Durchgelesen – „Als ich ihr Balzac vorlas“ v. Rachid Benzine

„Seit gut sechzig Jahren hänge ich an Büchern“ erklärt der Ich-Erzähler, denn sein Vater arbeitete in einer Papierfabrik. „Jeden Tag brachte er Bücher, Zeitschriften, Zeitungen mit nach Hause. So viel er tragen konnte. Wir nutzten sie für alles: zum Heizen, Fenster-Abdichten, wir klemmten sie unter wackelnde Möbel, verwendeten sie als Toilettenpapier und eben als Windeln für die Kleinsten. Und manchmal lasen wir sie sogar.“

Der Ich-Erzähler stammt wie der Autor aus Marokko. Rachid Benzine ist ein angesehener Politologe und Historiker. „Als ich ihr Balzac vorlas. Die Geschichte meiner Mutter“ („Ainsi parlait ma mère“ 2020) ist sein erster Roman, der vor genau zwei Jahren ( 2021) in hervorragend deutscher Übersetzung (Andreas Jandl) erschienen ist.

Der Roman spielt in Belgien. Der Ich-Erzähler lebt bei seiner betagten Mutter, um die er sich seit über 15 Jahren neben ausgewiesenen Pflegefachkräften ganz persönlich als jüngster von fünf Söhnen kümmert. Die Familie immigrierte 1950. Der Ich-Erzähler ist Single und Professor für Literatur an der Universität von Louvain. Er bereichert das Leben seiner Mutter, in dem er ihr regelmässig aus ihrem Lieblingsbuch vorliest: „Das Chagrinleder“ („La peau de Chagrin“) von Honoré de Balzac.

„Das Chagrinleder“ ist ein Roman, der fantastische und realistische Merkmale vereint und mit seinem Hauptprotagonisten, der zum Selbstmord entschlossen ist, zeigt, wie er mit Hilfe eines magischen Chagrinleders seine Wünsche erfüllen kann, dabei aber gleichzeitig die Verkürzung seines Lebens in Kauf nehmen muss.

Der Ich-Erzähler ist jedes Mal überrascht, wie wichtig seiner Mutter dieses Buch von Balzac ist. Seine Mutter ist Analphabetin und hatte sich nur mühevoll bestimmte Wörter und Sätze mit Zeitschriften, Hörkassetten, Fernsehshows angeeignet und auswendig gelernt. Unabhängig davon hatte sie einen so starken Akzent, dass sich der Ich-Erzähler oft für die „französische Sprache“ seiner Mutter schämte. Sie liebte französische Chansons von France Gall, Charles Aznavour, Sascha Distel, zu dessen Konzert der Ich-Erzähler seine Mutter zu ihrem 50. Geburtstag begleiten durfte; ein unvergesslicher Abend für Beide.

In verschiedenen Rückblicken lernen wir diese besonders herzenswarme Frau kennen, die ihre Kinder – nachdem der Vater sehr früh verstorben war – mit einem Hungerlohn als Zugehfrau durchbrachte und lernen musste, wegen ihrer Krankheit Hilfe anzunehmen.

Dieser feine kleine Roman ist in Wirklichkeit ein ganz Grosser. Er verknüpft elegant eine Integrations- und Immigrationsgeschichte mit Analphabetismus und den Problemen zwischen Eltern und Kindern. Humorvoll, sensibel, aber auch mit einer gewissen Bitterkeit wird hier der Wunsch nach einem langen Leben, aber auch die Angst vor dem Tod in Worte gezeichnet. Dank Rachid Benzine durchwandert der Leser eine raffiniert kompakte Zeitreise und streift dabei die Jugend und das Erwachsensein, um am Ende zum Alter mit all seinem Reichtum und seinen Schwächen zu gelangen.

Wer Glück, Trauer, Scham, Mut und Peinlichkeit auf so poetische Weise erleben möchte, muss diese wundervolle Liebeserklärung eines Sohnes an seine Mutter und an die Literatur unbedingt lesen!