Durchgelesen – „Der Sommer ohne Männer“ v. Siri Hustvedt

Ehebruch und Betrug gehören zu den klassischen Themen der allseits beliebten Frauenliteratur. „Der Sommer ohne Männer“ unterscheidet sich jedoch ganz klar von den gewöhnlichen Beziehungskisten-romanen mit viel Herz und Schmerz, bei denen man bereits auf der ersten Seite weiss, wie das letzte Kapitel endet. Nein, dies ist ein grandioser Roman über Frauen und Männer und über die zwischen beiden Geschlechtern oft daraus entstehenden Probleme, welche nicht nur Leid verursachen, sondern sehr wohl auch positive Erfahrungen und wichtige Erkenntnisse zur Folgen haben können.

Siri Hustvedt hat sich mit diesem gerade frisch auf deutsch erschienen Werk selbst übertroffen, denn so ironisch und witzig haben wir sie in den letzten Jahren selten erlebt. Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie ist die Tochter einer Norwegerin und eines Professors für norwegische und amerikanische Geschichte. Schon als junges Mädchen wollte sie unbedingt Schriftstellerin werden. 1980 lernte sie den Autor Paul Auster kennen, den sie ein Jahr später heiratete. 1986 beendete sie ihre Promotion in englischer Literatur mit einer Arbeit über Charles Dickens. Berühmt wurde sie durch die Romane „Die Verzauberung der Lily Dahl“ (1992) und „Was ich liebte“ (2003). 2008 erschien „Die Leiden eines Amerikaners“ und vor einem Jahr „Die zitternde Frau“. Sie lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Paul Auster und der gemeinsamen Tochter in Brooklyn.

„Der Sommer ohne Männer“ analysiert auf intellektuelle und gleichzeitig amüsante Weise die Beziehung zwischen der New Yorker Dichterin Mia und dem Neurowissenschaftler Boris. Sie stecken beide in einer echten Krise. Diese Krise nennt Boris charmant diplomatisch eine „Pause“. Doch für Mia war sofort klar, dass diese „Pause“ zweibeinig ist:

„Die Pause war eine Französin mit schlaffem, aber glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Rechteckbrille und einen exzellenten Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute, dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre signifikanten Bereiche stürzte.“

Mia ist so geschockt! Nachdem Boris ihr erklärte, dass er eine „Pause“ bräuchte, dreht sie total durch und landet schliesslich in der Psychiatrie. Sie wird mit Psychopharmaka ruhig gestellt, denn sie leidet an einer kurzfristigen psychotischen Störung, die man auch als „Durchgangssyndrom“ bezeichnet. Sie ist verrückt, aber zum Glück nicht lange. Nach gut zehn Tagen wird sie aus der Klinik wieder entlassen und weiterhin von ihrer Frau Dr. S. ambulant betreut. Mia braucht jetzt selbst eine Pause und fährt zur Erholung in ihre Geburtsstadt in Minnesota, in die Nähe ihrer neunzigjährigen Mutter, die dort in einem Altersheim wohnt.

Mia mietet sich ein nettes Haus, lernt nicht nur ihre Nachbarin – Mutter von zwei kleinen Kindern – kennen, die sich oft lautstark im Garten mit ihrem Mann streitet, sondern auch die entzückenden Freundinnen ihrer Mutter. Alle Damen sind Witwen und äusserst interessante Charaktere, vor allem Abigail, die ein ganz besonderes Hobby hat. Mia verbringt viel Zeit mit ihrer Mutter und gibt einen Lyrikkurs für sieben pubertierende Mädchen, die nicht nur begeisterte Mini-Dichterinnen werden wollen, sondern auch sich gegenseitig das Leben ziemlich schwer machen.

