„Ich habe gegen Romanliteratur aus dem Grunde nichts einzuwenden, weil es mir zweckmässig erscheint, dass das, was mich interessiert, umständlich gesagt wird.“
Monat / Juli 2011

Durchgelesen – „Prousts Mantel“ v. Lorenza Foschini
Ein Mantel muss nicht nur ein rein schmückendes und wärmendes Kleidungsstück sein. Nein, ein Mantel kann viel mehr bedeuten. Er ist das Markenzeichen eines Menschen. Und genau dieses Attribut wurde dem Mantel von Marcel Proust zugeschrieben.
Dieser Mantel ist aber auch die Krönung der unbeschreiblich intensiven, ja fast ungebremsten Sammelleidenschaft des Pariser Parfümfabrikanten Jacques Guérin, von welcher uns die italienische Journalistin Lorenza Foschini in ihrem Buch « Prousts Mantel » auf hinreißende Weise in einer Art Reportagen-Geschichte erzählt.
Lorenza Foschini, geboren 1949 in Neapel, lebt und arbeitet als Journalistin und Schriftstellerin in Rom. Sie war bereits für das Staatsfernsehen RAI und als Vatikan-Korrespondentin tätig. Sie hat für ihr 1998 veröffentlichtes Buch « Nachforschungen zur Jahrtausendwende » den renommierten Journalismus-Preis Scanno erhalten.
« Prousts Mantel » ist « die Geschichte einer Leidenschaft » : « Alles, was hier erzählt wird, hat sich tatsächlich ereignet, und die Figuren dieser Geschichte haben reale Vorbilder. »
Lorenza Foschini trifft sich für ein Interview mit Piero Tosi, dem berühmten Kostümbildner des Regisseurs Luchino Visconti. Tosi berichtete von seiner Reise nach Paris wegen einer eventuellen Verfilmung von Prousts Werk. Er begann nachzuforschen und begegnete dem Besitzer einer Parfümfabrik, der ihm eine unglaubliche und gleichzeitig faszinierende Geschichte erzählte :
Jacques Guérin, war nicht nur Parfümeur, er war auch ein sehr leiden-schaftlicher Büchersammler. Seine grosse Liebe zu Proust begann durch seine Krankheit. Er litt an einer Blinddarmentzündung, und der Arzt, der ihn operierte war kein geringerer als Dr. Robert Proust, der Bruder des berühmten Marcel Proust. Dies löste bei Guérin einen wahren Nachforschungs-zwang aus, so dass er ab diesem Ereignis alles über Proust erfahren wollte. Es ging so gar soweit, dass er Kontakt zur Familie aufnahm, in dem er sich nach seiner Heilung bei Dr. Robert Proust persönlich für seinen Einsatz bedankte, was übrigens zur damaligen Zeit nicht unüblich war. Doch bei diesem Besuch entdeckte er den alten Schreibtisch von Marcel Proust und lässt sich die darin aufbewahrten Schriftstücke von seinem Bruder Robert zeigen, die er am Liebsten alle sofort in seine Obhut nehmen wollte. Was sicherlich das beste gewesen wäre.
Denn im Laufe der Recherchen von Jacques Guérin stellte sich immer mehr heraus, das Marcel Proust es in seiner Familie doch sehr schwer hatte. Dr. Robert Proust war wie Vater Adrien Proust Arzt geworden und konnte mit Literatur nicht wirklich viel anfangen. Die Ehe zwischen Robert Proust und Marthe Dubois-Amiot wurde von seinem Vater arrangiert. Und Marthe hatte eine noch ganz andere Verbindung zu Adrien Proust. Doch das Schlimmste war, dass Marthe ihren Schwager überhaupt nicht akzeptieren konnte. Sie hatte nicht eine einzige Zeile von ihm gelesen, deshalb verbrannte sie ganz ohne Scheu viele seiner Briefe, Schriften und Photos nach dem Tode ihres Mannes.
