Rainer Maria Rilke – Gedicht

Der Leser

Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

Selbst seine Mutter wäre nicht gewiss,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis

er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:

wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.

Durchgelesen – „Die Gierigen“ v. Karine Tuil

Falsche Identität, besessene Liebe, soziale Macht, kompromissloser Erfolg, exzessive Leidenschaft und krankhafter Ehrgeiz bilden neben vielen anderen Themen das Zentrum in diesem herausragenden und äusserst imposanten Gesellschaftsroman von Karine Tuil, der durch seinen Originaltitel „L’invention de nos vies“ (frei übersetzt „Die Erfindung unserer Leben“) den Blick auf die Lebens-Findung bzw. Erfindung noch mehr lenkt, als der deutsche Titel im ersten Moment zu erahnen vermag.

Karine Tuil wurde 1972 geboren und hat Jura studiert und sich auf Medienrecht spezialisiert. Parallel nicht nur neben ihrer Doktorarbeit ist sie als sehr erfolgreiche Schriftstellerin tätig. Inzwischen hat sie neun Romane veröffentlicht. Ihr erster Roman „Pour le pire“ erschien 2000, danach folgten neben Romanen auch ein Theaterstück und verschiedene Kurzgeschichten und Erzählungen. Die ersten Romane zeichneten sich durch ihren komödiantischen Ansatz aus, doch ab 2007 werden die Themen mit ihrem Roman „Douce France“ ernster. Aktuell dürfen wir nun den neunten Roman von Karine Tuil erstmals in deutscher Sprache – dank der fantastischen Übersetzung von Maja Ueberle-Pfaff – mit dem Titel „Die Gierigen“ entdecken. Dieser Roman erschien in Frankreich bereits im Herbst 2013 und stand auf der Auswahlliste für den begehrtesten französischen Literaturpreis – „Prix Goncourt“.

Der Roman spielt teilweise in Paris, hauptsächlich in New York, und ist bei erster Betrachtung wie eine Dreiecksgeschichte aufgebaut, entwickelt sich aber über kurz oder lang zu einem gewaltigen und meisterhaft konstruierten Gesellschaftsroman, der keine sozialen Aspekte auslässt, unterschlägt oder vertuscht. Es gibt drei Personen, die jede für sich allein eine wichtige Rolle in diesem Buch spielen, doch letztendlich ist der eigentliche Hauptprotagonist Samir Tahar. Aufgewachsen in einem Vorort von Paris, Eltern Tunesier, Mutter Schneiderin, Vater Arbeiter (starb nach einer Verhaftung bei einer Vernehmung). Seine Mutter schlägt sich durch und arbeitet bei reichen Leuten im Haushalt, lässt sich auch von einem der reichen Hausherren verführen, wird dabei auch noch schwanger, treibt das Kind jedoch nicht ab und somit bekommt Samir einen Halbbruder.

Samir will raus aus diesem Milieu, strotzt vor fast schon nicht zu bändigendem Ehrgeiz und geht an die Pariser Universität, um Jura zu studieren. Und da trifft er auf Samuel und Nina. Sie sind ein Paar und die zwei weiteren Hauptpersonen dieser unglaublich vielschichtigen Story. Samuel ist der Sohn intellektueller ultra-orthodoxer Juden und träumt von einer Schriftstellerkarriere, die bis jetzt nicht die geringsten Anzeichen erkennen lässt. Nina ist eine unglaublich schöne junge Frau, die sich jedoch für wenig interessieren und engagieren kann und mehr von Tag zu Tag lebt.

