Durchgelesen – „Das versteinerte Leben“ v. Nils Trede

Kennen Sie das intensive Gefühl von Stille und Einsamkeit, das lauter und bedrohlicher sein kann, als jeder unvorhergesehene Schrei? Es entsteht eine emotionale « Dunkelheit », die jede Hoffnung auf  ein « Leuchten » bzw. auf eine so erstrebenswerte und glückselige « Helligkeit » nehmen kann. Es gibt Bücher, die spielen in einer solch dunklen Atmosphäre. Und der Leser befürchtet,  noch tiefer in seelisch dunkle Abgründe zu sinken. Just in dieser Stimmung werden wir plötzlich mit einer ganz besonderen Kraft überrascht, welcher man als Leser kaum widerstehen kann. Und genau diese literarische «Energie» zeigt uns Nils Trede in seinem Erstlingswerk « Das versteinerte Leben » auf äusserst eindrucksvolle Weise.

Nils Trede (geboren 1966 in Heidelberg) lebt seit mehr als 15 Jahren in Frankreich. Zuerst hat er in Paris über viele Jahre hinweg eine Gemeinschaftspraxis als Allgemeinmediziner geführt. Aktuell wohnt er mit seiner Familie in Strassburg und arbeit nun hauptsächlich als freier Autor. Obwohl seine Muttersprache Deutsch ist, schreibt er im Original auf Französisch. Wir dürfen uns nun sehr freuen, dass – dank der grandiosen Übersetzung von Christian Ruzicska – sein Debütroman (« La Vie pétrifiée », bereits 2008 in Frankreich erschienen) erstmals dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt wird!

« Das versteinerte Leben » spielt in einer grossen, modernen, aber nicht konkret genannten Stadt, welche aus zwei sehr nahe gelegenen und durch eine Brücke verbundenden Inseln besteht. Der Ich–Erzähler, Xavier, arbeitet jeweils auf beiden Inseln und führt somit ein – zumindest nach Aussen hin gesehen – sehr beeindruckendes Doppelleben. Abends führt er auf der einen Insel ein Restaurant mit seiner kranken Mutter, die niemals ihr Zimmer verlässt.

Das Restaurant ist unterschiedlich gut besucht, doch eines abends betritt ein junges Paar den Gastraum und Xavier fühlt sich von der ersten Sekunde an von dieser jungen Frau magisch angezogen. Er begleitet beide zu ihrem Tisch, beobachtet sie und verfolgt aus einer gewissen Distanz die Unterhaltung. Die Verliebtheit zwischen dem Paar ist kaum zu übersehen. Xavier hängt an den Lippen dieser Frau, doch die anderen Gäste fordern ihn. Er ist total durcheinander und findet erst Ruhe, nachdem der letzte Gast das Restaurant verlassen hat. Er kann es kaum abwarten, die Tür zu schliessen und sich mit etwas Alkohol zu beruhigen :

« Ich war ruhig. Ich war trunken. Ich sah sie überall, ihr schönes und feines Bild, ich sah es überall. Ich sah den Glanz ihrer Haut auf allen bewegten Gesichtern, auf den silberfarbenen Dächern, auf den Scheiben, auf den Wassern des Flusses. Ich sah ihr Lächeln im Licht des Mondes. Ich sah die Strähnen auf ihren Wangen in den aufragenden Ästen der Bäume. Ich wollte sie wiedersehen. »

Xavier trifft seine « Traumfrau » ganz zufällig wieder. Es würden sich viele gute Möglichkeiten ergeben, endlich seine Sympathie ihr gegenüber zu bekunden, doch er ist nicht in der Lage, seine Gefühle in Worte zu fassen. Er ist zu schüchtern, ja fast schon ängstlich…

Auf der anderen Insel, die man – wie bereits kurz erwähnt – ganz leicht über eine Brücke erreichen kann, arbeitet Xavier tagsüber als Polizeiarzt. Er überprüft den Gesundheitszustand von Kriminellen, erstellt die dazugehörigen Zertifikate und verschreibt Medikamente. Anfänglich versuchte er noch eine Art Verbindung zu den « Patienten » aufzunehmen, eine gewisse Empathie zuzulassen, trotz der mehr als widrigen Umstände. Doch jetzt ist es nur noch Routine, denn diese Arbeit hat Xavier emotional immer mehr abstumpfen lassen.