Doch glücklicherweise gab es Jacques Guérin, der wie eine Art Privatdetektiv – immer auf der Suche nach neuen Schätzen – einige dieser mehr als wertvollen Papiere aus dem Flammenmeer befreien konnte. Und nicht nur das, auch Möbelstücke wurden gerettet. Per Zufall entdeckte Guérin bei seiner unermüdlichen Suche noch eines der wichtigsten Erinnerungsstücke von Marcel Proust, seinen Mantel…
Es gibt ihn wirklich. Dieser Mantel liegt inzwischen in den Archiven des Musée Carnavalet in Paris. Übrigens ein wunderschönes Palais im Marais Viertel, in dem man heute noch das Schlafzimmer von Marcel Proust bewundern kann. All diese Möbel sind ein Geschenk von Jacques Guérin, auch der Mantel, der jedoch wegen seines schlechten Zustands nun in Seidenpapier eingewickelt in einer Schachtel verbleiben muss.
« Prousts Mantel » ist mehr als nur eine Reportage. Dieses Buch ist eine sehr intensive, aber auch äusserst spannende und sehr leidenschaftliche Geschichte des Fabrikbesitzers und Buchsammlers, der zu einem der grössten Proustverehrer wurde und seinem Drang, Dinge berühmter Persönlichkeiten zu besitzen, nachgeben musste. Faszinierend komponiert mit Texten aus « Auf der Suche nach der verlorenen Zeit » und Photographien wird dieses Werk zu einem absoluten Muss für jeden Proustkenner und Proustliebhaber.
Lorenza Foschini hat mit ihrer literarischen Detektivarbeit ein neues kleines Kapitel in der Proustbiographie aufgeschlagen, das nicht nur das Leben Marcels Bruder Robert etwas neu beleuchtet, sondern sie spricht auch ganz direkt die homosexuellen Neigungen von Marcel und die daraus entstehenden Probleme innerhalb der Familie – vor allem was seine Schwägerin Marthe betrifft – an. Dieses Buch lässt den Leser vieles entdecken, aber auch zur Freude des Proustspezialisten wiedererkennen.
«Prousts Mantel » macht sehr neugierig auf das Leben von Marcel Proust und sein Werk, deshalb ist es auch für den noch unbedarften Proustleser ein ideales kleines biographisches Einführungswerk. Es öffnet die Türen zur Proustschen Welt der Erinnerung und der Leidenschaft. Lorenza Foschini schenkt dem Leser mit dieser Geschichte ein wundervolles Souvenir an Marcel Proust : ein Buch wie ein « literarischer » Mantel, der einen begleitet und wärmt, wie einst Marcel Proust, der in seinem Mantel nicht nur spazieren ging, sondern auch arbeitete und schlief !
Durchgelesen – „Die Teufelssonate“ v. Alex van Galen
Musik kann Leidenschaft erzeugen, Musik kann aber auch zur Obsession werden, wodurch die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn kaum mehr erkennbar sind. Will man die Macht der Musik begreifen, braucht man nur die einzelnen Biographien berühmter Musiker und Komponisten studieren, und man wird zu den ungewöhnlichsten Erkenntnissen kommen. Als wahrlich einfachere und unterhaltsamere Alternative dazu empfiehlt sich dieser faszinierende und sehr fesselnde Roman « Die Teufelssonate » !
Alex van Galen wurde 1965 geboren. Bereits als Kind hatte er durch einen ungewöhnlichen Zufall auf seinem Schulweg den Konzertpianisten Jan Beekmans aus Brabant gehört. Van Galen wurde durch einen wunderbaren Kontakt sein einziger Privatschüler. Aus dieser Schüler-Lehrer-Beziehung entwickelte sich eine sehr wichtige Freundschaft, die van Galen noch heute in seiner Arbeit als Schriftsteller beeinflusst. Er studierte Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht und arbeitete sehr erfolgreich als Drehbuch-schreiber für das Fernsehen. « Die Teufelssonate » ist sein zweiter Roman, der bereits in den Niederlanden in kürzester Zeit zu einem unglaublich grossen Erfolg wurde.
