr gut darstellt.

„Weinhebers Koffer“ ist ein ganz besonderer Roman. Er beschäftigt sich so raffiniert und prägnant mit der traurigen Vergangenheit, die beim Leser durch diesen eigentlich so banalen Koffer eine so unersättliche Neugierde auslöst, dass wir an dem Text wirklich vom ersten Moment an wahrlich festkleben und unbedingt alles über Leonard Weinheber wissen wollen. Michel Bergmann gelingt es, ein schwieriges Thema der Geschichte spielerisch, aber trotzdem sehr ernsthaft wieder in Erinnerung zu bringen. Der Roman unterhält auf wunderbar intellektuelle Weise, amüsiert uns in mancherlei Hinsicht und lässt uns aber auch gleichzeitig nachdenklich und vor allem sehr nachhaltig berührt am Ende zurück.

Dieses Buch ist erhältlich in der Deutschen Buchhandlung Paris!