Dazwischen grübelt Mia über ihren untreuen Boris nach und macht sich Gedanken über die Männer ganz im Allgemeinen. Sie ist wütend und enttäuscht und beginnt, eine Art erotisches Tagebuch zu führen, welchem sie ihre Gefühle und Erinnerungen in Punkto Liebe, Sex und Ehe anvertraut. Aber nicht nur diese Verarbeitungsform, auch die neuen Freundschaften, die sie in ihrer Heimat schliessen kann und die spannende Arbeit als Kursleiterin haben sie auf ganz neue Wege gebracht. Die Erholung wird mehr und mehr spürbar und die neue Lebensfähigkeit auch ohne Boris ist deutlich erkennbar. Und genau das könnte der Auslöser und die Gelegenheit für ihren Mann sein, Mia wieder interssant und attraktiv zu finden. Boris erkundigt sich nach ihr in Form von kleinen Briefen und schmeichelt ihr. Und Mia macht sich ein wenig lustig darüber und geniesst gleichzeitig im Stillen! Denn eines ist ganz sicher, Frauen wollen umworben werden….

„Der Sommer ohne Männer“ wird aus der Sicht der Dichterin Mia in der Ich-Form erzählt, das den Leser in die Seele einer intellektuellen Frau auf so wunderbar poetische und gleichzeitig freche Weise hineinzieht. Durch die faszinierende  Mischung zwischen Tagebucheintrag, Gedanken, Erlebnissen, Telefongesprächen, Briefen und Gedichten ist dieses Buch nicht nur äusserst kurzweilig, sondern auch sehr klug und wahnsinnig erfrischend.  Siri Hustvedt spricht den Leser direkt an, als würde sie sich mit ihm verbünden bzw. ihn ins absolute Vertrauen ziehen. Was für ein intelligenter Schachzug in Bezug auf Leserbindung.

„Der Sommer ohne Männer“ ist kein Roman, den man so en passant herunterliest. Er bedarf einer gewissen Konzentration und Aufmerksamkeit, denn es ist ein sehr anspruchsvolles und sprachlich unglaublich komplexes Werk. Siri Hustvedt fordert uns als grossartige Erzählerin heraus mit Ironie, Humor und Geist über die Empfindungen dieser Frau oder der Frau im Allgemeinen nachzudenken. Hier geht es nicht um Klischees oder Männerhass, ganz im Gegenteil, hier wird die weibliche Demut zelebriert und der Mut und die Kraft, sich selbst wiederzufinden, brillant geschildert. Siri Hustvedt schenkt uns ein wunderbares Buch über Frauen im Lauf der Jahrhunderte, über die Reife eines Lebens und die weibliche Sensibilität. Ein hoch literarisches Highlight in der Fülle der sogenannten „Frauenliteratur“, das man insbesondere Männern sehr ans Herz legen sollte!

Alfred de Musset – Gedicht

Was Poesie ist?

Erinnrung scheuchen, doch ergreifen den Gedanken,
Ihn sanft um goldene Axe brechen ohne Wanken,
Unruhig, ungewiss, zugleich doch unbeweglich;
Verewigen einen Traum von wenigen Minuten,
Aufsuchen zwischen Gut und Schön die Harmonie,
Uns aus dem Herzen sich erhorchen sein Genie;
Hell singen, lachen, weinen, ziellos, leicht erreglich;
Aus bloßem Lächeln, Seufzern, Worten, Blickesgluten
Ein reizend Werk zu schaffen, um aus milden
Herztränen Perlen bilden:
Das ist des Dichters Leidenschaft voll Lust wie Pein,
Sein Leben und sein Wohl, sein Ehrgeiz dies allein!

Durchgeblättert – „Paris, Liebe, Moden, Tête-à-Têtes“

Paris ist, wie wir alle zu wissen glauben, die Stadt der Liebe, des Luxus und der Mode! Doch Paris ist noch viel mehr, und das können wir in diesem neu konzipierten „Reiseführer“ – „Paris, Liebe, Moden, Tête-à-Têtes“  aus der Reihe corsofolio entdecken. Es handelt sich um eine Mischung zwischen Buch und Magazin. Fest gebunden, Hochformat, inhaltlich voller Geist und hochwertig in der Gestaltung. Also kein klassischer Reiseführer, sondern ein Führer, mit dem man vor allem auch auf seinem heimatlichen Canapé durch die Stadt Paris flanieren kann.

Doch ganz ohne „Reiseleiter“ geht das natürlich nicht. In „Paris“ lernen Sie deshalb ihren ganz persönlichen Gastgeber  – Georg Stefan Troller – kennen.