« Die Teufelssonate » spielt in Paris und Amsterdam. Der Hauptprotagonist ist Mikhael Notovich. Er ist nicht nur ein berühmter Pianist, sondern auch ein Frauenverführer und ungebremster Exzentriker, mit dem Hang zu manisch-depressiven Anwandlungen, die ihm nicht nur sein Musikleben kosten, sondern auch andere Menschen in seinem Umfeld verstören und zerstören.
Notovich ist besessen von der Musik, doch trotzdem lernt er immer wieder besondere Frauen kennen. In diesem Fall ist es die junge unbekannte Künstlerin Senna. Sie macht ihn mit ihrer Art einerseits wahnsinnig, andererseits kann er aber ohne sie nicht leben. Sie selbst ist eine sehr schwierige Persönlichkeit, lässt sich treiben, ist mal da, mal dort. Doch Notovich ist ganz verrückt nach ihr und versucht Liebe und Musik unter einen Hut zu bringen. Doch wenn er sich der Musik und hauptsächlich seinem grossen Idol dem Komponisten Franz Liszt hingibt, vergisst er alles um sich herum. Es spielt sich in Trance und verliert jeglichen Bezug zur Wirklichkeit. Und so kommt es dass er sein letztes öffentliches Konzert in einem Pariser Theater musikalisch sehr riskant, aber trotzdem mutig beginnt :
« Notovich fing an zu spielen. Ein Präludium stand auf dem Programm, aber er hielt sich nie an Programme. Er begann mit der fünften Transzendentalen Etüde von Franz Liszt. Diese Etüde ist schwindelerregend schwierig, beinahe unspielbar. Kein normal denkender Mensch würde ein Konzert damit eröffnen. »
Er spielte sich in einen wahren Rausch und bemerkte keine Sekunde, dass seine Hände voller Blut waren. Der Direktor des Theaters unterbrach das Konzert und zwei Polizisten führten Notovich ab. Er wurde verdächtigt, seine grosse Liebe Senna getötet zu haben. Doch Notovich erinnerte sich an gar nichts, er hatte oft Blackouts, auch beim Spielen. Die Polizei konnte ihm nichts konkretes nachweisen, deshalb verlässt er Paris und geht nach Amsterdam. Doch da taucht plötzlich sein Konkurrent Valdin auf. Er lädt Notovich zu einem geheimen Konzert ein und fordert ihn zu einem Pianisten – Duell heraus. Valdin provoziert ihn in Punkto seiner Besessenheit bezüglich der Liszt’schen Kompositionen und versucht ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Denn Valdin ist der Einzige, der das Geheimnis um den Tod von Senna in allen Details kennt…
Der Thriller nimmt seinen rasanten Lauf. Wir befinden uns in einem Rausch, der verwoben ist mit Liebe, Leidenschaft, Hass, Enttäuschung und sehr viel emotionaler Musik von Chopin, Rachmaninoff und natürlich von Franz Liszt. Und nach knapp vierhundert Seiten erwacht der Leser aus einem musikalischen Höllen-Traum, der die Musik nicht nur von seiner freundlich hellen, sondern besonders auch von seiner absolut düsteren Seite zeigt.
Alex van Galen ist mit seiner « Teufelssonate » ein atemberaubendes Buch gelungen, das durch die anspruchsvolle Sprache, die subtile Spannung, die einen immer mal wieder an Alfred Hitchcock erinnert, und durch die sehr fundierten Informationen über Pianisten und Komponisten beeindruckt. Gleichzeitig spürt man bei diesem Buch auch die Kunst des Drehbuch-schreibers, der hier am Werk ist. Rückblenden und Gegenwart im ständigen Wechsel, die feine Charakterisierung der Hauptakteure und die ständige Präsenz der Musik, all dies würde sich ganz wunderbar in einen Film verwandeln lassen. Man sieht die zwei Klaviervirtuosen direkt vor den lesenden Augen, «hört» das Spiel und fühlt sich dadurch immer mal wieder an berühmte Pianisten erinnert, wie beispielsweise Sviatoslav Richter – der auch nur im Dunkeln mit einem kleinen Spot für die Klaviertasten spielte – oder Lazar Berman – der Hände wie ein Bär hatte und mehr als eine Oktave greifen konnte – .