Die Freundschaft der Dreien endete nach langem hin und her aufgrund der Affäre zwischen Nina und Samir. Für Samir gab es dann nur ein Ziel, seine Karriere so schnell und gut wie möglich voranzutreiben. Nach erfolgreichen Studienabschlüssen verlässt er Frankreich. Heute ist Samir ein gefeierter Staranwalt in New York, kauft nur noch massgeschneiderte Anzüge, verkehrt in Edelrestaurants und ist mir Ruth Berg – die Mutter seiner zwei Kinder – , einer attraktiven, hoch intelligenten Frau verheiratet, die aus einer der reichsten und einflussstärksten jüdischen Familien Amerikas stammt und die Tochter von Rahm Berg ist. Samir ist durch diese eheliche Verbindung natürlich auch Teil der amerikanischen Elite. Er hätte es nie soweit nach oben geschafft, wenn er nicht bereits vor dem beruflichen Start in den USA seinen Namen den Umständen entsprechend anpasste und sich ab diesem Zeitpunkt Sam Tahar nannte. Er versuchte mit diesem einfachen aber doch sehr wirksamen Schachzug endlich den rassistischen und somit auch karrierefeindlichen Problemen auszuweichen. Den Araber Samir gab es dadurch nicht mehr, sondern nur noch den Juden Sam, denn jeder dachte, das dies die Abkürzung für Samuel war.

Nach zwanzig Jahren sehen nun Samuel und Nina per Zufall im Fernsehen auf dem Sender CNN einen Bericht über Sam Tahar. Und ganz schnell wird Samuel bewusst, dass Samir durch eine geklaute Identität mehr als Erfolg in seinem Leben hat, vom Geld und Ansehen ganz zu schweigen. Samuel dagegen hatte bis jetzt nicht im Ansatz das erreicht, von dem er immer geträumt hatte. Nina und er beschliessen, dass sie diesem Täuschungsmanöver von Samir unbedingt auf die Spur gehen sollten, ja sich sogar rächen wollten und nehmen mit Samir Kontakt auf. Samuel verfolgt gleichzeitig noch einen für ihn zusätzlich sehr wichtigen Test, um endlich herauszufinden, ob seine Freundin Samir immer noch liebt. Es dauert nicht lange und Samir fliegt nach Paris, um Nina und damit auch Samuel zu treffen und spätestens da wird Samir mit seiner erfundenen Identität konfrontiert. Samuel versucht Klartext zu sprechen:

„Du musst mir nichts erklären. Du hast Teile meiner Vergangenheit geklaut und dir daraus eine Biographie zusammengebastelt! Du hast meine Lebensgeschichte geplündert, um deine auszuschmücken. Das ist pervers! Wie konntest du so was nur tun?“

Ab diesem Treffpunkt wird nicht nur das Leben, die Gefühle und die Erwartungen von Samuel und Nina komplett auf den Kopf gestellt, sondern vor allem die Daseinsberechtigung von Samirs Identität einer extremen existentiellen Prüfung unterzogen. Samir hat nämlich nicht nur seinen ehemaligen Freund hinters Licht geführt, sondern er hat alle angelogen, seine Frau, seine Kinder, seinen Schwiegervater und seinen früheren Mentor in Paris. Alle Menschen, mit denen er bis jetzt konfrontiert war, halten ihn für einen beruflich extrem erfolgreichen jüdischen Anwalt, treuen Ehemann und liebevollen Vater. Samir ist jedoch Araber, gibt sich überall als Jude aus, ist karrierebesessen und sexsüchtig. Er betrügt seit Jahren Ruth mit anderen Frauen. Hat sich sogar ein kleines Appartement in der Nähe seiner New Yorker Kanzlei gemietet, um seine Sucht nach hauptsächlich körperlicher Liebe problemlos – zumindest nach Aussen hin – schnell und unkompliziert ausleben zu können.

Die Geschichte nimmt eine mehr und mehr dramatische Wendung an. Nina trennt sich von Samuel und lässt sich von Samir in die USA einladen, er hält sie quasi als Zweitfrau und dann taucht auch noch sein ungeliebter Halbbruder auf, der seine „Unterstützung“ benötigt. Die Situation kippt vollkommen und die Tragödie setzt sich mit hoch brisanten sozialen und „politischen“ Verwicklungen fort…

„Die Gierigen“ ist ein Buch für Leser, die im wahrsten Sinne des Wortes gierig nach dieser Art von Gesellschaftsroman sind und sollte dies noch nicht der Fall sein, es spätestens nach den ersten Seiten auch sein werden. Diese Story erschüttert und erstaunt, während sich aber gleichzeitig auch irgendwie Mitleid einstellt für diese drei Protagonisten, die Karine Tuil in meisterlicher Weise so pointiert charakterisiert, porträtiert und damit zu echtem Leben erweckt. Die Geschichte ist unendlich komplex, mehr als intensiv und genau deshalb wahnsinnig fesselnd.

