Durchgeblättert – „Chanson“ v. Olaf Salié

Mitte der 80ziger Jahre entdeckten wir durch verschiedene Umwege Serge Reggiani, der in Deutschland kaum bekannt war. Seine sensible warme Stimme traf ins Herz. Die Interpretation von Ma Liberté“ (Text und Komposition von Georges Moustaki) öffnete unbekannte Türen im Universum des französischen Chansons.

Es gabe Tage, da erklang bereits beim Frühstück per Zufall im deutschen Radio „Sous le ciel de Paris“ mit Edith Piaf und das trockene Hörnchen schmeckte wie ein frisches Croissant. Bei Liebeskummer half am Besten „Ne me quitte pas“ von Jacques Brel. Ja, und um die Wartezeit auf Urlaub zu verkürzen, versetzte uns Charles Trenet mit „La mer“ bereits an den Strand.

Diese nostalgischen Momente kamen und gingen, verlierten sich in den letzten Jahren, da das Pariser Leben und die französischen Chansons inzwischen zum Alltag gehören. Und plötzlich werden all diese Erinnerungen wieder wach dank Olaf Salié und seinem äusserst elegant wissenswerten Text- und Bildband „Chanson“.

Olaf Salié kennt Frankreich, Paris, liebt die französische Kultur und das französische Chanson. Er war lange Zeit Chefredakteur eines Kölner Wissenschaftsverlages und lebt inzwischen in Berlin.

Leidenschaft, Melancholie und Lebensfreude aus Frankreich, das ist der Untertitel dieses sehr informativen und schön gestalteten Werkes. Dass das Chanson in Frankreich zu einem Kulturgut, gehört steht wohl ausser Frage. Dass es auch eine Art Schutz von Seiten des Staates geniesst, ist vielleicht ausserhalb von Frankreich unbekannt. Durch ein Gesetz wird dafür gesorgt, dass 40 Prozent der im französischen Radio gesendeten Lieder auch wirklich original französischer Herkunft sein müssen. All dies und vieles mehr erfährt der Leser in der Einleitung dieses Buches. Die geschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge, die auch das Chanson massgeblich beeinflusst haben, werden durch das sehr gut ausgewählte historische Bildmaterial anschaulich erläutert. Auch die Bedeutung der französischen Literatur wird nicht vernachlässigt. Ganz im Gegenteil, denn Einige der berühmten Dichter und Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Jacques Prévert, Louis Aragon oder Jean-Paul Sartre waren die Urheber sehr bekannter Chansontexte.

Wir blättern beispielsweise durch die Biographien von Maurice Chevalier, Yves Montand, Charles Aznavour, Georges Moustaki, Gilbert Bécaud. Tauchen ein in das Leben von Juliette Gréco, Barbara, Georges Brassens, Jacques Brel. Lernen auch Léo Ferré genauer kennen, der zu den poetischten Chansonniers gehört. Und machen dann einen Sprung von den sechziger Jahren u.a. mit Jonny Hallyday, Serge Gainsbourg zu den Frauen der siebziger Jahre wie Jane Birkin, France Gall. Am Ende dieses aussergewöhnlichen musikalischen Parcours gibt es noch Einblicke in den Übergang vom klassischen Chanson zum sogenannten „Nouvelle Chanson“, wo natürlich Carla Bruni, Patrick Bruel und ZAZ nicht fehlen dürfen.

Die Porträts dieser Chansonniers/Chansonnières sowohl in Text als auch im Bild machen nicht nur neugierig, mehr darüber zu erfahren. Sie machen vor allem Lust, endlich wieder die alten CDs auszupacken und sich mit diesen lyrischen Hymnen dem Leben und der Liebe zu widmen. Dieses wundervolle Buch von Olaf Salié ist eine grossartige Hommage an das französische Chanson. Ein Buch, das in jeder Lebenssituation Wissen, Genuss und Trost spendet durch eine der poetischsten Formen der Musik, die selbst die Einsamkeit mit „Ma solitude“ von Georges Moustaki in ein Glücksgefühl verwandelt!

Durchgelesen – „Die Zartheit der Stühle“ v. Jürg Beeler

Die „Zartheit zwischen zwei Menschen ist nichts anderes als das Bewusstsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen“ hatte bereits Theodor W. Adorno in seinem Werk „Minima Moralia“ definiert. Vielleicht kann die Strahlkraft dieses Adorno-Zitats durch den gerade aktuell erschienen Roman „Die Zartheit der Stühle“ von Jürg Beeler bestätigt werden.

Jürg Beeler, in Zürich geboren, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Er lebt und schreibt sowohl in Südfrankreich als auch in der Schweiz. Vielfach ausgezeichnet hat er zwei Gedichtbände und inzwischen sieben Romane veröffentlicht.

Matteo, die Hauptfigur in Beelers neuen Roman, ist ein ehemaliger Clown, Pantomime und Schauspieler. Aufgewachsen in einem Bündner Dorf, lädt er den Leser ein in sein Leben zwischen Schweigen, Beobachten, Sprechen, Lieben und Trauern.