Diese Bildhaftigkeit macht diesen Roman zu einem sehr starken literarischen und extrem spannenden Musikerlebnis. Deshalb ist dieser Pianistenthriller eine richtig gute Lektüre für jeden Klaviermusikliebhaber, der mit Chopin, Liszt und Rachmaninoff vertraut ist. Aber auch der vielleicht nicht ganz so klassik-erfahrene Krimileser wird mit «Der Teufelssonate » auf seine Kosten kommen, denn sie ist mehr als packend und mitreißend. Man könnte von einem echten « Pageturner » sprechen, der darüberhinaus dem Leser noch zusätzlich die wunderbare Welt der Klaviermusik eröffnen kann. Denn was gäbe es nach der Lektüre nicht Schöneres als die berühmte und sehr emotionale Sonate h-moll von Liszt neu oder wieder zu entdecken und dieses grossartige Buch mit all seiner Musikalität nochmals nachwirken zu lassen !
Franz Grillparzer – Gedicht
Regen und Unmut
Böses Wetter, böses Wetter!
Es entladen sich die Götter,
Reinigen ihr Wolkenhaus,
Und die Menschen badens aus.
Durchgelesen – „Die Filmerzählerin“ v. Hernàn Rivera Letelier
Kann man das Kino in eine Art Erzählstunde verwandeln ? Bleibt da nichts auf der Strecke, die Bilder, die Ausstattung, das Licht etc. ? Hernàn Rivera Letelier zeigt uns in seinem kleinen, aber sehr starken Roman « Die Filmerzählerin », was es bedeutet einen Film im Kino sehen zu dürfen und welche Wirkung und Folgen es haben kann, diesen Film erzählenderweise mit Anderen zu teilen.
Hernàn Rivera Letelier wurde 1950 in Talca – Südchile – geboren und wuchs als Kind in der Atacama-Wüste im Norden des Landes auf. Er war begeistert von Literatur und Büchern und besuchte in seiner Jugend als einziger die Werksbibliothek der Minensiedlung. Aufgrund von Armut hatte er im Alter von 21 Jahren mit dem Schreiben begonnen und sofort mit einem Gedicht an einem Preisausschreiben des örtlichen Radioprogramms teilgenommen. Der Hauptpreis war nämlich ein Abendessen in einem feinen Restaurant. Er gewann diesen Wettbewerb mit einem vierseitigen Liebesgedicht und gehört heute zu den meistgelesenen spanischprachigen Schriftstellern !
Der Roman « Die Filmerzählerin » spielt in einer Minensiedlung in der chilenischen Atacama-Wüste. Maria Margarita, ein zehnjähriges Mädchen, ist die Hauptakteurin dieses sprachlich sehr eleganten Buches. Sie lebt mit ihrem Vater, der nach einem Unfall querschnittsgelähmt ist und von seiner schönen Frau verlassen wurde, mit ihren vier Brüdern. Jeder der Familie, ausser dem Vater, hat seine Aufgaben. Die Männer arbeiten im Salpeterabbau und die Frauen sollen sich um den Haushalt kümmern. In diesem Fall versucht Maria diese Rolle zu übernehmen, aber nicht nur diese.
Das einzig Schöne, was diese Siedlung zu bieten hat, ist das Kino. Der Vater trifft immer die Filmauswahl. Doch da das Geld nur für eine Eintrittskarte reichte, wurden Maria und ihre Brüder jeweils einzeln in das Kino geschickt, um den Film anzusehen, nein man sollte treffender sagen, um ihn aufzusaugen. Denn anschliessend musste jeder diesen Film der Familie ganz genau erzählen. Den internen Familien-Wettbewerb hat Maria für sich entschieden und durfte ab diesem Zeitpunkt nun immer als Einzige in das Kino.