Dieses Gesellschaftsdrama bringt Migrationsprobleme zu Tage, wirft Fragen über Benachteiligung auf, geht ausgehend von Lügen hinsichtlich der Rettung und der Befreiung von gesellschaftlichen und persönlichen Zwängen über in die Angst der Offenlegung und der Ehrlichkeit sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber. Dieses Buch zeichnet sich durch eine extrem starke Wirksamkeit und Klugheit aus, die nicht im Geringsten verwundern lassen, dass dieses Werk auf der Auswahlliste für den französischen Literaturpreis „Prix Goncourt“ platziert war.

Karine Tuil ist eine begnadete Schriftstellerin, die mit ihrem unglaublich rasanten Stil den Leser packt. Sie schreibt markant, zackig und unterstreicht dies mit raffiniert eingesetzten Techniken, wie beispielsweise die Aneinanderreihung von Wörtern mit Slash- Zeichen(„/“), statt klassisch das Komma zu verwenden. Folglich wird dadurch die Beschreibung der Situation oder der Person noch klarer und bestechender, was die Sogkraft dieses Romans weiterhin steigert. Trotz dieser unerschütterlichen Direktheit und unübertreffbaren Prägnanz, gelingt es Karine Tuil bravourös dieser irrsinnigen Geschichte eine unglaublich betörende Eleganz und äusserst kraftvolle Sensibilität zu verleihen.

„Die Gierigen“, ist ein unvergängliches und vor allem unvergessliches Werk: spannend wie ein Thriller, aufklärend wie eine Gesellschaftsreportage und leidenschaftlich wie eine Liebesgeschichte. Ein Roman, der einen aufwühlt, berührt und verführt und dadurch sicher zu einem der besten Bücher dieses Literaturherbstes in Deutschland avanciert. Mehr als empfehlenswert!!

Durchgeblättert – „Dicht am Paradies – Spaziergänge durch Pariser Parks und Gärten“ v. Rainer Moritz

Es gibt Menschen, die behaupten doch tatsächlich, Paris wäre keine wirklich grüne Stadt. Bei der intensiven Studie eines klassischen Reiseführers stellt man jedoch sehr schnell fest, dass es in Paris mehr als 400 Gärten und Parks gibt. Und spätestens durch die beglückende Lektüre dieses neuen prachtvollen Bild- und Textbandes mit dem geradezu verführerischen Titel „Dicht am Paradies“ tauchen wir richtig ein in die mehr als grünen „Welten“ dieser berauschenden Stadt.

Rainer Moritz, geboren 1958 in Heilbronn, studierte Germanistik, Philosophie und Romanistik in Tübingen und promovierte über Hermann Lenz. Ab 1989 arbeitete er in verschiedenen Verlagen, unter anderem als Cheflektor beim Reclam Verlag und als Programmgeschäftsführer bei Hoffmann und Campe. Seit 2005 leitet Rainer Moritz das Literaturhaus in Hamburg. Wir kennen ihn bereits durch sein grandioses Werk „Die schönsten Buchhandlungen Europas“. Aktuell dürfen wir uns sehr über den gerade neu erschienen Bild- und Textband „Dicht am Paradies – Spaziergänge durch Pariser Parks und Gärten“ erfreuen. Begleitet wurde Rainer Moritz bei der Entstehung dieses Buches durch den Diplom-Fotodesigner Andreas Licht. Seit 1999 ist Andreas Licht Mitglied in der „Deutschen Gesellschaft für Photographie“. Er lebt in Paris und arbeitet für europäische und asiatische Magazine mit den Schwerpunkten Reportage, Porträts und Mode.

In diesem Buch präsentiert uns Rainer Moritz eine sehr persönliche Auswahl. Er lädt uns ein, 27 Gärten, Parks und Squares zu entdecken, die sich über sehr grosse bis unglaublich klein Flächen erstrecken, die als stille Refugien oder als Prachtanlagen fungieren und die sich durch ihre aussergewöhnliche Atmosphäre, ihre architektonische Raffinesse und ihre besondere Lage auszeichnen.

