Paul Verlaine – Gedicht

Herbstgesang

Wie Seufzer lang
und herbstesbang
Geigenton
schlägt mein Herz
in dumpfem Schmerz
monoton.

Ganz atemlos
und blich und bloß
die Sehnsucht mein
beim Stundenschlag
weckt fernen Tag
und ich wein,

und geh hinaus
in´s Sturmgebraus
das mich hat:
Ein immerfort
(bald hier, bald dort)
totes Blatt.

Durchgeblättert – „Unter den Dächern aus Zink“ v. Adriaan van Dis

Der Untertitel «Paris, ein ABéCédaire» lässt im ersten Augenblick vielleicht Schlimmes vermuten, denn man denkt sofort an die eher unkritischen und langweiligen Stadt-Wörterbücher, die sich höchstens für den Drei-Tage-Touristen eignen. Doch die Befürchtungen sind glücklicherweise vollkommen umsonst, da es sich bei diesem – nicht nur bezüglich des Layouts – sehr schön gestalteten Buch um das ganz persönliche Pariser Lebens-ABC des holländischen Autors Adriaan van Dis handelt.

Adriaan van Dis, geboren 1946 in Bergen, wuchs in einer aus Indonesien repatriierten Familie auf. Er studierte zuerst Holländisch in Amsterdam und anschliessend Afrikaans in Südafrika. Bevor er sich dem Literatur-Jounalismus zuwandte, beschäftigte er sich sehr mit der Anti-Apartheid-Bewegung. Van Dis ist ein grosser Kenner Afrikas, von denen auch zahlreiche seiner Erzählungen und Novellen profitierten. Beeinflusst durch viele Reisen nach China und Japan, werden auch diese Kulturen in sein Werk literarisch integriert. Er veröffentlichte Romane und Drehbücher und wurde mit vielen renommierten Preisen ausgezeichnet. Neben seiner Karriere als Fernsehmoderator, gehört van Dis zu einer der populärsten Autoren in Holland. Ein grosser Wunsch, einmal in Paris zu leben, verfolgt ihn seit über 40 Jahren. Und mit seinem aktuell in deutscher Übersetzung erschienen Buch «Unter den Dächern aus Zink» werden wir Zeuge dieser lang erwarteten Wunscherfüllung :

« Früher tat ich es als Jugendtraum ab, aber der Traum und der Lockruf wurden mit den Jahren immer mächtiger. Paris, Paris … Nicht als Zufluchts-, sondern als Schreibort. Schreiben in einer Weltstadt. In einer Stadt, in der ich frei atmen kann und unsichtbar bin, und wo einem wenig anderes übrig bleibt, als hart zu arbeiten – fern von aller Schaumschlägerei. Unerwartet habe ich wieder einmal dem Lockruf Gehör geschenkt. An einem trägen Frühlingstag, als ich nichts suchte. Bevor ich mich versah, eilte ich eine Treppe hinauf und unterschrieb Papiere : Manchmal verleiht einem die Angst Flügel. Und seitdem bewohne ich für mindestens ein Jahr ein sonniges Studio im Sechsten – einundreissig Quadratmeter, im fünften Stock unter einem Zinkdach.»

Adriaan van Dis hat sich also ernsthaft entschieden, in Paris für eine gewisse Zeit sesshaft zu werden. Und damit beginnt seine ganz persönliche Geschichte, sein Paris-ABC, in welchem er ein paar bekannte, dafür sehr viele neue und auch kritische Sichtweisen auf diese ruhelose und faszinierende Stadt bietet.

Er versucht wie ein Pariser zu leben. Freut sich über seinen Namen am Briefkasten und über die Strom- und Gasabrechnung, hat einen Friseur und Arzt, ist Mitglied im Fitness-Club, liest täglich Le Monde und kauft die Lebensmittel bei seiner Nachbarin im Quartier und lässt bei ihr, wie alle anderen, anschreiben. Auch der Clochard Monsieur Dubois, der sich in seinem Hauseingang ein Plätzchen gesucht hat, grüsst ihn regelmässig, was die Zugehörigkeit noch wesentlich steigert.