Maria spielte mit Herz und Seele, machte Stimmen nach, benutzte Requisiten und schminkte sich, um den Film so realitätsnah wie möglich wiederzugeben. Die Familie war begeistert, der Vater bestätigt, dass er das richtige Kind für diese Aufgabe ausgesucht hatte. Auch die anderen Bewohner der Siedlung beobachteten die Film-Erzählabende und wurden immer neugieriger. Der Vater lud nun auch Freunde ein und ein Gast meinte, man könnte daraus sogar ein Geschäft machen und Eintritt verlangen. Doch man einigte sich auf freiwillige Spenden und somit wurde Maria zur professionellen Filmerzählerin :
„Der « Saal » füllte sich mit Kindern und Erwachsenen, Männern und Frauen. Darunter welche, die sahen sich erst den Film im Kino an, kamen dann zu uns und liessen ihn sich erzählen. Und sagten, wenn sie gingen, der Film, den ich erzählt hätte, sei besser gewesen als der, den sie gesehen hatten. „
Ja und so verwandelte sich das Wohnzimmer in einen Kinosaal und Maria fand immer mehr Spass und Freude an ihrer besonderen Aufgabe und vor allem an ihrem außergewöhnlichem Talent. Es ging so gar soweit, dass sie nun auch von anderen Leuten engagiert wurde, vor allem dann wenn das örtliche Kino keinen Film bieten konnte.
Doch eines Tages wird Maria von einem komischen Mann, dem Geldverleiher der Siedlung, zum Filmerzählen « bestellt ». Normalerweise begleitete sie immer ihr Bruder, doch diesmal hatte sie ihn gehen lassen und die Lage entwickelte sich seltsam. Maria sollte sich auf den Schoss des Mannes setzen, um den Film besser erzählen zu können. Doch die Situation spitzt sich zu und es passieren ganz schreckliche Dinge…
« Die Filmerzählerin « ist ein wunderbar poetisches Buch, mit einem Sinn für das ganz Besondere ! Letelier zeigt sehr vorsichtig, aber trotzdem mit einer emotionalen Wucht die Armut dieser Menschen und ihre daraus entstehenden Probleme. Es beginnt wie in einem Märchen mit einem zarten Zauber, der diese doch schwierigen Lebensbedingungen dank der faszinierenden Wortbilder eher positiv und humorvoll beschreibt. Der Leser ist begeistert von dieser bemerkenswert schönen Begabung des Filmerzählens, einer Kunst, die das Leben lebenswert macht, Freude bereitet und die Menschen auf magische Weise kurzfristig in eine andere und vor allem bessere Welt versetzt.
Letelier charakterisiert mit seinen prägnant klaren Sätzen eingebettet in 44 Kapiteln die einzelnen Lebensschicksale. Wir nehmen Teil an den erzählten « Kinoerlebnissen » und spüren auch die Tragik und die Enttäuschung, die das Leben nicht nur von Maria, sondern auch das ihrer Brüder bestimmen werden.
« Die Filmerzählerin » ist nicht nur ein ideales Buch für Cineasten, die diese Lektüre sicherlich besonders geniessen werden. Es ist aber auch ein Werk für jeden anspruchsvollen und neugierigen Leser, der beim Schmökern dieses Romans nicht nur Buchstaben, sondern bereits nach dem ersten Kapitel eine Filmszene vor Augen haben wird, denn Lesen ist wie Kino, nur im Kopf !
Charles Baudelaire – Gedicht
Der Albatros
Oft kommt es dass das schiffsvolk zum vergnügen
Die albatros – die grossen vögel – fängt
Die sorglos folgen wenn auf seinen zügen
Das schiff sich durch die schlimmen klippen zwängt.