Georg Stefan Troller ist eigentlich ein gebürtiger Wiener (geboren am 10. Dezember 1921 in Wien). Mit 16 Jahren floh er vor den Nazis durch ganz Europa und emigrierte in die USA. 1949 kehrte er nach Europa zurück, da er ein Stipendium für die Sorbonne in Paris erhielt. Das Studium hatte er jedoch nie begonnen, da er ein interessantes Angebot als Hörfunkreporter annahm. Ende der 50ziger Jahre machte er erste Erfahrungen als Fernsehreporter beim Südwestfunk und begann 1962 mit dem „Pariser Journal“ beim WDR. 1971 wurde er Sonderkorrespondent beim ZDF in Paris. Troller ist Schriftsteller, Fernsehjournalist, Drehbuchautor, Regisseur und Dokumentarfilmer. Er lebt inzwischen seit über 60 Jahren in Paris!

Gleich zu Beginn dieses besonderen Paris-Führers zeigt uns der Gastgeber G.S. Troller, „Was der Pariserin wichtig und dem Pariser unentbehrlich ist.“ Warum ist Paris die schönste Stadt der Welt, obwohl angeblich die Lebensqualität nicht so hoch ist. Wer lebt in Paris, was ist ein „Bobos“ oder BCBG“? Wussten Sie, dass „Pariser(in) sein bedeutet kultiviert sein“? Oder dass auch Demonstrationen zur Pariser Kultur gehören, wie eines der gerade ganz populären Museen wie beispielsweise die Fondation Cartier am Boulevard Raspail. Und was wäre Paris ohne der berühmten Modeszene: Was zieht man an? Wie sieht der neue Look aus. Wichtig ist vor allem eins, nichts zu übertreiben. Der Pariser legt wert auf dezenten Chic ohne Protz oder dem sogenannten „bling-bling“. Die Liebe sollte natürlich auch nicht zu kurz kommen, deshalb ist das Flirten – „Draguer“ besonders wichtig. Troller gibt klare Tipps, wo es sich am besten flirten lässt, wie zum Beispiel auf den Sonnenterrassen der Cafés in der Nähe der Eglise Saint-Germain-des-Prés und im Garten des Jardin du Luxembourg.

Durch unseren Gastgeber lernen wir aber auch noch viele andere Autoren kennen, die in irgendeiner Beziehung zu Paris stehen. Da treffen wir zum Beispiel Peter Stamm, der uns erzählt, wie er mit 19 Jahren zum ersten Mal nach Paris kommt. Oder Julia Kronberg, die sich auf die Suche nach dem Pariser Mann begibt. Paul Nizon versucht uns die französische Frau zu erklären. Aber auch Louis Begley, Anne Weber und Ullrich Fichtner kommen unter anderem zu Wort. Spannend ist auch das Sätze-beendende-Interview mit der Käsehändlerin Martine Dupont und nicht zu vergessen das sogenannte Journal. Hier spazieren wir auf dreissig Seiten durch das literarische Paris unter anderem mit Michel de Montaigne, Frédéric Beigbeder, Ernest Hemingway, Patrick Süsskind  und Georges Simenon.

„Paris, Liebe, Moden, Tête-à-Têtes“ ist ein außergewöhnlicher Reiseführer, der den Leser das Besondere und das Mehr entdecken lässt. Ein Reiseführer im Großformat, der nicht in die Handtasche passt und nur als Vor-oder Nachbereitung gelesen werden sollte. Denn er gibt keine Hotel- und Restaurantempfehlungen oder ähnlich praktische Reisetipps. Nein, dieser Reiseführer erzählt über die Stadt, über die Besonderheiten, über Begegnungen, über die Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit. Mit ungewöhnlichen Fotos, sowohl schwarz-weiss und in Farbe, werden wir hineingezogen in die geheimnisvolle Magie dieser Stadt, die einen nie mehr loslassen wird, sobald man sie entdeckt und verstanden hat.

Durchgelesen – „Umgang mit Grössen“ v. Walter Kempowski

„Umgang mit Grössen“ von Walter Kempowski ist ein ganz besonderes Buch – eine Miniatur-Biographien-Galerie über Schriftsteller. Deshalb sollte man auch den ergänzenden Untertitel „Meine Lieblingsdichter – und andere“ nicht unerwähnt lassen.

Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 geboren und starb am 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme. Er ist einer der bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit und wurde durch seine autobiographischen Romane „Tadellöser & Wolff (1975) und „Ein Kapitel für sich“ (1979) berühmt. Das besondere Stilelement in den Werken Kempowskis ist die Kunst der literarischen Collage, das eine Art Vermischung und Aneinanderreihung von Liedtexten, Zitaten, Reklameschriften und Berichten von Zeitzeugen beeinhaltet. Nicht alle seine Werke sind in diesem Stil geschrieben, aber das grösste Oeuvre – „Das Echolot“ -, ist in dieser Form angelegt, welches 1993 beginnt und nach 12 Jahren endgültig mit dem zehnten Band komplett veröffentlicht wurde. Es war ein literarisches Event und gleichzeitig auch sein krönender Abschluss. Zwischen 1997 und 1999 schrieb Walter Kempowski im Rahmen einer Auftragsarbeit der „Welt am Sonntag“ kleine Autoren-Biographien, die er für ein Projekt 2002 vorbereitet hatte. Jetzt erscheint glücklicherweise aus dem Nachlass und durch den Einsatz des langjährigen Wegbegleiters Karl Heinz Bittel dieses wunderbare Projekt in Buchform.

Über 90 Biographien auf 280 Seiten öffnen Türen zu Lebenswelten bereits verstorbener und noch lebender Dichter. Ein Panoptikum, das ihres Gleichen sucht vor allem was die Prägnanz betrifft. Sicherlich kann man sich fragen, was erfährt man auf gerade mal zwei bis drei Seiten über einen Autor? Doch die Länge einer Biographie sagt eben noch lange nichts aus über die eigentlich wichtigen Informationen. Walter Kempowski wird hier zum Plauderer und lässt uns ganz ungeniert daran teilhaben, was er so über seine Schriftstellerkollegen denkt.

Die Auswahl seiner Lieblingsdichter und auch der sogenannten Anderen, wie wir bereits aus dem Untertitel leicht ironisch herauslesen können, ist genial. Denn wer würde zwischen hoch literarischen Autoren wie beispielweise  Honoré de Balzac, Truman Capote, William Faulkner, Johann Wolfgang von Goethe, Marcel Proust und Leo Tolstoi einen Bestsellerautor wie Heinz G. Konsalik oder Johannes Mario Simmel erwarten. Und genau diese Mischung macht dieses Buch so unglaublich lebendig und spannend.

Kempowski interessiert sich nicht nur für das bereits vielen Lesern bekannte und in klassischen Biographien beschriebene Leben dieser Autoren, nein er ist neugierig auf Kuriositäten, Macken und Marotten dieser Schreibkünstler. Er findet die zum Teil ungewöhnlichen Ess- und Trinkgewohnheiten mancher erwürdiger Literaten mehr als amüsant. Er hat einen Faible für die verschiedenen Bärte und die Bekleidung. Aber auch die unterschiedlichen Malheurs und Todesarten seiner Dichterfreunde lassen ihn aufmerksam werden.

Dieses Buch ist aber auch ein Wunderwerk an privaten Erlebnissen und ein Sammelsurium origineller Dichteranekdoten. Er schreibt bespielsweise über eine Begegnung mit Thomas Bernhard, als dieser extra aufgestanden war, als er an seinen Tisch trat und er damit nicht nur sein vernarbtes Gesicht, sondern auch Bernhards neue Cordhose gesehen hat. Fjodor Dostojewski war für Kempowski ein sehr wichtiger Schriftsteller, mit dem er eine gemeinsame Erfahrung teilte: sie haben beide in Sibirien gesessen, als Angehörige eines revolutionären Kreises. Aber auch die französischen Autoren haben es ihm angetan und er bedauert es immer sehr, dass er seine Werke nicht im Original lesen kann. Doch Gustave Flaubert bewundert er noch aus einem anderen Grund:

„Gustave Flaubert «der Heilige des Romans», der «Kunstmönch», der Wegbereiter des L’art pour l’art? Für mich ist er zuerst der Mann mit dem schönen Schnurrbart, der als Glückspilz antrat: Er zog nämlich die richtige Nummer und entging dem Militärdienst.“