Natürlich kennen wir den Jardin des Tuileries, mit seinen mehr als 25 Hektar, schon eine wahrlich grosszügige grüne Lunge in Mitten von Paris, ausgehend vom Louvre und angrenzend an den Place de la Concorde, eingerahmt vom Quai des Tuileries und der Rue de Rivoli, in der unter anderem auch einer der schönsten und ältesten Buchhandlungen von Paris, die Librairie Galignani, ansässig ist.

Mindestens genau so bekannt ist uns natürlich der im 6. Arrondissement gelegene Jardin du Luxembourg, der bereits früher ein wichtiger Treffpunkt für Künstler und Dichter war. Heute geniessen vor allem auch Studenten und Professoren der Sorbonne diese wohltuende Oase für eine Pause zwischen den Vorlesungen. Dieser Park ist ein idealer Ort zum Sonnenbaden, Lesen und Verweilen. Auch Familien mit Kindern fühlen sich hier sehr wohl, da man auch heute im 21. Jahrhundert noch die traditionsreichen kleinen Holz-Segelboote mieten kann, welche dann mit einem Stab wie zu alten Zeiten auf den Wasserbassins in Fahrt gebracht werden können.

Doch Rainer Moritz führt uns auch in unbekanntere Gärten, die selbst für manchen Pariser, sollte er nicht im gleichen Quartier wohnen, noch unentdeckt sind, wie zum Beispiel der Jardin Catherine-Labouré, ganz in der Nähe des berühmten Kaufhauses Le Bon Marché, der als eine Art Klostergarten seine Obstbäume pflegt. Aber auch die kleinen Squares, wie der Square du Temple im 3. Arrondissement oder der oft vollkommen übersehene Square de la Place Dauphine, der sich auf der Ile-de-la-Cité befindet und seinen Hauptzugang von der Pont Neuf hat. Doch auch die moderneren Parks wie beispielsweise der Parc André-Citroën (15. Arr.) oder der Parc de Bercy (12. Arr.) haben ihren ganz eigenen Charme und dienen den Parisern als wichtige Erholungsorte.

Dieser Bildband besticht durch sehr viele verschiedene Aspekte. Festgehalten und durch seine starke Ausdruckskraft der grandiosen Fotos, die wir Andreas Licht zu verdanken haben, erleben wir die Natur, das Licht und diese Pariser Luft beim Blättern und Lesen so real, als würden wir in einem Garten flanieren, die Blumen riechen und den durch die Bäume streichenden Wind spüren. Ein ganz besonderes Phänomen, das nur durch echte Fotokunst und die hochqualitative Reproduktion dieser Bilder erreicht werden kann.

Rainer Moritz hat bereits diese unvergleichliche und abwechslungsreiche Auswahl getroffen, die uns teilweise ein ganz neues und unbekanntes Paris eröffnet. Doch die Krönung in diesem Bildband sind neben den wundervollen Bildern, nicht nur die informativen Texte über Entstehung, Geschichte und Entwicklung dieser Gärten, sondern vor allem auch die literarischen Verbindungen und Beziehungen die mit und durch diese Parkanlagen entstanden sind. Rainer Moritz lässt uns an der literarischen und künstlerischen Stimmung teilhaben, die das Leben in dieser Stadt und auch in ihren Gärten charakterisiert. Somit ist es nicht verwunderlich, dass der Titel „Dicht am Paradies“ einem Gedicht von Erich Kästner über den Jardin du Luxembourg entliehen ist. Aber nicht nur Kästner, natürlich auch Rilke und Proust dürfen hier nicht fehlen, und was wäre ein Pariser Garten ohne Rodin und Manet.

„Dicht am Paradies“ gehört zu den wundervollsten Bild- und Textbänden, die es aktuell über Paris gibt. Denn selten wurde diese Stadt auf eine sowohl pittoreske und charmante, als auch künstlerisch und literarisch informative Weise porträtiert. Dank Rainer Moritz und Andreas Licht gibt es keine inspirierendere Einladung zu einem Spaziergang durch die geheimnisvollsten, prachtvollsten, verschwiegensten und architektonisch faszinierendsten Park- und Gartenanlagen in der – auch für den Durchleser – nach wie vor schönsten Stadt der Welt!