Kaum sind sie unten auf des deckes gängen
Als sie – die herrn im azur – ungeschickt
Die grossen weissen flügel traurig hängen
Und an der seite schleifen wie geknickt.
Der sonst so flink ist nun der matte steife.
Der lüfte könig duldet spott und schmach:
Der eine neckt ihn mit der tabakspfeife
Ein andrer ahmt den flug des armen nach.
Der dichter ist wie jener fürst der wolke –
Er haust im sturm – er lacht dem bogenstrang.
Doch hindern drunten zwischen frechem volke
Die riesenhaften flügel ihn am gang.
(aus „Die Blumen des Bösen“ übersetzt von Stefan George)
Ernest Hemingway – Zitat
„Autoren sollten stehend an einem Pult schreiben. Dann würden ihnen ganz von selbst kurze Sätze einfallen.“

Durchgelesen – „Flaneur in Paris“ v. Guillaume Apollinaire
Walter Benjamin hat 1929 die Neuausgabe des « Le flâneur des deux rives » (erstmals erschienen 1919) unter dem Titel « Bücher, die übersetzt werden sollten » in der Frankfurter Zeitung rezensiert. Jetzt erscheint dieses Werk von Guillaume Apollinaire mehr als 80 Jahre nach Benjamins Anregung endlich zum aller ersten Mal in deutscher Übersetzung.
Guillaume Apollinaire wurde am 26. August 1880 in Rom geboren und starb am 9. November 1918 in Paris. Er war ein französischer Autor polnisch-italienischer Abstammung, der durch seine aussergewöhnliche Lyrik, welche zu den bedeutendsten der französischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts zählt, berühmt wurde. Seine Kindheit verbrachte Apollinaire noch in Rom, sein Schulzeit erlebte er bereits in Monaco, wohin die Mutter gezogen war, nachdem sich ihr Geliebter – ein hochrangiger Offizier – von ihr getrennt hatte. Ab Anfang 1899 kam es zum nächsten Umzug, diesmal nach Paris, was wieder durch einen neuen Liebhaber der Mutter ausgelöst wurde.
Die Lehrjahre in Paris waren nicht einfach. Ohne jeden Schulabschluss, denn er hatte das Abitur nicht abgelegt, versuchte er sich mit einfach Jobs über Wasser zu halten, arbeitete als « Ghostwriter » und schrieb Gedichte und Erzählungen. Er reiste ein Jahr – inspiriert durch eine Französischschülerin – durch verschiedene Länder unter anderem auch nach Deutschland (Berlin u. Dresden).
Ein Wendepunkt ist sicherlich das Treffen im Jahre 1905 mit Picasso, welcher Apollinaire die Tür zu dem Kreis der Pariser Avantgarde-Maler öffnete. Der Austausch über Kunst faszinierte ihn so sehr, dass er sich mehr und mehr als Kunstkritiker fühlte. 1912 erschien seine berühmte Lyriksammlung unter dem Titel « Alcool », die jedoch erst nach seinem Tode zu einem bis heute anhaltenden Erfolg wurde. 1914 meldete sich Apollinaire gleich nach Beginn des 1. Weltkrieges aus lauter Begeisterung darüber freiwillig zum Dienst. 1915 war er dann endlich an der Front und ein Jahr später wurde er leider durch einen Granatsplitter an der Schläfe schwer verletzt und musste mehrmals operiert worden.
Sein letztes Buch « Flaneur in Paris », was er noch vor seinem Tod vollendete, aber erst einige Monate später nach seinem Tod erschienen war, wurde jedoch bereits 1918 durch einen befreundeten Verleger als Projekt vorbereitet.
« Flaneur in Paris » sollte eigentlich ein Roman werden, aber Apollinaire hatte seinem Verleger einfach die letzten feuilletonistischen Textes aus den Jahren 1910-1918 gegeben.