Xavier pendelt nicht nur zwischen zwei Inseln und zwei Berufen, sondern auch zwischen zwei Seelenzuständen. Er ist einerseits ein sehr einsamer und introvertierter Mensch, andererseits durch eine obsessive Liebe zu dieser jungen Frau, die Gast in seinem Restaurant war, so stark verwirrt, dass man sich gut vorstellen könnte, er würde endlich Mut fassen, um seine innere « Eiszeit » – sei es durch Worte oder Gesten – zu durchbrechen. Er scheitert jedoch an seinem ganz persönlichen « Gefangensein », das den dramatische Seelen-Höhepunkt erst dann erreicht, als Xavier auch noch seine Mutter verliert…

Nils Trede hat mit Xavier einen tragischen und gleichzeitig auch naiven Helden geschaffen. Manchmal wirkt er nicht nur wie ein Isolierter, sondern auch wie ein Autist. Er spricht wenig, selbst bei einer Betriebsfeier der Polizei, die auch noch in einer Karaokebar stattfindet, ist er wie immer der Insichzurückgezogene. Fasziniert beobachtet der Leser einen Protagonisten, der sich durch eine starke, aber auch inhaltsvolle Einsamkeit auszeichnet und somit über eine ungewöhnliche und nicht zu erwartende emotionale Fähigkeit verfügt :

« Die Einsamen sind nicht nur merkwürdig. Sie machen nicht nur Angst. In ihrer Einsamkeit bemerken sie Dinge, die den Geselligen unbekannt bleiben. Sie öffnen ihren Geist den Rätseln mit Geduld und Aufmerksamkeit. Und beobachten sie sehr lange. Sie haben viel Zeit und wenig zu verlieren. Die Einsamen geben ihre Beobachtungen selten weiter : Sie tragen sie mit sich und fürchten das Urteil der anderen nicht. »

Nils Trede hat mit diesen Sätzen, die er Xavier formulieren lässt, ein absolut neues psychologisches Kapitel in Punkto Einsamkeit aufgeschlagen. Diese Erkenntnis mag einem als Leser irgendwie verrückt, aber gleichzeitig auch sehr differenziert erscheinen. Die beeindruckend puristische Sprache verleiht diesen klugen Sätzen eine unerschöpfliche Intensität, die sich durch den ganzen Roman zieht. Hier werden überbordende Liebesgefühle und der Wille zu überleben meisterhaft verknüpft mit einer Seele, die in einem Eisblock eingesperrt zu sein scheint.

« Das versteinerte Leben » ist ein wahre Entdeckung unter den aktuellen Frühjahrsneuerscheinungen. Nils Trede hat einen bemerkenswerten Erstlingsroman geschrieben, der über ein unglaubliches psychologisches Potential verfügt und dadurch einem brillant versteckten Optimimus Raum bietet , der den Helden, aber auch den Leser dazu einlädt, die vermeintlich « innere » Kälte zu erwärmen und somit die Seelen-Tür für ein erfülltes Leben zu öffnen.

Durchgeblättert – „Lady Earl Grey“ v. Hanns Zischler

Der Mensch ist eigentlich ein sehr tierliebes Wesen. Er bevorzugt Katzen und Hunde, doch manchmal wird er nicht ganz freiwillig von manch anderen tierischen Untermietern, wie Ameisen und Mäusen, konfrontiert. Dies löst in der Regel Entsetzen aus und der spontane Hilferuf nach einem Kammerjäger liegt sehr nahe. Ausser man begegnet so ganz – en passant – in seinem Haus einer sehr gebildeteten und äusserst charmanten Mäusedame, wie sie Hanns Zischler in diesem zauberhaften Märchen für Erwachsene zum Leben und vor allem zum Sprechen erweckt hat.

Hanns Zischler (geb. 1947) zählt zu den bedeutendsten Filmschauspielern Deutschlands. Er hat in mehr als 50 Filmen mitgewirkt und mit Regisseuren wie beispielsweise Wim Wenders, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Steven Spielberg, Caroline Link gearbeitet. Doch Hanns Zischler ist neben diesem Beruf auch noch Hörspielsprecher, Dramaturg, Fotograf, Übersetzer und Essayist. Nach seinem Abitur studierte er neben Ethnologie und Musikwissenschaft auch Philosophie und Germanistik. Bevor er sich dem Theater widmete, arbeitete er bereits als Lektor und Übersetzer von französischen Philosophen. 1996 wurde sein Werk « Kafka geht ins Kino » veröffentlicht, welches Zischler auch als Autor berühmt machte. Er  wurde mit dem Heinrich-Mann Preis und mit dem deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Ganz aktuell ist nun sein neuestes Buch « Lady Earl Grey » erschienen, das er zusammen mit dem Maler und Grafiker Hanno Rink kreiert hat.

