Durchgelesen – „Frühstück mit Proust“ v. Frédérique Deghelt

„Frühstück mit Proust“ ist ein charmanter Roman, in dem zwei Frauen – eine Grossmutter und eine Enkelin – die Hauptrolle spielen. Frédérique Deghelt erzählt eine wunderbare Geschichte, die sich um die Fragen des Älterwerdens dreht und warum Bücher und Lesen ein wichtiges Lebenselixier sein können.

Frédérique Deghelt hat bereits viele Romane veröffentlicht und arbeitet als Journalistin und Fernsehregisseurin. Sie lebt in Paris, nur wenn Sie gerade mal nicht auf Reisen ist, denn sie ist eine wahre Kosmopolitin.

Der Roman wird erzählt aus der Perspektive der Enkelin Jade und aus der Sicht der Grossmutter Jeanne, die Jade Mamoune nennt. Die Geschichte beginnt dramatisch, da Jade’s geliebte Grossmutter nach einem Sturz in ihrem Haus in ein Pflegeheim umziehen soll. Mamoune’s Mann war vor drei Jahren gestorben, sie hatte seitdem allein gelebt und fühlte sich etwas hilflos. Das Pflegeheim wurde organisiert durch ihre zwei Töchter (Jade’s Tanten), das in ein raffiniertes Probewohnen verpackt wurde, aber letztendlich als Dauerlösung sich entwickelt hätte. Mamoune liebte ihr Haus und vor allem ihren Garten, deshalb wäre das Pflegeheim sicherlich ihr Untergang. Doch es kommt anders als Mamoune jemals gedacht hätte. Jade entschliesst sich, ihrer Grossmutter zu helfen und sie vor dem Altersheim zu retten. Sie entführt Mamoune nach Paris, wo sie lebt und gründet mir ihr eine nicht ganz ungewöhnliche WG.

Jade möchte all die Liebe, die sie als Kind von ihrer Grossmutter bekommen hat, wieder zurückgeben. Bis jetzt war Mamoune für sie eine warmherzige Frau: eine Bäuerin, eine Frau ohne Bildung und eine beliebte Kinderfrau. Doch plötzlich entdeckt Jade ganz neue Seiten an ihrer geliebten Grossmutter. Jade arbeitet als Journalistin freiberuflich in Paris und hat einen Roman geschrieben, der bereits von verschiedensten Verlegern abgelehnt wurde. Sie ist besonders überrascht, als ihr Mamoune angeboten hatte : „Ich könnte dir vielleicht helfen …“ Jade war irritiert, denn wie sollte sie ihr helfen wollen. Ja und dann erklärte ihr Mamoune warum sie ihr die Hilfe anbieten möchte und auch könnte:

„«Ich habe immer viel gelesen, schon vor ganz langer Zeit. Ich bin eine begeisterte Leserin, ein richtiger Büchernarr, kann man sagen. Bücher waren meine heimliche Liebe, mit ihnen habe ich deinen Grossvater betrogen, der unser ganzes gemeinsames Leben lang nichts davon wusste.»“

Sie erzählte Jade, wann und wie sie heimlich gelesen hatte, damit es ja auch niemand mitbekam. Denn für die Tochter eines Bergbauerns und später als Frau eines Arbeiters war es eher ungewöhnlich, Lesen zu können und zu wollen. Literatur war für die Reichen und Gebildeten, und nichts für jemanden, der gerade mal die Grundschule besucht hatte. Somit musste sich Mamoune etwas einfallen lassen. Immer dann, wenn sie die Babys und Kinder gehütet hatte, las sie ihnen vor: Auszüge von Hugo, Flaubert und Joyce. Sie verwendete die Bibel als „Schutzumschlag“, um diskret Proust lesen zu können. Und so tauchte sie ganz langsam und heimlich ein in die Welt der Literatur.

Jade ist überrascht und begeistert zu gleich. Die zwei Damen verstehen sich immer besser und kommen sich auf eine ganz besondere Weise durch die gemeinsame Leidenschaft des Lesens immer näher. Mamoune hilft im Haushalt, kocht und räumt auf, um Jade das Leben so schön wie möglich zu machen. Aber sie entdeckt auch Paris, das Viertel am Montmartre, wo sie nun lebt. Sie lernt mit dem Internet umzugehen, besorgt sich eine Email-Adresse, begibt sich ganz besonnen auf die Suche nach einem Verleger für Jade’s Roman und sie verliebt sich zu ihrer eigenen und Jade’s Überraschung….