Doch van Dis bleibt natürlich nicht nur in seinem Quartier, beziehungsweise in seinem Studio, er spaziert durch die Stadt und entdeckt die unterschiedlichsten Welten, die eine Metropole, wie Paris, zu bieten hat.

Wir erfahren, wie schön es im August in Paris sein kann, wo alles etwas langsamer geht, leerer ist und die wenigen daheim gebliebenen Pariser ihre Stadt geniessen und sich Zeit nehmen, sie selbst wieder neu zu entdecken. Es ist van Dis Lieblingsmonat, allerdings nicht im Jahr 2003. Ein Sommer mit Temperaturen über 40 Grad, was nicht nur den gesunden und jungen Menschen Probleme bereitete, sondern vor allem den Alten und den Obdachlosen wie M. Dubois. In dieser Zeit wird Paris zu einem glühenden Backofen und hatte schliesslich mehr als 14.000 Hitzeopfer zu beklagen. Doch M. Dubois überlebte dank einer Geige.

Um Paris wirklich verstehen zu können, darf man sich auf keinen Fall vor den verschiedensten Kulturen verschliessen, die Paris beheimatet. Begibt man sich beispielsweise in die Gegend rund um den Gare du Nord, die van Dis hauptsächlich durch seinen Zug kommend aus Amsterdam kennt, steht man plötzlich in einer ganz anderen Welt, als wir sie vergleichsweise in den Künstlervierteln von Saint-Germain-des-Près oder des Quartier Latin vorfinden. Hier in einem Quartier zwischen Montmartre und Gare du Nord liegt die sogenannte «La Goutte d’Or», ein Viertel, das hauptsächlich von sehr armen Menschen mit einer anderen Hautfarbe bewohnt wird. Van Dis beschreibt das Pariser «Maghreb» mit all seinen Afrikanern, den Geschäften, den fremden Sprachen und ihren exotischen Gerüchen.

Van Dis wagt es sogar, die Banlieue (Vororte) zu erkunden, denn alles, was sich ausserhalb des sogenannten Périphérique (Autobahnrings) befindet, gehört nicht mehr zum eigentlichen Paris. Er will wissen, wie die Menschen dort wohnen, und wundert sich nicht, dass es in den von Beton beherrschten Randgebieten mehr als schwierig ist, sinnvoll und gewaltfrei sein Leben zu gestalten.

Doch «Paris gibt es nur in der Mehrzahl », wie van Dis in seinem ersten Kapitel erklärt. «Und ich weiss immer noch nicht, welches Paris ich liebe : Die prahlerische Stadt, die sich mächtig in die Brust wirft, oder die dörfliche Stadt, les villages de Paris. Die chauvinistische Stadt, deren Bewohner nicht weiter schauen als bis zum Autobahnring, oder die Schmelztiegel-Stadt, in der Hundert Sprachen leben und mindestens so viele Religionen. Die Zinkdächer oder den schwarzen Schiefer, die grünspanigen Kuppeln, die vergoldeten Ränder und goldenen Spitzen der Staketenzäune. Die Rinnsteine, die wie Bäche rauschen, oder die Seine. Ich bewundere das künstlerische und literarische Gedächtnis von Paris. Die Vergangenheit lehrt mich Tag für Tag etwas Neues. Und die Gegenwart : Die Probleme einer Weltstadt halten mich beweglich. In Amsterdam schlafe ich ein, verdorfe. In Paris hingegen wache ich auf.»

Und so folgen wir als Leser Adriaan van Dis auf seiner mehr als wachen Entdeckungstour. Wir schliessen uns seinen Spaziergängen an: durch den Jardin du Luxembourg und durch Montparnasse – immer mal wieder auch auf den Spuren von Ernest Hemingway und Gertrude Stein. Ein anderes Mal begleiten wir van Dis zum Père Lachaise, dem grössten Pariser Friedhof und lassen uns erklären, warum die Bewohner von Paris am ältesten werden und es so wenige dicke oder – um es noch drastischer zu formulieren – fette Franzosen gibt.