« Lady Earl Grey » ist die Geschichte einer – wie der Name schon sagt – besonderen Dame von adeligem Geschlecht. Ja es handelt sich hier um eine ganz ungewöhnliche Lady, nämlich um eine kleine, aber dafür sehr intellektuell wirkende Maus. Russla, der Hausbesitzer, begegnet ihr ganz zufällig eines Morgens auf der Treppe. Er ist gerade – noch etwas schlaftrunken – auf dem Weg in die Bibliothek und da steht sie plötzlich vor ihm, diese kleine Maus, und wartet darauf, was passiert. Russla erkundigt sich ganz entspannt nach ihrem Namen. Lady Earl Grey stellt sich vor und erklärt ihm gleich, dass sie obdachlos ist, da ihr altes Zuhause durch ein Feuer vernichtet wurde. Tja und so kommen die beiden ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass Lady Earl Grey nicht nur neugierig, sondern sich auch sehr für Literatur interessiert und deshalb unbedingt wissen möchte, welches Buch Russla denn in seiner Hand hielt. Er las gerade « Das Kummerfell » von Balzac. Lady Earl Grey ist begeistert, berichtet von ihren französischen Vorfahren und ihrer Liebe zu Balzac. Russla ist ganz hin und weg und kann es kaum glauben, dass eine Maus auch noch lesen kann :

« „Ob Wir lesen können ?! Es gibt ja noch etwas anderes als Leseratten in der Welt ! Unser Volk hat sich ganze Bibliotheken einverleibt. Alle reden von Alexandria… Von Uns spricht keiner – oder nur verächtlich. Geschriebenes wie Gedrucktes, Wir schrecken vor nichts zurück. In Papierdingen sind Wir buchstäblich Allesfresser.“ »

Nach weiteren intensiven Diskussionen über das Lesen und die Bedeutung des Menschen, klingelt es an der Tür und eine Katze mit rot samtigen Fell stürzt in das Haus und schmeichelt sich an Russlas Beine. Der Kater – sehr selbstbewusst – marschiert in die Küche, während Lady Earl Grey sich ganz schnell in der Morgenmanteltasche von Russla versteckt hatte.

Eine Maus und eine Katze in einem Haus und dann noch so « nah » vereint, welch ungewöhnliche Konstellation. Es war fast wie eine Art Gipfeltreffen unter Feinden. Ein Katz- und Maus-Spiel oder ein Maus-Katz-Spiel. Jetzt war Russla gefordert. Rotpetar, das war der Name des Katers, konnte seine Kommentare nicht zurückhalten und merkte sofort, dass hier in diesem Haus noch jemand anderes gewesen sein musste :

« „Wer war hier ??“ Er starrte mich mit grossen Augen an.
„Lady Earl Grey „, sagte ich.
„Du kennst Lady Earl Grey??!!“, rief Rotpetar aus, „du kennst die Königin der Mäuse?!“»

Lady Earl Grey hatte es also faustdick hinter ihren kleinen Öhrchen, das wusste bereits der Kater, nur Russla war vollkommen ahnungslos und liess sich von « seiner » charmanten Mäusedame vollkommen um den Finger wickeln ….

Mit « Lady Earl Grey » hat Hanns Zischler ein so charmantes kleines « Bilderbuch-Märchen » für Erwachsene geschrieben, das sich nicht nur mit dem Thema Lesen, sondern auch mit der Philosophie des Lebens auf ganz besonders espritvolle Weise beschäftigt. Selten werden wir als Leser eine so originelle und freche Heldin in der Literatur wiederfinden, wie diese kleine und kluge Treppenmaus.

