Rose Ausländer – Gedicht

Herbstlicher Ausschnitt

Eine schräge Strahlengarbe
schoss vom Himmel wie ein Pfeil,
zeichnete mit goldner Farbe
auf die Erde neues Heil,
sprang im Jubel auf die Dächer,
dass sie wogten wie ein See,
schwang liebkosend einen Fächer
über Dunkelheit und Weh.

Sieh, der Himmel scheint gespalten:
Dort ein düstrer Wolkenstrom
geisterhafter Nachtgestalten;
hier: ein stolzer Sonnendom. –
Fluss und Fenster widerblitzen,
Gassen wiegen sich im Tanz,
und es lächeln selbst die Pfützen
silberklar im jähen Glanz.

Durchgelesen – „Mein Leben in Aspik“ v. Steven Uhly

„Mein Leben in Aspik“ ist der grandiose Debütroman von Steven Uhly. Er selbst ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, war Leiter eines Instituts in Brasilien und übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Zur Zeit lebt er in München.

Dieses Stück Literatur handelt von einer sehr schrägen und lügenbehafteten Familiengeschichte, bei der es ganz schön knallt. Der Leser sollte auf jeden Fall offen für alles sein. Er sollte neugierig und humorvoll sein und es mit der Wahrheit nicht zu genau nehmen. Und er sollte während der Lektüre seinen Moralvorstellungen einen kurzen Urlaub gönnen, was für manche Passagen in diesem Buch sehr hilfreich sein könnte.

Der Roman fängt noch verhältnismässig harmlos an, indem der Ich-Erzähler, ein junger Mann zwischen 25 und 30 Jahre, sich an seine Kindheit erinnert, in der seine Oma ein sehr wichtige Rolle gespielt hat. Sie erzählte ihm im Alter von 9 Jahren als sogenannte Gute-Nacht-Geschichten von ihren Mordplänen bezüglich seines Opas. Wie könnte es funktionieren? Sie wollte ihn vielleicht verhungern lassen, dass wäre eventuell ihr Lieblingsmordplan. Sie schmiedete viele neue Pläne über mehrere Jahre hin bis sie mal fast sechs Monate darüber nichts mehr ihrem Enkel erzählte. Ja und dann war der Opa plötzlich tot.

Danach war die Oma bestens gelaunt und kümmerte sich nun um die sexuelle Aufklärung ihres Enkels, der gerade seine erste Liebe durchlebte. Der Ich-Erzähler wohnte mit seiner Mutter und Oma unter einem Dach, doch die Verbindung zu seiner Mutter war nicht die aller Beste. Erst später als der Ich-Erzähler bereits nach seinem Abitur und wegen seines Philosophie-Studiums nach Köln zog, besuchte ihn seine Mutter, die ständig in Deutschland unterwegs war auf der Suche nach einem passenden Mann. Dieser Besuch war eine Gelegenheit, seine Mutter endlich mal zu fragen, ob sie eigentlich noch seinen Vater liebt:

„«Aber Mama! Ich wollte es nur wissen», versuchte ich sie zu beschwichtigen. …. «Mama, es ist mir ganz egal, was zwischen euch passiert ist, das heisst, nein, es ist mir nicht egal, im Gegenteil: Ich will endlich wissen, was zwischen euch passiert ist!» … «Dein Vater hatte ein Verhältnis mit deiner Oma», sagte sie gepresst. ….«Was?», entfuhr es mir. Dann musste ich lachen, ich musste so laut lachen, dass meine Mutter mich mit offenen Mund anstarrte, während ihr Tränen übers Gesicht liefen.“

Seine Oma hatte tatsächlich ein Verhältnis mit seinem Vater und wurde auch noch vom ihm geschwängert . Sie bekam heimlich eine Tochter, die jetzt bei ihrem Vater lebte. Die Tochter war gleichzeitig nun auch die Schwester seiner Mutter und er war ihr Halbbruder, sie war aber auch noch seine Halbtante. Er kündigte seine Wohnung in Köln und fuhr nach Berlin, um seine Halbschwester und um seinen Vater, der übrigens Spanier war, aufzusuchen. Und dann begann das eigentliche Familien-Enthüllungsabenteuer, das den Leser nur noch stauen und Kopfschütteln, aber auch sehr oft laut lachen lässt.

