« Unsere Zeit ist so aufregend, dass man die Menschen eigentlich nur noch mit Langeweile schockieren kann. »
Monat / Dezember 2014
Durchgeblättert – „HIER“ v. Richard McGuire
Bereits vor 25 Jahren hat Richard McGuire (geboren 1957 in New Jersey) die Urfassung für diese Graphic Novel geschaffen. 1989 erschien „Here“ zum ersten Mal als eine sechsseitige schwarz-weiss Comicerzählung in dem legendären RAW-Magazin, das von Art Spiegelman gegründet wurde. Richard McGuire arbeitet als Coverillustrator für verschiedene Zeitungen und Magazine wie zum Beispiel The New Yorker, The New York Times, Libération und Le Monde. Er ist aber auch als Graphikdesigner, Comic-Artist, Kinderbuchautor und Musiker tätig – er war Gründungsmitglied und Bassist der berühmten Postpunk-Band Liquid Liquid. 2010 hat McGuire angekündigt, seinen ursprünglich sechsseitigen Comic als grosse farbige Version auszubauen. Und jetzt ganz aktuell liegt nun dieses faszinierende neue Wunder-Werk „HIER“ auch in einer deutschen Ausgabe vor unseren Augen, bei dem wir nun 300-Seiten lang nicht nur eine ganz neue „Lebensform“, sondern auch eine vollkommen neue „Leseform“ entdecken können!
Die „Story“ spielt hauptsächlich in einem Zimmer (links ein Fenster, rechts ein Kamin) mit dem Blick auf eine Ecke gerichtet. Der Ort bleibt fast immer der Gleiche, nur die Zeit wechselt von Seite zu Seite. Bereits in den ersten zehn Seiten springen wir von 2014 auf 1942, zu 2007 auf 1957, zurück nach 1623, vor bis 1955 und 1989 und landen letztendlich kurz im Jahr 8000 v. Chr. und arbeiten uns wieder auf 1000 Jahre v. Chr. vor. Und so weiter… Wir beobachten verschiedene Situationen, spielende Kinder, diskutierende Erwachsene, Landschaften und Häuser. Manche Bilder bieten mehrere Zeitzonen, so da dass wir von einer Vor-und Rückschau gleichzeitig eingenommen werden. Wir sehen auf einem Blick, was gestern passiert ist und morgen passieren wird.
„HIER“ ist kein klassischer Comic, man „liest“ im gesamten Bild, das die jeweilige Doppelseite des Buches ausfüllt. Der Leser kann aber zusätzlich in vielen dieser Bilder auch noch die eingefügten Vor- und Rückblendungen in eigenen Bilder-Kästen miterleben. Die meist dargestellten Personen kommunizieren durch ihre Sprechblasen. Somit entsteht in vielen Bildsequenzen eine Art überlappende Erzählsituation, die durch den Hauptrahmen des Zimmers seine Basis und auch eine gewisse visuelle Sicherheit erhält.
Richard McGuire präsentiert mit seiner mehr als aussergewöhnlichen Graphic Novel eine ganz neue und andere Erzähldimension, die wir bis jetzt noch nie so erleben durften. „HIER“ ist Erzählung, vielleicht auch Detektivstory, aber vor allem auch eine Art Meditation über die Unbeständigkeit des Lebens. Wir glauben im jetzt zu denken, spüren jedoch parallel den Einfluss der Vergangenheit und versuchen uns gleichzeitig auch noch an der Umsetzung der Zukunft. Ja und genau da setzt dieses „Kunst-Werk“ an. Es stellt viele Fragen – gleich zu Beginn – „HM… WAS WOLLTE ICH NOCH GLEICH HIER?“ – und gibt nur wenige oder gar keine Antworten.