„Frühstück mit Proust“ ist eine entzückende Geschichte über das Lesen und das Alter. Raffiniert und feinfühlig enthüllt Frédérique Deghelt viele Fragen, mit denen wir konfrontiert werden und die wir uns sicherlich immer wieder stellen müssen: Wie gehen wir mit älteren Menschen um? Ist das Altersheim die richtige Lösung? Können Jung und Alt unter einem Dach leben? Der Roman ist keines-falls trivial oder sentimental, nein er ist sehr realistisch. Auch die verschiedenen Erzählperspektiven von Seiten der Enkelin und Grossmutter eröffnen dem Leser ganz überraschende Sichtweisen, die Fréderique Deghelt intelligent und weise beschreibt. Das Buch ist keine intellektuelle Diskussion über Autoren und Literatur, sondern ein sehr herzliches und bewegendes Buch über den Sinn des Lebens.

„Frühstück mit Proust“ ist ein bezaubernder und einnehmender Roman, der sich wunderbar für seelenerwärmende Stunden in den eher kühlen und grauen Novembertagen eignet, aber auch sehr zum Nachdenken anregt, spätestens dann, wenn man den Epilog am Ende des Buches gelesen hat.

Christian Morgenstern – Gedicht

Der Werwolf

Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind, und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

„Der Werwolf“, – sprach der gute Mann,
„des Weswolfs“- Genitiv sodann,
„dem Wemwolf“ – Dativ, wie man’s nennt,
„den Wenwolf“ – damit hat’s ein End.‘

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!

Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar,
doch „Wer“ gäb’s nur im Singular.

Der Wolf erhob sich tränenblind –
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.

Durchgeblättert – „On Reading“ v. André Kertész

André Kertész (1894-1985) war einer der einflussreichsten und produktivsten Photographen des 20. Jahrhunderts. Seine Bilder sind nicht nur einfache Photos von alltäglichen Situationen, es sind wahre poetische „Gemälde“, die den Betrachter sofort in eine magische Vision ziehen. Kertész war gebürtiger Ungar, zog 1925 nach Paris, um hier die tragende Rolle des Photojournalismus und der Modernen Kunst zu begreifen und auch anzuwenden. 1936 hat er jedoch Paris wieder verlassen für eine Position als Photojournalist in New York. Er scheiterte jedoch in dieser Position, verlor dadurch an künstlerischem Ansehen und geriet in Vergessenheit. Doch Mitte der 70ziger Jahre wurde Kertész wieder vollkommen neu entdeckt und für seine wahrlich herausragenden Photos anerkannt. Er gehörte nun zu den wichtigsten Figuren und Vertretern in der Geschichte der Photographie. Seine Aufnahmen aus 73 Jahren Karriere kann man in vielen Museen und Ausstellungen auf der ganzen Welt bewundern.

„On Reading“ ist ein schmaler, aber sehr beeindruckender Bildband, der 66 Schwarz-Weiss-Photos präsentiert, in denen Menschen gezeigt werden, die sich in einem sehr persönlichen, einmaligen und intimen Moment befinden, nämlich während des Akts des Lesens. Die Bilder wurden von 1915 bis 1970 gemacht. Die früheste Momentaufnahme in dieser Kollektion – drei kleine Buben, die ein Buch gemeinsam über ihren Knien halten und ganz vertieft darin lesen – hatte Kertész im Alter von 21 Jahren gemacht. Diese Photographie war der Auslöser für ein lebenslanges Interesse an lesenden Menschen! Kertész photographierte Leser in den verschiedensten Städten wie  zum Beispiel New York, Paris, Venedig und Tokio. Aber auch in seinem Heimatland Ungarn entdeckte er ideale Motive für dieses spannende Thema. Die Menschen in diesen magischen Bildern lesen beispielsweise im Jardin du Luxembourg in Paris, am Washington Square in New York City und in einer Bibliothek in Tokio. Aber nicht nur an elitären Orten wie diesen entdecken wir den „Leser“, nein auch auf einem einfachen Hausdach, sitzend in einem Liegestuhl oder auf der Strasse.

Kertész Bilder sind feinsinnig, spielerisch und sehr poetisch. Sie bestechen durch ihre Klarheit und Einfachheit, welche jedoch dem Moment des Lesens eine besondere und tragende Rolle verleiht. „On Reading“ ist ein ganz besonderer Kunstband. Jeder Liebhaber der Lese – und insbesondere der Photokunst wird sich über dieses schöne Buch freuen, das zum ersten Mal 1971 erschienen ist und nun nach Jahrzehnten wieder neu aufgelegt wurde. Ein Bildband voller Emotionen, Stimmungen und Fantasien. Geniessen Sie den Zauber dieser „Kunstwerke“ und tauchen Sie ein in die Welt des Lesens und der elegant sensiblen Photographie!

Durchgelesen – „Das finstere Tal“ v. Thomas Willmann

Das finstere Tal“ ist ein ungewöhnlicher Roman. Ein Roman, der sich zwischen den drei Genres Heimatroman, Krimi und Western manchmal nicht entscheiden kann und deshalb den Leser extrem in seinen Bann zieht. Die Dramatik dieser Rachegeschichte wird langsam und äusserst subtil aufgebaut, was Thomas Willmann in seinem Debüt-Roman wahrlich grandios gelingt.