Der Ich-Erzähler verliebt sich in seine Halbschwester, die von ihm auch noch ein Kind bekommt, wobei auch ihr Vater als Kindsvater in Frage kommen könnte. Der Enkel schwängert auf äusserst ungewöhnliche Weise  auch noch seine Oma und die indische Verlobte seines Vaters. Dieser will seine Verlobte eigentlich gar nicht heiraten, sondern hat es eher auf deren Mutter abgesehen. Die Hochzeit platzt zwischen Vater und Verlobte wegen eines Unfalls, bei dem die Halbschwester vom Ich-Erzähler bzw. die Tochter der Oma ins Koma fällt. Dafür heiratet er nach indischen Ritus die Tochter der Geliebten seines Vaters usw. Sodom und Gomorrha lassen grüssen, aber das ist noch lange nicht alles.

Die Geschichte entwickelt sich turbulent weiter. Der Ich-Erzähler muss unter anderem erkennen, dass sein Vater ein sehr bekannter Bordell-Besitzer in Berlin ist. Er versucht immer mehr diesen Enthüllungen zu entfliehen, obwohl er trotzdem endlich alles über seine Familie wissen will. Bei jedem sogenannten seelischen „Fluchtversuch“ wird er ohnmächtig, was ihn oft noch in verzwicktere Situationen bringt, als man sich überhaupt ausmalen kann. Vor allem immer dann, wenn er seine Halbschwester küsst, überfallen ihn eigenartige Visionen, in denen die dramatischen Szenen seiner Familiengeschichte gezeigt werden, die auch seine Ermordung einschliesst. Doch glücklicherweise werden diese Visionen nur teilweise Realität.

Man könnte denken, diese Geschichte ist haarsträubend und total verrückt. Vielleicht ist sie es auch, aber sie ist so klug konstruiert und extrem schnell komponiert, dass es einem beim Lesen den Atem raubt und man das Gefühl hat, in einer Achterbahn zu sitzen. Der Roman hat keine Kapitel. Er beginnt direkt und endet nach 260 Seiten genauso direkt, somit kann man gar nicht anders, als dieses Buch in einem Zug durchzulesen. Die flotten und treffsicheren Dialoge, die ständig neuen inhaltlichen Entwicklungen, all dies reisst den Leser mit, auch wenn man sich zwischendurch so manche Frage nach Moral stellen möchte, aber gar keine Zeit hat, diese noch zu beantworten.

„Mein Leben in Aspik“ zeigt dem Leser wie wichtig es ist, seine Familiengeschichte zu enthüllen und sich auch nicht vor schlimmeren Überraschungen zu fürchten, die plötzlich ganz ungewollt zum Vorschein kommen könnten. Hier geht es letztendlich für den Ich-Erzähler nur um eins: Was hat mehr Bedeutung – die grosse tiefe Liebe oder der schnelle leichte Sex? Um dies herauszufinden sollten Sie dieses Buch lesen. Tauchen Sie ein in die moralischen und gesellschaftlichen Irrungen und Wirrungen dieses genialen Romans! Sie müssen zwar mit viel Chaos und Katastrophen rechnen, doch Sie werden es auf keinen Fall bereuen!

Wolfgang Borchert – Gedicht

Regen

Der Regen geht als eine alte Frau
mit stiller Trauer durch das Land.
Ihr Haar ist feucht, ihr Mantel grau,
und manchmal hebt sie ihre Hand

und klopft verzagt an Fensterscheiben,
wo die Gardinen heimlich flüstern.
Das Mädchen muss im Hause bleiben
und ist doch grade heut so lebenslüstern!