Walter Kempowski erklärt wirklich aus seinem ganz persönlichen Blickwinkel, was ihn an einem Autor interessiert oder nicht, welchem Autor er sehr nahe ist, und welcher einfach Glück hatte, auf Bestsellerlisten zu stehen und Preise zu bekommen, die er vielleicht seiner Ansicht nach nicht verdient hätte. Kempowski würde sich nie ein Foto von Hesse auf seinen Schreibtisch stellen, da ihm sein Äusseres nicht so gefällt, dagegen findet er ein Bild von Thomas Mann „erwärmend“. Er verehrt James Joyce, zieht den Hut vor dem Auflagen-Erfolg des Schriftstellers Heinz G. Konsalik und als Lieblingsautor nennt er immer zur Verblüffung der Journalisten die französische Autorin und Wegbereiterin des „nouveau roman“ Natalie Sarraute, die in Deutschland nur sehr wenige kennen.

„Umgang mit Grössen“ ist eine Art literarisches Biographie-Lexikon, was sich durch eine unglaublich brutale Subjektivität von Seiten Walter Kempowskis, aber auch durch feinfühlige und gleichzeitig respektlose Verehrung und Bewunderung seiner „Lieblingsdichter  – und andere“ auszeichnet. Jede einzelne Miniatur-Biographie ist wie das „Amuse gueule“ eines grossen bevorstehenden Menus. Walter Kempowski macht Appetit auf mehr, auf das ganze Dichterleben, auf alles, was diese Schriftsteller zu bieten haben. Welch eine grosse Freude, dass nun endlich dieses Buchprojekt nach fast zehn Jahren realisiert wurde und dass wir uns als anspruchsvoller Leser mehr als glücklich schätzen können, diese beeindruckende Sammlung berühmter Dichter-Lebensgeschichten von Walter Kempowski in den Händen halten zu dürfen.

„Umgang mit Grössen“ ist ein wahrlich sensationelles Buch, vor allem für den interessieren Leser, der wenig Zeit hat und trotzdem das Besondere wissen möchte. Selten waren Biographien so kurzweilig, bissig und amüsant wie hier. Probieren Sie es aus! Sie werden sich festlesen und sofort erkennen, warum hier in der Kürze, die Würze liegt!

Durchgelesen – „Meine Krönung“ v. Véronique Bizot

Gewiss ist man glücklich über eine Auszeichnung! Aber freut man sich auch dann noch, wenn man bis jetzt eigentlich mehr oder minder in Vergessenheit geraten war, sein Leben bereits gelebt hat und man am liebsten nur noch seine Ruhe möchte. Genau dann kann eine Ehrung oder Auszeichnung sogar zu einem echten Problem werden, vor dem sich nur sehr schwierig flüchten lässt! Alt sein hat Vorteile so lange man machen kann, was man will. Doch was passiert, wenn man im Alter plötzlich wieder entdeckt wird und das Telefon nicht mehr still steht?

Genau diese spannende Frage beantwortet Véronique Bizot in ihrem sehr originellen Erstlings-Roman „Meine Krönung“ (Mon couronnement), der ganz aktuell in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie hat vorher bereits mehrere Novellen veröffentlicht und mit dem Buch „Meine Krönung“ zwei der wichtigsten französischen Literaturpreise erhalten: 2010 den Grand Prix du Roman der französischen Schriftstellervereinigung und den Prix Lilas – ein Preis für Frauen von Frauen, der in dem berühmten Pariser Literaten-Bistrot La Closerie de Lilas in Paris jedes Jahr verliehen wird. Véronique Bizot ist 1958 geboren. Sie lebt und arbeitet als Journalistin in Paris.

Der Protagonist und Ich-Erzähler dieses Romans ist der 89 Jahre alte Wissenschaftler Gilbert Kaplan. Ein Mann, der viel erlebt hat, verheiratet war, einen Sohn gezeugt hat und dessen Frau sich aus dem Fenster seines Landhauses gestürzt hat. Und jetzt soll er für eine frühere Entdeckung ausgezeichnet werden, an die er sich kaum mehr erinnern kann. In einem Labor hatte er so einiges erforscht, aber jetzt nach so vielen Jahren der Stille und Zurückgezogenheit, steht er plötzlich im Mittelpunkt. Die Presse steht vor seiner Tür, bedrängt ihn unaufhörlich und Monsieur Kaplan möchte eigentlich nur flüchten, doch wohin?