Thomas Willmann studierte Musikwissenschaft und machte bereits erste journalistische Erfahrungen während eines Auslandssemesters in den USA. Inzwischen ist er als freier Journalist tätig und hat daneben verschiedene Lehraufträge an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität mit Schwerpunktthema Filmmusik. Seit 2007 ist er auch als Übersetzer tätig.

„Das finstere Tal“ fordert den Leser von der ersten Seite an mit grösster Aufmerksamkeit dem Fremden namens Greider auf dem Weg in ein abgelegenes Tal in den Alpen zu folgen. Die Sprache, die vielleicht anfänglich etwas gewöhnungsbedürftig ist, da sie sehr bildreich, teilweise etwas schwülstig und altmodisch erscheinen mag, spielt in diesem Roman eine tragende Rolle. Der Hauptprotagonist ist jedoch ein Fremder namens Greider.

Greider erreicht nach einer langen Reise auf seinem Maultier endlich das Hochtal, in dem sich ganz versteckt ein kleines Dorf befindet. Beobachtet von der eingeschworenen Dorfgemeinde reitet er in die Mitte des Dorfes, spürt die Abwehr der Männer, fühlt sich sofort als Eindringling, lässt sich aber nicht weiter dadurch irritieren. Greider fragt nach einem Quartier und erklärt, dass er Maler ist. Nach langem Hin und Her wird ihm auf dem Hof der Witwe Gader, den sie mit ihrer Tochter Luzi bewirtschaftet, eine Unterkunft zugewiesen:

„« Sie san also Maler? » begann sie einen Fragenreigen, mit dem sie Greider so viel als möglich über sich, seine Herkunft, seine Absichten, das Leben in der weiten Welt da draussen entlocken wollte – worauf der ihr nur Antworten bescherte, die zwar höflich und freiheraus daherkamen, die aber doch stets knapp und sehr im Allgemeinen blieben. …. Zugleich nutzte der Gast jede Möglichkeit, seine Antworten in Gegenfragen zu kehren, und hatte mit diesen bei der offenherzigen Frau ergiebigeren Erfolg.“

Dies war auch gleichzeitig die Gelegenheit, das Gespräch auf die sechs Männer zu lenken, die ihn zum Haus der Witwe Gader begleitet hatten. Es stellte sich heraus, dass dies die Söhne des allmächtigen Brenner-Bauern waren. Greider war entschlossen nach und nach das Dorf, die Landschaft, die Bauern, kurzum das ganze Tal zu erkunden. Ausgerüstet mit Pinsel und Leinwand beobachtet er die Menschen und hält malenderweise die eigenartige Stimmung fest. Eine positive Fassade, die sich künstlerisch darstellen lässt, die aber nicht im Geringsten das Böse und Düstere verstecken kann. Alles scheint so in seinen Bahnen zu laufen; die Dorfbewohner beruhigen sich langsam wieder, nachdem der Fremde seinen Platz gefunden hat. Doch plötzlich erschüttert das Dorf eine mysteriöse Todesserie. Zu erst verunglückt der jüngste Sohn des Brenner Bauern beim Holzfällen und dann wird auch noch einer seiner Brüder im Mühlbach tot aufgefunden.

Ab diesem Zeitpunkt vollzieht sich ein Wendepunkt in diesem Roman. Flankiert von dramatischen Flash-Backs beschreibt Greider die Vergangenheit seiner Mutter, die mit diesem Dorf und dem Dorfherrscher Brenner unwiderruflich verknüpft ist. Es beginnt eine dramatische Aufarbeitungsgeschichte, die Greider zum Rächer, aber auch zum Retter werden lässt. Mit aller Gewalt versucht er die inzestuösen Machtstrukturen aufzubrechen. Er tauscht sein Werkzeug. Das Gewehr tritt an die Stelle des Pinsels und der Show-Down beginnt …

„Das finstere Tal“ ist ein grossartiges Werk. Thomas Willmann verleiht seiner besonderen Sprache eine Macht, die man selten im klassischen Heimatroman, Western oder Krimi finden kann. Die wenigen Dialoge bestechen durch ihre Kargheit, die Beschreibungen und Schilderungen der extremsten Situationen werden literarisch auf ein unglaublich hohes Niveau katapultiert, so dass man als Leser vor dieser fantastischen Erzählkunst nur noch den Hut ziehen kann. Die Geschichte ist erschütternd, manchmal fast schon brutal, trotzdem feinsinnig und gleichzeitig sehr imposant.

„Das finstere Tal“ ist ein wahnsinnig spannender und atmosphärisch dichter Roman über Liebe, Tod, Schuld und Vergeltung. Beginnen Sie einfach zu lesen und sie werden das Buch nicht mehr weglegen können, denn sie reiten ab der ersten Seite durch einen schaurig-schönen Heimatroman über einen subtilen Krimi in einen dramatischen Western hinein!