Da packt der Wind die Alte bei den Haaren,
und ihre Tränen werden wilde Kleckse.
Verwegen lässt sie ihre Röcke fahren
und tanzt gespensterhaft wie eine Hexe!

Durchgeblättert – „Meine wunderbare Buchhandlung“ v. Dirk Kruse

Geniessen wir nicht gerne die Momente in unserer Lieblingsbuchhandlung? Zeit zum Schmökern, ein Ort des Vertrauens, vielleicht sogar das zweite „Wohnzimmer“. Genau dies kann dem Leser und Buchkunden seine wunderbare Buchhandlung bieten. Doch dazu gehört auch noch der Mensch, der diese Buchhandlung einzigartig macht, nämlich der Buchhändler. Eine belesene Person mit viel Verständnis, mit Geduld und Muse, die sich nicht abschrecken lässt von schwierigen Kunden und komplizierten Bibliographieaufgaben. Ein Menschenkenner, der weiss, was der Kunde, der gerade in diesem Moment seine Buchhandlung betritt, gerne liest. Doch, was denken Autoren über ihren Buchhändler und über ihre Buchhandlung?

Ja und genau für diese Frage suchte Dirk Kruse eine passende Antwort. Er studierte Germanistik, Politik- und Theaterwissenschaften. Seit 1995 ist er hauptberuflich als Literatur- und Theaterkritiker für den Bayerischen Rundfunk tätig. Er hat bereits zwei erfolgreiche Kriminalromane verfasst und hat mit seinem Buch „Meine wunderbare Buchhandlung“ die aller erste Anthologie über Geschichten von Buchhändlern und Buchhandlungen herausgegeben. Er selbst findet alle Arten von Buchhandlungen, ob Grosskette, Discounter oder Kleinbuchhandlung spannend: „Ich kaufe in all diesen Läden, in manchen selten, in anderen oft. Aber definitiv gehe ich häufiger in eine Buchhandlung als in eine Metzgerei.“

Eine interessante Tatsache. Es zählt hier mehr die geistige Nahrung. Somit war für ihn klar, dass es nicht nur Geschichtensammlungen über Lesen und Bücher geben kann, sondern es Zeit ist für eine Anthologie über Buchhandlungen. Kruse konnte 14 Autoren gewinnen, dafür ihre Erzählkunst einzusetzen und Geschichten zu schreiben, die teilweise fiktiv, aber auch sehr realistisch sind. Der Band bietet nun 17 Erzählungen und Essays über „wunderbare Buchhandlungen“. Es werden witzige, satirische, kuriose und nachdenkenswerte Begebenheiten geschildert.

Martin Suter berichtet in „Plagiator auf Lesereise“ über eine sehr schwierige Lesung in einem kleinen Ort. Er sollte von der ortsansässigen Buchhändlerin am Bahnhof abgeholt werden, aber leider ist da niemand bei seiner Ankunft. Er war gerade dabei die Nummer der Buchhandlung zu wählen, da wird er angesprochen: „«Ich habe Sie mir viel kleiner vorgestellt», erklärte sie, als sie ihm die Hand schüttelte. «Ich habe Sie auf dem Bahnsteig gesehen, aber weil Sie so gross waren, habe ich nicht auf Ihr Gesicht geachtet. Erst jetzt, als Sie sassen, habe ich Sie erkannt. Ich schlage vor, ich bringe Sie zuerst ins Hotel.»“ Das Hotel entpuppt sich als sehr spartanisch und die Lesung bringt so einige Überraschungen mit sich…