„HIER“ ist eine so unglaublich faszinierend rastlose Zeitreise, die den Leser mit so kunstvollen Bildern beschenkt, die teilweise ein wenig an die Maler Edward Hopper und René Magritte erinnern. Doch denkt man beim Erlesen dieser besonderen „Gemälde“ ganz spontan auch an Autoren wie Marcel Proust mit seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“, an Thomas Bernhard und sein „Weltenstück“ oder natürlich auch an H.G. Wells „Zeitmaschine“. Richard McGuire hat mit diesem Buch ein wahres Comic-Wunder geschaffen. Beim ersten Blättern, sei es chronologisch von Seite 1 folgend, oder auch spontan aus der Mitte heraus, fühlt man sich als Leser irgendwie sofort wohl in diesem Zimmer mit dem Fokus auf diese besagte Ecke, die perfekt durch den Bundsteg des Buches definiert wird. Der Leser taucht ein in die so einzigartigen Bilder, bleibt hängen und beginnt fast schon automatisch eine ganz persönliche Reise durch sein Leben, seine Erinnerungen und seine Zukunftsvisionen. Staunen, Träumen und Besinnen könnte nicht schöner und nachhaltiger in diesem Werk vereint werden, deshalb werden Liebhaber besonderer Bücher und Graphic-Novel-Freunde von solch vollendeter Comic-Kunst unendlich begeistert sein!
Jean Genet – Zitat
Den Reiz des Verbotenen kann man nur kosten, wenn man es sofort tut. Morgen ist es vielleicht schon erlaubt.
Heinrich Heine – Gedicht
Sie saßen und tranken am Teetisch
Sie saßen und tranken am Teetisch
und sprachen von Liebe viel.
Die Herren, die waren ästhetisch,
die Damen von zartem Gefühl.
Die Liebe muß sein platonisch,
der dürre Hofrat sprach.
Die Hofrätin lächelt ironisch.
Und dennoch seufzet sie: Ach!
Der Domherr öffnet den Mund weit:
Die Liebe sei nicht zu roh,
sie schadet sonst der Gesundheit.
Das Fräulein lispelt: Wieso?
Die Gräfin spricht wehmütig:
Die Liebe ist eine Passion!
Und präsentieret gütig
die Tasse dem Herren Baron.
Am Tische war noch ein Plätzchen;
mein Liebchen, da hast du gefehlt
Du hättest so hübsch, mein Schätzchen,
von deiner Liebe erzählt.

Durchgelesen – „Zum Zeitvertreib – Vom Lesen und Malen“ v. Winston Churchill
Winston Churchill (1874 – 1965) kennen wir als einen der bedeutendsten britischen Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Er bekleidete mehrere Regierungsämter, war von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955 Premierminister von Grossbritannien. Doch unabhängig von seiner grossen politischen Karriere war Winston Churchill ein überaus erfolgreicher Autor verschiedenster politischer, aber auch historischer Schriften. So dass er 1953 mit dem Literaturnobelpreis „für seine Meisterschaft in der historischen und biographischen Darstellung sowie für die glänzende Redekunst, mit welcher er als Verteidiger von höchsten menschlichen Werten hervortritt“, ausgezeichnet wurde. Somit ist es kaum verwunderlich, dass Churchill nicht nur Autor, sondern auch Leser war. Das Lesen gehörte neben der Malerei zu einer seiner wichtigsten „Freizeitbeschäftigungen“. Nun dürfen wir uns als Leser erfreuen und an diesem doch für ihn so wichtigen „Zeitvertreib“ ein wenig zu partizipieren.
Für Churchill ging es in erster Linie überhaupt erst mal darum, eine Alternative zu seiner politischen Tätigkeit zu finden, denn das wichtigste war:
„Abwechslung ist der Schlüssel schlechthin.“
Es sollte ein Hobby sein, welches zwar anspruchsvoll, aber gleichzeitig auch die politischen Gedanken etwas verdrängen konnte. Und so war es für Churchill ganz klar:
„Die beliebteste Art der Zerstreuung ist das Lesen.“
Das Lesen führte Churchill in vielerlei Hinsicht in eine Art geistige Selbstzufriedenheit, es bereicherte den Wortschatz, vor allem dann, wenn man auch noch neben seiner Muttersprache in einer anderen Sprache richtig lesen konnte. Doch gleichzeitig sollte man es in jungen Jahren nicht mit der Lektüre übertreiben, eher vorsichtig vorgehen und alles mit Bedacht und Muse ausführen.