Hanns Zischler jongliert gekonnt wie ein Artist mit dem Facettenreichtum der Sprache, versetzt uns ein wenig in die vornehme adelige Zeit und präsentiert uns eine Maus, die mit ihrer distinguierten Rhetorik alle Register zieht und uns von der ersten Sekunde an begeistert und beglückt. Die traumhaft schönen Pinselzeichnungen von Hanno Rink unterstreichen die Eleganz dieser wundervollen märchenhaften Geschichte und geben nicht nur der Hauptprotagonistin, sondern auch allen Mitwirkenden dieses Märchens ein prägnantes Profil.

« Lady Earl Grey » ist das ideale Buch für Liebhaber besonderer und amüsant feinsinniger Literatur. Dieses kleine grosse Werk vermittelt auf höchst vergnügliche Weise interessante Erkenntnisse über die Frage : wer ist eigentlich der Herr im Hause? Und es verzaubert den Leser und entlässt ihn nach der Lektüre mit einem beschwingten Lächeln und einem so wunderbar warmen und märchenhaften Glücksgefühl !

Georg Heym – Gedicht

März

Aus der Erde quollen Kräfte,
Die in dunkler Enge schliefen,
In den Wolken gingen Stürme,
Graue Wogen in den Tiefen.

Lange Tage fuhren Winde
Regenschwer vom nahen Meere,
Große Vögel kamen nächtlich
Und verschwanden schnell ins Leere.

Auf dem halbgeborstnen Eise
Schoben sich die schweren Schollen,
Oft wir schraken auf aus Träumen
Von des Stromes dumpfem Grollen.

Sterne glänzten und verschwanden,
Eh wir noch die Schönen schauten,
Fern vom Sturm geläutet klangen
Glocken mit der Märznacht Lauten.

Durchgelesen – „Im Café der verlorenen Jugend“ v. Patrick Modiano

Eine richtig feine und sehr französische Geschichte über das plötzliche Verschwinden einer wilden und irgendwie « heimatlosen » jungen Frau, erzählt durch vier ganz unterschiedliche Erzählstimmen, eingebettet in das Paris der sechziger Jahre, so könnte man den Roman « Im Café der verlorenen Jugend » ganz knapp beschreiben. Diese Zusammenfassung bringt es in einer gewissen Weise auf den Punkt, doch sollte man keinesfalls unerwähnt lassen, dass es sich bei diesem wunderbaren Buch, um einen der schönsten, wehmütigsten und bewegendsten Romane, in denen Paris selten « so französisch besungen wird » – wie Alex Capus schreibt – handelt.

Patrick Modiano (geb. 30. Juli 1945 in Boulogne-Billancourt) zählt zu den bedeutendsten französischen Schriftstellern der Gegenwart. Er ist italienisch jüdischer Abstammung von Seiten des Vaters. Seine Mutter war eine bekannte belgische Schauspielerin. Modiano verbrachte seine Schulzeit hauptsächlich in Internaten, da der Vater ständig abwesend und seine Mutter oft auf Tournee war. Mit 15 Jahren lernte er über einen Kontakt durch seine Mutter den Geometrielehrer Raymond Queneau (Autor von « Zazie in der Metro ») kennen. Dieses Treffen war für Patrick Modiano mehr als schicksalshaft. Durch Queneau wurde er in die literarischen Kreise eingeführt und durfte an Empfängen des Gallimard Verlags teilnehmen. Inspiriert durch diese neue Welt schreibt er seinen ersten Roman « La Place de l’Étoile », der 1968 bei Gallimard erschienen ist und sofort mit zwei Literaturpreisen (Prix Roger Nimier u. Prix Fénéon) geehrt wurde. Ab diesem Zeitpunkt widmet sich Patrick Modiano nur noch der Schriftstellerei. Sein Gesamtoeuvre umfasst inzwischen ca. 30 Werke, darunter zählen zu den Wichtigsten : « Les Boulevards de ceinture » (Grand Prix du Roman de l ‘Académie française), « Rue des boutiques obscures » (ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt) und « Dans le café de la jeunesse perdue ». Dieses letzt genannte Werk erschien bereits 2007 in Frankreich und wurde nun ganz aktuell durch die grandiose Übersetzung von Elisabeth Edl erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht.