Adriaan van Dis entführt uns – eingeteilt in zwanzig prägnante Kapitel – in die berauschende, teilweise auch bedrückende, aber trotzdem unaufhörlich anziehende Atmosphäre dieser Weltmetropole. Und diese besondere Stimmung wird durch zahlreiche Schwarz-Weiss-Fotografien wunderbar sanft eingefangen, welche dieses Buch auch visuell zu einem ganz besonderen Werk machen.

Selten finden wir eine so authentische, kritische und gleichzeitig bewundernd verliebte Beschreibung von Paris. Ariaan van Dis lässt den Leser an seinen ganz persönlichen Erfahrungen teilhaben, klärt ihn über die verschiedensten Lebensverhältnisse auf und beobachtet voller Neugier und Faszination das Treiben und die Menschen in dieser Stadt. Durch seine stilvoll elegante und gleichzeitig direkte Sprache, wird diese Wanderung durch die verschiedensten «Dörfer» von Paris zu einem spannenden und unvergesslichen Abenteuer.

«Unter den Dächern aus Zink» ist ein ganz aussergewöhnliches Reise-Buch! Der Leser wird durch die starke Erzählkraft von Andriaan van Dis wahrlich von der Stadt Paris aufgesogen und fühlt sich – wie der Autor selbst – sofort als Neu-Pariser, ohne jedoch dabei einen Mietvertrag unterschreiben zu müssen. Wenn Sie also Paris nah und echt erleben wollen, dann sollten Sie diesen besonderen „Stadt-Führer“ unbedingt in Ihre geistige „Reisetasche“ packen…

Durchgelesen – „Der gute Psychologe“ v. Noam Shpancer

Gehen Sie bereits regelmässig zur Ihrem Psychotherapeuten ? Oder leben Sie mit Ihren Sorgen und Ängsten ganz alleine ? Vielleicht haben Sie bereits ernsthaft über eine Psychotherapie nachgedacht, doch Ihr Vertrauen gegenüber Psychologen ist nur noch nicht gross genug. Dies wird sich jedoch spätestens durch die Lektüre dieses äusserst informativen, klugen und humorvollen Romans « Der gute Psychologe » ändern.

Noam Shpancer wurde 1959 in einem Kibbuz geboren. Er ist Professor für klinische Psychologie an der Universität Ohio und arbeitet daneben als Therapeut in einer Klinik für Kognitive Therapie. Noam Shpancer ist spezialisiert auf Ängste, die in seinem Erstlingsroman « Der gute Psychologe »  – welcher nun ganz aktuell in deutscher Übersetzung vorliegt – erläutert und erfolgreich behandelt werden.

Die Hauptfigur in Noam Shpancer’s Roman ist – wie sollte es auch anders sein – der Psychologe, dessen Namen wir als Leser jedoch nie erfahren werden. Der Psychologe ist nicht nur Therapeut mit Spezialisierung auf Angstpatienten, die er in seiner eigenen Praxis empfängt. Er unterrichtet auch an der Universität als Dozent und versucht seinen Studenten zu erklären, was es bedeutet, ein « guter » Psychologe zu sein. Doch darüber hinaus ist er einfach Mensch, Mann und Single. Wobei er jedoch eine Tochter mit einer verheirateten Kollegin (Nina) hat, seine ehemalige grosse Liebe, die sich von ihrer Seite seit einigen Jahren aus privaten Gründen in eine rein fachliche Freundschaft verwandelte.

Der Psychologe kämpft oft mit seinen Gefühlen, vor allem dann wenn er an seine Tochter denkt. Aber Emotionen sind in der Praxis als Therapeut kein hilfreicher Ratgeber, sie sollten eher in den Hintergrund treten, damit er sich ganz neutral seinen Patienten widmen kann. Er arbeitet in der Regel nur bis drei Uhr nachmittags. Doch für eine neue Patientin, die als Tänzerin in einem Nachtclub arbeitet, macht er eine Ausnahme und empfängt sie Freitags um 16.00 Uhr :