Doch neben dem Lesen gab es noch einen weiteren sehr wichtigen Aspekt in Bezug auf den „Zeitvertreib“, nämlich die Malerei. Für Churchill war das Malen fast noch mehr „Ablenkung“ als das Lesen.
Dabei ist nicht ganz unwichtig zu wissen, dass Winston Churchill das Malen erst mit 40 Jahren für sich entdeckt hatte und damit in diesem Alter zum ersten Mal einen Pinsel führte. Der Anfang forderte auch so manchen Mut ab, bis er sich traute die weisse Leinwand mit Farbe zu beglücken:
„So ein verwegener Beginn, oder mitten hinein geworfen zu werden, macht bereits einen grossen Teil der Malkunst aus. Ab das ist beileibe nicht alles.
Le peinture à l’huile
Est bien difficile,
Mais c’est beaucoup plus beau
Que la peinture à l’eau.
Es liegt mir fern, Wasserfarben herabsetzen zu wollen. Aber es geht wirklich nichts über Ölfarben. Mit ihnen hat man ein Mittel zur Hand, das wahre Macht verleiht; man muss nur herausfinden, wie man es einsetzt.“
Ja, Churchill war sehr leidenschaftlich vor allem, was das Lesen und sehr produktiv und zielstrebig, was das Malen betrifft, somit ist es nicht überraschend, dass über 500 Gemälde entstanden sind, die teilweise bereits in einigen Ausstellungen präsentiert wurden und inzwischen auch bei Auktionen unerwartet hohe Preise erzielen konnten.
Dieser wunderbare Essay aus der Feder von Winston Churchill ist ein wahrer Lesegenuss. Mit Charme, Intelligenz, aber auch einer gewissen geradlinigen und strategischen Prägnanz zeigt uns Churchill seine Hobbys, seine „Abwechslungen“ – kurzum seinen „Zeitvertreib“! Man spürt bei jeder Zeile die echte Überzeugung hinsichtlich dieser vergnüglichen Tätigkeiten und die daraus resultierenden kaum zu übertreffenden positiven Ergebnisse. Diese Hobbys lenken ab, sie zerstreuen und sie begleiten durch ein nicht ganz einfach zu führendes Leben. Churchill suchte Kraft, er wollte, dass seine nur auf politische Entscheidungen getrimmten Gehirnzellen sich entspannen konnten und wurde – wie bereits viele andere Suchende – beim Malen und Lesen fündig.
Dieses kleine Leinenbüchlein mit gerade mal 60 Seiten ist ein perfekter und mehr als kurzweiliger „Zeitvertreib“ für jeden Menschen. Selbst der Nichtleser und Nichtmaler wird daran seine grosse Freude haben und entweder dabei die Lust am Lesen und Malen entdecken oder sich mit Enthusiasmus auf die Suche nach einer passenden Ablenkung begeben. Winston Churchills „Zeitvertreib“ amüsiert, bereichert und informiert auf so wundervolle Weise, dass man fast geneigt ist, jeden Satz darin unterstreichen zu wollen, viele Zitate am Liebsten auswendig lernen und somit für immer in seiner Seele behalten möchte.
„Zum Zeitvertreib“ ist sicherlich eines der schönsten und intellektuellsten „Geschenkbücher“, welches in den letzten Jahren veröffentlicht wurde, denn jede Zeile von Winston Churchill in diesem Essay ist ein wahres Geschenk!
Donatien Alphonse François Marquis de Sade – Zitat
« Es ist nicht schlimm, wenn man missverstanden wird, schlimm ist es, wenn man verstanden wird. »