Zuhause im Alltag ist Matteo eher schweigsam, nur auf der Bühne, lernte er später als Schauspieler mit der Sprache und den Worten zu spielen. Insbesondere bei Shakespeares Hamlet oder King Lear war er dank seines aussergewöhnliches Gedächtnisses in seinem Element. Doch dann passiert etwas, vor dem sich wirklich jeder Schauspieler in seinem Bühnenleben fürchtet. Er hatte seinen Text verloren, eine Gedächtnislücke, die selbst mit Hilfe der Souffleuse nicht mehr geschlossen werden konnte. Es passierte genau in der dritten Vorstellung nach dem Begräbnis seiner langjährigen Lebenspartnerin Zofia.

Zofia war für Matteo eine elegante Polin, die in seinen Augen zu den Frauen gehörte, die am Besten zuhören konnten. Nun war sie tot und Matteo zieht sich von der Bühne zurück:

„Vom Rampenlicht trat ich in ein Dunkel hinaus.“

Er flieht von Berlin nach Lerone, einer kleinen süditalienischen Stadt. Vor dreissig Jahren kam Matteo an diesen Ort, lernte dort per Zufall seinen inzwischen guten Freund Ettore kennen, der ihn als Anwalt dabei unterstützte, eine passende Wohnung zu kaufen. Lerone sollte ihm helfen, den Verlust von Zofia zu verarbeiten. Sie hatten gemeinsam hier viele intensive Momente verbracht, oft auch jeder für sich. Matteo auf seinem Lieblingsplatz der Piazza d’Oriente.

Und genau auf diesem Platz begegnet ihm jetzt nach seiner Flucht eine fremde Frau, die ihn anspricht. Sie nennt sich Vera, sie kam von Montréal nach Paris und sucht hier in Lerone Ruhe für ihre Komposition. Sie kommen ins Gespräch. Und dann steht Vera plötzlich vor seiner Wohnungstür. Sie bleibt ein paar Tage und dann ist sie wieder weg, worüber Matteo sich fast schon freute:

„Ich war gerne mit mir allein, wenigstens wusste ich, was ich an mir hatte.“

So ganz allein war Matteo jedoch auch in Lerone nie, denn Zofia war immer bei ihm. Er spürte gerade in Lerone ihre fünfzehnjährige Verbindung, aber auch die Probleme, die sie zusammen hatten. Sie zogen nach Berlin, nach dem sie sich in Paris bei einer Veranstaltung kennenlernten. Zofia war Musikerin, Pianistin, Cembalistin. In Matteos Augen war es ein grosser Fehler gewesen, gemeinsam nach Berlin zu gehen. Sie lebten jedoch in getrennten Wohnungen. Vielleicht war er es genau dies, was die Liebe so komplex gestaltete. Er hatte sich während ihrer Krankheit zu wenig um sie gekümmert und letztendlich, nachdem sie keine weitere Behandlung mehr wollte und mit ihrem Leben abschloss, hatte sie sich von ihm getrennt.

Matteo versuchte mit ihrem Tod umzugehen, sein schlechtes Gewissen zu analysieren und neuen Mut zu fassen, um Vera genauer zu verstehen. Irgendwie spürte er, dass Vera nicht zufällig in Lerone war und seine Nähe suchte…

All die Beziehungen, die Matteo in seinem Leben hatte, mit Zofia, mit Vera, waren, wenn man an das Zitat von Adorno denkt, vollkommen zweckfrei. Eines ist sicher, Matteo ist ein Mensch, der intensiv lebt und gelebt hat. Dabei von der Vergangenheit immer wieder eingeholt wurde, die Gegenwart aber nicht ignorierte und behutsam in eine noch ungewisse Zukunft blickte.

Selten wird in der Gegenwartsliteratur mit soviel Feingefühl, ja mit so einer unglaublichen Zartheit das Leben, Leiden und Lieben eines Mannes und zweier Frauen aufgezeichnet. Matteo teilt neben Zofia und Vera seine Gedanken, Gefühle, Sorgen und Wünsche ganz vorsichtig mit dem Leser, ohne ihn dabei zu überfordern. Natürlich wirkt er dabei oft verletzlich und ein wenig hilflos, denn auch Matteo stürzt ab und versucht sich zurück zu kämpfen.

Jürg Beeler ist ein Sprachkünstler und Wort-Jongleur. Der Leser spürt den Dichter, den Lyriker und freut sich bei jeder Zeile, wie die Sätze durch ihre Eleganz und ihre Musikalität die sensible Lebens-Dramatik ohne jeglichen Kitsch in eine sehr anrührende und vielschichtige Liebesgeschichte verzaubern. Matteo lernt seine Schmerzen zu ertragen und dem Leben eine neue Ordnung zu geben, die in dieser so besonderen sprachlichen Atmosphäre zwischen achtsamer Melancholie und romantischer Heiterkeit eine unerwartete Sorgwirkung auslöst, der sich der Leser nicht entziehen kann.

„Die Zartheit der Stühle“ ist ein grandioses Buch. Ein sanfter und starker Roman zugleich, der in diesem Literatur-Frühling zu den wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen zählt. Ein wahres literarisches Bijou, dem wir ein grosses Lesepublikum und einen hoch verdienten Buchpreis wünschen.