« « Die Erfahrung einer Panikattacke ist sehr verstörend und abrupt, ohne erkennbaren Grund. Es gibt eine natürliche Neigung, einen äusseren Grund für diese Gefühle zu suchen. »
« Sie glauben, ich sei verrückt ? »
« Ich weiss nicht, was das ist. »
« Sie sind Psychologe und wissen nicht, was verrückt ist ? » »

Die Nachtclub-Tänzerin braucht Hilfe, sie kann nicht mehr tanzen, sie hat Angst vor jedem Auftritt. Der Psychologe ist mehr als gefordert, seine Patientin wieder in das « Leben » zurückzuführen. Er ist selbst überrascht, wie sehr ihn dieser Fall beschäftigt und auch sein ganz persönliches Leben beeinflusst. Glücklicherweise kann er sich immer bei Nina einen psychologischen Rat holen, der ihm hilft, selbst die richtigen Therapie-Entscheidungen zu treffen. Auch seine Studenten holen ihn sozusagen wieder auf den theoretischen Boden zurück, denn sie erwarten von ihrem Dozenten, nicht nur praktische Tipps, sondern eine fundierte psychologische Theorie. Und genau zwischen diesen doch sehr unterschiedlichen Welten – zwischen Praxis und Theorie –  lebt und arbeitet ein Psychologe. Er sollte stets bestimmte Richtlinien befolgen, um nicht seinen Gefühlshaushalt und den seiner Patienten vollkommen durcheinander zu bringen :

« Ein guter Psychologe hält Distanz und lässt sich nicht in die Ergebnisse seiner Arbeit verstricken. Die richtige Distanz erlaubt einen genauen und klaren Blick. Ein guter Psychologe überlässt die Sache mit der Nähe Familienangehörigen und geliebten Haustieren, und die Sache mit der Rettung überlässt er religiösen Bürokraten und Exzentrikern an Straßenecken. »

Diese und viele weitere theoretische Erkenntnisse erklärt er seinen Studenten. Doch auch ein guter Psychologe ist nicht davon gefeit, das Persönliche und das Professionnelle zu verwischen, was ungeahnte und gefährliche Konsequenzen mit sich bringen kann…

« Der gute Psychologe » ist ein ganz besonderes Buch. Verpackt in eine Art Sachbuch-Roman werden wir in die spannende Welt der Psychotherapie und der Ängste entführt. Brillant konzipiert erzählt uns Noam Shpancer die Geschichte einer Frau, einer Nachtclub-Tänzerin, die mutig genug ist, sich Hilfe bei einem Psychologen zu holen, um zu lernen, mit ihren Ängsten zu leben, statt sie zu unterdrücken. Wir werden Zeuge verschiedenster Therapiestunden, entdecken psychologische Zusammenhänge, spüren die Ohnmacht und das Gefühlsdurcheinander, aber auch die Hilfestellung und die psychologische « Heilung ». Der Leser entdeckt aber auch das Gefühlsleben – was übrigens auch Ängste beinhaltet –  des Psychologen, welches in der Regel jedem Patienten während der realen Therapie eher verborgen bleibt.

Und gleichzeitig habe wir die Möglichkeit an einem Mini-Studium in Psychologie teilzunehmen, was nicht nur Wissen und Informationen über Psychotherapie und Psychologie im Allgemeinen von Seiten des Dozenten beinhaltet, sondern wir werden Student und verfolgen die Probleme unserer Kollegen, die nicht nur psychologischer Natur sind.

Noam Shpancer ist ein brillantes Werk gelungen. « Der gute Psychologe » ist ein Roman, der die geheimnisvolle Welt der Psychotherapie öffnet, für jeden Menschen zugänglich macht, auch wenn er noch mutlos und voreingenommen sein sollte. Ein Roman, der verblüfft, Neugierde auslöst und hilft. Denn selten ist eine Psychotherapie so günstig, humorvoll, transparent und praktisch wie in diesem Buch. Lassen Sie sich einen « Lese-Termin » geben, Sie werden sehen, wie angenehm und befreiend es ist, bei diesem « guten Psychologen » Patient sein zu dürfen…