Als „Fluchthelferin“ eignet sich am besten seine Haushälterin und Lebensbegleiterin Madame Ambrunaz, eine ältere, aber äusserst beharrliche Frau, die sich immer wieder etwas neues einfallen lässt und wenn es nur die berühmten Linsen sind, die sie für Monsieur Kaplan ständig kocht:

Am Ende sind die Leute dann doch irgendwann gegangen, und ich war wieder allein in der Wohnung, mit Madame Ambrunaz, die in der Küche Linsen kochte, ich hörte das Rasseln der Linsen beim Waschen, ich dachte, dass man die Linsen aus Le Puy, die ich immer im Supermarkt kaufe, gar nicht zu waschen braucht und dass ich sie obendrein heute Abend ganz bestimmt nicht essen würde.“

Aber nicht nur die Linsen, auch seine Gedanken und Erinnerungen an frühere Zeiten sind eine Art Flucht. Dann taucht auch noch sein jüngerer Bruder auf, dessen letztes schriftstellerisches Werk er noch gar nicht richtig bewundert hat. Gilbert Kaplan wird immer unruhiger je näher der Tag seiner „Krönung“ rückt. Um die Zeit bis zur Preisverleihung zu verkürzen und sich nicht ständig dem Ansturm der Journalisten aussetzen zu müssen, schlägt Madame Ambrunaz eine Reise vor, und zwar nach Le Touquet – ein kleiner Ort am Meer der im Departement Calais liegt. Sie versucht alles, um Monsieur Kaplan zu unterstützen und aus seiner Lethargie, vor allem aus seiner ganz speziellen äusseren und inneren Unordnung herauszuholen. Es geht soweit, dass sie sich sogar um ein gemeinsames Grab für sich und Monsieur Kaplan gekümmert hat. Mme Ambrunaz ist eine ganz besondere Frau, die sich vor nichts bzw. niemanden beirren lässt, auch nicht von einem grantigen und schwermütigen Wissenschaftler. Doch die grösste und am meisten unerwartete Überraschung, die sie ihm jemals bereiten konnte, passiert ganz unvorhergesehen kurz vor der Preisverleihung….

„Meine Krönung“ ist der Roman eines verbitterten alten Mannes, eines Misanthropen, der in einem Appartement in der Rue Saint-Lazare in Paris wohnt und nur in Ruhe gelassen werden möchte, was schon ein wunderbar gelungener Widerspruch an sich ist. Denn die Rue Saint-Lazare, die direkt zum Gare St. Lazare führt, ist alles andere als ruhig, vollkommen hektisch und laut. Hier spüren wir schon die leichten Spötteleien über Ruhe, Alter und Menschenfeindlichkeit, welche die Hauptperson irgendwie sympathisch werden lassen. Der Roman hat einen unglaublich feinen Humor, der durch die beeindruckend beschriebene Interaktion zwischen Gilbert Kaplan und seiner bezaubernd komischen Haushälterin Madame Ambrunaz erst seinen Höhepunkt erreicht.

Mit einem  sehr subtil eingesetzten Sarkasmus zeigt uns Véronique Bizot dieses gelebte Leben, das von einer ausgebremsten Lebendigkeit erzählt, wie es Thomas Bernhard nicht besser beschreiben könnte. Die Kunst der ständigen Verkürzung ist das raffinierte Stilmittel dieses kleinen Romans. Der Leser erfährt immer nur alles in abgespeckter Form, zum Beispiel nicht die genauen Gründe des Selbstmordes seiner Frau, aber auch nichts über die eigentliche wissenschaftliche Arbeit, für die der Protagonist in diesem Buch einen Preis bekommt. Somit überraschen sich nicht nur die Figuren in dem Werk gegenseitig, auch der Leser  wird ständig durch neue Ereignissen verblüfft. „Meine Krönung“ ist gleichzeitig ein leichtes und intensives Buch. Ein Roman voller Witz, aber auch einer gewissen Härte, die uns erwarten könnte, wenn wir alt sind.