„Nimm keinen Rat an, ausser dem, den eigenen Instinkten zu folgen, den eigenen Verstand zu benutzen und zu eigenen Schlussfolgerungen zu kommen.“
Und genau mit diesem einzigen Rat, den Virginia Woolf am Anfang dieses Essays für das Lesen gib, beginnt ein Text über das Lesen und das geschriebene Wort.
Jede vorgefertigte Meinung vor dem Lesen sollte man vermeiden, sich unvoreingenommen auf den Text konzentrieren und sich auf das einlassen, was der Autor dem Leser geben kann.
Lesen ist keine einfache Kunst. Nach Virginia Woolf bedarf es „Wahrnehmungssinn“ und „Einbildungskraft“, um „Nutzen aus all dem zu ziehen, was Ihnen Autoren und Autorinnen, die grosse Künstler sind, anbieten“.
Bei Lebensgeschichten, Biographien und Briefen stellt sich die Frage, ob wir uns als Leser von den Sympathien und Antipathien bezüglich eines Autors beeinflussen lassen sollen oder nicht.
„Die Wirkung von Poesie ist so heftig und unmittelbar, dass es in diesem Augenblick keine andere Empfindung gibt ausser der des Gedichts selbst“ erläutert Virginia Woolf.
Ob Poesie oder Prosa, der Leser wird am Ende ein Urteil über seine Leseeindrücke fällen, nur sollte er damit nicht sofort nach der Lektüre beginnen, sondern Zeit verstreichen lassen: „Warten Sie, bis sich der Staub des Lesens gelegt hat, bis das Widerstreiten und Befragen abgeklungen sind;…“
Denn erst dann können wir Bücher miteinander vergleichen, was aber laut Virginia Woolf bedeutet, dass wir eine andere Beziehung zum Autor einnehmen. Statt Freundschaft spricht sie hier vom Leser als Richter, der ein klares strenges Urteil fällen sollte und „…lassen Sie uns jedes Buch mit dem Besten seiner Art vergleichen“.
Vielleicht für viele Leser überraschend, gerade im Hinblick auf die unterschiedlichsten Arten von Literatur, dass – nach Virginia Woolf – „die Literatur eine sehr komplexe Kunstform ist und wir wahrscheinlich auch nach lebenslanger Lektüre nicht imstande sein werden, irgendeinen kritisch wertvollen Beitrag leisten zu können.“
Wir wollen hier keinen kritisch wertvollen Beitrag leisten und wir verwandeln uns nicht vom Leser zum Kritiker. Wir halten es wie Virginia Woolf: „Wir müssen Leser bleiben.“
Zusätzlich wollen wir aber diesen bemerkenswerten Text von Virginia Woolf jeden Leser ans Herz legen, der sich mit dem Phänomen des Lesens auseinandersetzen möchte. Und ganz besonders empfehlen wir dieses Buch von Virginia Woolf – übersetzt von Eric Aichinger – in einer neuen besonders bibliophilen Ausgabe mit den faszinierenden Illustrationen von Ji Hyun Yu.