Der Roman « Im Café der verlorenen Jugend » spielt hauptsächlich im 5. und 6. Arrondissement von Paris, der sogenannten « Rive gauche » und im Quartier Pigalle, das unterhalb von Montmartre, im 9. Arrondissement auf der anderen Seine-Seite, der « Rive droite », liegt. Der Roman wird von vier verschiedenen Personen erzählt, denen Patrick Modiano sein « Ich » leiht. Alles dreht sich um eine etwas mysteriös wirkende Frau, die Louki genannt wird, aber mit richtigen Namen Jacqueline Delanque heisst und eine verheiratete Choureau ist.

Der erste Erzähler, ein Student der « École des Mines » geht hin und wieder ins Café Condé – einer der wichtigsten Hauptspielorte dieses Romans. Dieses Café – das « Café der verlorenen Jugend » -, das von Literaten und Schriftstellern frequentiert wird, gehört zu der Welt der Bohemien und liegt im berühmten Pariser Viertel Saint-Germain-des-Près. Der junge Mann – unschlüssig darüber, ober er seine Studien bei der « École des Mines » weiterführen soll – beobachtet ganz zufällig eine junge Frau, die von ihren Stammgästen mit dem Spitznamen Louki « getauft » wurde. Sie ist ihm sofort aufgefallen, weil sie irgendwie anders war, als die Anderen :

« Ihre Hände jedoch waren in der Anfangszeit stets leer. Dann wollte sie es wahrscheinlich den anderen gleichtun, und eines Tages überraschte ich sie im Condé allein und lesend. »

Der zweite Erzähler ist ein Privatdetektiv, der sich als Kunstverleger ausgibt. Er wurde engagiert von ihrem Mann – Jean-Pierre Choureau -, nachdem Louki ihn ohne Ankündigung von einem Tag auf den anderen verlassen hatte. Choureau arbeitet in einer Immobiliengesellschaft. Jacqueline wurde bei dieser Firma als Aushilfssekretärin eingestellt und lernte so Jean-Pierre kennen. Zwei Monate später hatten sie schon geheiratet. Danach zog sie mit ihm in seine Wohnung, die im noblen Pariser Vorort Neuilly lag. Louki war unzufrieden und fühlte sich dadurch sehr einsam in ihrer Ehe :

« In den Tagen vor ihrem Verschwinden, war ihm da etwas Besonderes an ihr aufgefallen ? Nun ja, immer öfter machte sie ihm Vorwürfe wegen ihres gemeinsamen Alltags. Das hier, sagte sie, sei nicht das wahre Leben. »

Der dritte Erzähler, oder besser gesagt die Erzählerin, ist Louki selbst. Sie berichtet von ihrer schwierigen Kindheit und Jugend. Sie wohnte mit ihrer Mutter, welche im Moulin Rouge als Platzanweiserin arbeitete, in der Nähe vom Place Blanche im Quartier Pigalle. Immer, wenn ihre Mutter abends zur Arbeit ging, flüchtete sie – obwohl sie gerade mal 15 Jahre alt war -, aus der Wohnung und sträunte durch das Stadtviertel. Oft verbrachte sie Mitternacht, den Hunger noch schnell mit einem Croissant stillend, in einer Bäckerei, bevor sie mal wieder von einer Polizeikontrolle erwischt wurde:

« Zwei Bullen in Zivil sind aufgetaucht, für eine Ausweiskontrolle. Ich hatte keine Papiere dabei, und sie wollten wissen, wie alt ich bin. Ich habe ihnen lieber gleich die Wahrheit gesagt. »

Ängste und Beklemmungen, im Schlimmsten Fall sogar richtige Panikattacken, waren oft der Auslöser für diese verrückt planlosen « Nachtwanderungen ». Eines Tages begegnet Louki auf der Strasse einem Mädchen, das ein wenig älter war als sie. Durch diese neue « Freundschaft » lernte sie nicht nur die enthemmende Wirkung des Alkohols kennen, sondern auch eine ganz besondere neue Art der Angst-Befreiung. Diese neue Bekannte hatte nämlich noch eine viel bessere Idee, als nur in den Bars und Cafés herumzuhängen:

« „Du wirst sehen … das tut gut … wir nehmen ein bisschen Schnee…“ »

Der vierte und letzte Erzähler ist Roland, ein junger angehender Schriftsteller, der in einer möbilierten Wohnung in der Rue d’Argentine – in der Nähe vom Place d’Étoile – wohnt. Louki und Roland lernen sich bei einem kleinen Empfang des Autors Guy de Vere kennen. Nach langen gemeinsamen Spaziergängen durch das nächtliche Paris, nähern sie sich immer mehr an. Roland wird Loukis Liebhaber, noch während sie bei ihrem Mann lebt und bleibt es auch noch nach einer vollkommen ungeplanten Rückkehr-Verweigerung in den trostlosen Ehealltag :