« Flaneur in Paris » ist demnach eine Art Sammlung von zehn Geschichten, die uns in Form von literarischen Spaziergängen durch das Paris Anfang des 20. Jahrhunderts führen. Es beginnt mit « Erinnerungen an Auteuil » damals noch ein Vorort von Paris, inzwischen liegt Auteuil im 16. Arrondissement. Apollinaire wohnte von 1909 – 1913 in Auteuil, weil seine Freundin, die Malerin Marie Laurencin, dort lebte. Er beschreibt die Strassen und die Häuser, und wundert sich, dass nichts mehr so ist wie zu Balzacs Zeiten.
In den weiteren Geschichten wie zum Beispiel « Die Buchhandlung von Monsieur Lehec », die sich um einen Buchhändler dreht, der seinen Bücher nicht wirklich verkaufen möchte, lernen wir das Pariser Verleger- und Buchhändlerleben kennen. Apollinaire erzählt aber auch von Künstlern und Dichtern, die in der Nähe der Rue de Buci – eine Strasse im Viertel Saint-Germain des Près – gelebt haben. Er führt uns auch noch in das Viertel um den Place Pigalle und an die grossen Boulevards, wo er in einem Café den Autor Ernest La Jeunesse kennenlernt.
In der Geschichte « Die Quais und die Bibliotheken » begleitet uns Apollinaire – obwohl er schreibt :
« Ich gehe möglichst selten in die grossen Bibliotheken. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentliche Bibliothek. »
– nicht nur durch Pariser Bibliotheken, sondern auch durch besondere und beeindruckende Bibliotheken Frankreichs und verschiedenster anderer Länder, die er während seiner Reisen besucht hatte. Dabei entdeckt er immer wieder neue Werke, Verzeichnisse und sogenannte « Phantasie-Kataloge » unter anderem mit fiktiven Büchern, die ihn nicht nur zum staunen, sondern auch zum Schmunzeln bringen. Doch letztendlich ist er – um wieder auf Paris zurückzukommen – nur davon überzeugt :
« Kann man in Paris einen schöneren Spaziergang machen ? Wenn man Zeit hat, sollte man für das Stück von der Gare d’Orsay zum Pont Saint-Michel ruhig einen ganzen Nachmittag einplanen. Es gibt auf der ganzen Welt bestimmt keinen reizvolleren, keinen angenehmeren Spaziergang.«
Und damit hat er sicherlich Recht, auch wenn sich als einzige kleine Veränderung nach fast hundert Jahren der Gare d’Orsay sich in das Musée d’Orsay verwandelt hat. Genauso wie es Apollinaire uns hier beschreibt, können wir heute noch diesem Weg folgen : entlang der Seine, mit Blick auf den Louvre auf der anderen Seine-Seite, vorbei an dem Institut de France, weiter an der Seine von der Pont-des-Arts über Pont Neuf zum Pont Saint Michel.
Diese literarischen Streifzüge sind etwas ganz besonderes. Apollinaire ist immer auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen und leicht Skurrilen, auch wenn alles im ersten Augenblick eher etwas beschaulich und harmlos aussieht. Man spürt bei jeder dieser Geschichten, die wahre Poesie und den Lyriker. Aber auch das Mystische und Surreale wird keineswegs vernachlässigt. Kurzum dieses 120 Seiten starke Büchlein, das durch hervorragende Erläuterungen und einem äusserst informativen Nachwort des Übersetzers Gernot Krämer ergänzt wurde, ist ein echtes Bijou der französischen klassischen Literatur. Deshalb freut es uns um so mehr, es endlich nach so langer Zeit in dieser herausragenden Übersetzung lesen zu dürfen.
« Flaneur in Paris » ist eines der schönsten Bücher und einer der wenigen Klassiker, der in den letzten Jahren in Deutschland neu im Sinne der Erstübersetzung erschienen ist. Der Leser hat nun zwei wunderbare Möglichkeiten: er kann nun auf den Spuren von Apollinaire durch Paris schlendern und von dieser Stadt träumen, aber er kann auch mit diesem Buch auf den Spuren von Apollinaire in Paris bummeln und diese Stadt in vollen Zügen geniessen.