« Sie hätte zum Abendessen zurück in Neuilly sein sollen, aber um acht lag sie immer noch auf dem Bett. Sie machte auch die Nachttischlampe nicht an. Schliesslich erinnerte ich sie, es sei Zeit. „Zeit wofür ?“ Am Klang ihrer Stimme hörte ich, dass sie nie wieder die Metro nehmen würde, um an der Station Les Sablons auszusteigen. »

Roland und Louki verbringen viel Zeit miteinander, er schreibt an seinem ersten Buch und sie denken daran, bald eine kleine Reise gemeinsam zu unternehmen. Eines Tages, sie hatten sich – wie so oft – um fünf Uhr nachmittags im Café Condé verabredet, doch Louki kam nicht…

Jeder dieser vier Erzähler beleuchtet auf seine ganz besondere Weise und aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln heraus das Leben und die geheimnisvolle Persönlichkeit von Louki. Patrick Modiano hat diesen Roman wie ein kleines Puzzle konzipiert, das sich Stück für Stück zu einem « Gesamtbild » hin entwickeln könnte. Doch bei der Lektüre stellt man fest, dass er absichtlich ein paar Puzzleteile weglässt, damit das Mysteriöse sich nicht gänzlich auflöst und damit Louki letztendlich unergründbar bleiben kann.

Paris, seine Strassen, die Architektur, die Seine, die Cafés und das besondere Licht, als dies, was den typischen Charakter von Paris ausmacht, stetzt Modiano ganz intuitiv und spielerisch als elegantes Stilmittel ein, um sein ganz persönliches Paris zu kreieren. Er agiert wie ein Kartograph und Maler zugleich. So kann der Leser, als würde er mit Modiano’s « Privat-Stadtplan » durch das Paris der vier Erzähler spazieren. Ein Ort, nämlich das Café, hier in diesem Roman das Café Condé, wird zu dem wichtigen Lebensraum überhaupt. Es ist wie eine zweites « Wohnzimmer », in dem nicht nur Louki, sondern auch viele der Stammgäste versuchen, ihre Einsamkeit und die Melancholie des Lebens bewusst zu zelebrieren, um sie letztendlich dadurch besser ertragen zu können. « Im Café der verlorenen Jugend » interpretiert sich als eine wunderbare Metapher für einen Raum, der die verlorene Suche nach der Identität und die in der Konsequenz daraus entstehende fehlende innere Geborgenheit ersetzen könnte.

Patrick Modiano ist ein Meister der klaren und schörkellosen Sprache. Seine Technik besticht durch eine faszinierende Reinheit, die durch einen äusserst sparsamen Einsatz von linguistischen Mitteln gekennzeichnet wird. So entsteht ein ganz einmaliges und sehr klares Porträt von Paris in den frühen sechziger Jahren. Seine Schreibkunst ist wirklich grandios und einzigartig, denn es gelingt ihm, in diesem ungewöhnlichen und sehr mitreissenden Roman, der nicht im Geringsten etwas mit einem Krimi zu tun hat, eine so unglaublich subtile Spannung zu erzeugen, dass sich der Leser bis zum letzten Satz auf eine ganz persönliche und intensive Suche nach Louki begibt. Die wunderbare Pariser Kulisse und das Café als Familienersatz lassen Reise-Sehnsüchte entstehen. Welcher Leser möchte nicht auch zu den Stammgästen dieses Cafés zählen und auf Louki warten?

Fahren Sie nach Paris, auch wenn das Paris der sechziger Jahre vielleicht nicht mehr ganz das gleiche ist wie heute, lassen Sie sich treiben in dieser atemberaubenden Stadt, spüren Sie die Melancholie und die Faszination gleichermassen, und wer weiss, vielleicht treffen Sie ja auch noch Louki? Oder Sie « reisen » ganz entspannt und die Augen auf Modiano’s grandiose Erzählkunst gerichtet von Ihrem Canapé aus und atmen lesender Weise durch diesen wundervollen Roman Pariser Luft und Leben ein!