Rolf-Bernhard Essig gibt dem Leser mit seiner skurrilen Mischung aus einseitigem Dialog und innerem Monolog Einblicke in die dunkle Seele einer Buchhändlerin. Ein Kunde – Autoverkäufer – sucht ein Buch: „«Ein Buch? Also davon haben wir eine ganze Menge. Ginge es noch eine Spur genauer? An was dachten Sie denn?» Wie komme ich nur darauf, dass er denken kann. Sprechen, ja, aber höhere, meinetwegen mittlere Hirntätigkeiten – ich weiss nicht, ich weiss nicht. Warum gerate immer ich an solche Schrate? Auf die Weise kann das Jahre dauern. Und in 20 Minuten ist Ladenschluss. Ich wäre jetzt einfach im Lager verschwunden. Hätte dort hinten ein wenig mehr Ordnung reinbringen können. Und dann endlich heimgehen, jedenfalls weit weg von Umstandskramern wie dem hier.“ Die Buchhändlerin ist fast am Verzweifeln, denn der Kunde sucht eine Liebesgeschichte, die verfilmt ist. Er kennt weder den Autor, noch den Titel. Doch die Buchhändlerin wird fündig, allerdings unter sehr schwierigen Bedingungen und mit interessanten Konsequenzen….

Neben diesen zwei Beispielen erzählen unter anderen noch Thommie Bayer, Ulla Hahn, Eckhard Henscheid, Michael Kleeberg, Herbert Rosendorfer und Hans-Ulrich Treichel von Ihren Erfahrungen und Erlebnissen aus einer „wunderbaren Buchhandlung“.

Nicht nur wegen der bibliophilen Ausstattung (Leineneinband mit Lesebändchen) ist dieser attraktive Geschichtenband eine sehr liebevoll, aber auch anspruchsvoll komponierte Anthologie. Es geht um den Ort – Buchhandlung – als Mythos. Hier weiss der Buchhändler noch über den Inhalt  „seiner“ Bücher Bescheid. Hier spürt man die Lebendigkeit, die durch Bücher entsteht. Und der Leser erkennt die wahre Ästhetik des Buchhandels! „Meine wunderbare Buchhandlung“ ist eine echte Hommage an Buchhandlungen, Buchhändler und Antiquare voller Leidenschaft, Humor und einem Hauch Nostalgie. Keinesfalls nur ein Buch für Buchhändler, die sich sicherlich in manchen Geschichten wiedererkennen mögen. Diese Anthologie ist eine echte Liebeserklärung an das vielleicht schönste und abwechslungsreichste Metier und bietet jedem Bücherfreund ein poetisches Vergnügen!

Max Dauthendey – Gedicht

Jetzt ist es Herbst

Jetzt ist es Herbst,
Die Welt ward weit,
Die Berge öffnen ihre Arme
Und reichen Dir Unendlichkeit.

Kein Wunsch, kein Wuchs ist mehr im Laub,
Die Bäume sehen in den Staub,
Sie lauschen auf den Schritt der Zeit.
Jetzt ist es Herbst, das Herz ward weit.

Das Herz, das viel gewandert ist,
Das sich verjüngt mit Lust und List,
Das Herz muß gleich den Bäumen lauschen
Und Blicke mit dem Staube tauschen.
Es hat geküßt, ahnt seine Frist,
Das Laub fällt hin, das Herz vergißt.

Durchgelesen – „Die verborgene Ordnung der Dinge“ v. François Gantheret

François Gantheret ist in Frankreich ein sehr hochgeschätzter Schriftsteller und bekannter Psychoanalytiker. Er war Professor für Psychopathologie an der Universität Paris VII. Für seinen ersten Roman „Verlorene Körper“ erhielt er 2004 den „Prix Ulysse“ und 2005 den „Prix Cinélect“. Sein Roman „Das Gedächtnis des Wassers“ wurde 2007 mit dem „Prix Littéraire Rosine Perrier“ ausgezeichnet. Er schreibt und lebt in Paris.

„Die verborgene Ordnung der Dinge“ ist ein besonderes Stück französischer Literatur, kein Buch zum Schnell-Lesen, auch wenn es nur knapp 180 Seiten stark ist. Es ist ein Werk für Sprachgeniesser, für Literaten und für Liebhaber spannungsreicher Schreibkunst.

Der Roman ist in der dritten Person erzählt, wodurch vielleicht der Lese-Einstieg am Anfang etwas schwierig und langsam beginnen könnte. Aber spätestens nach den ersten Seiten spürt man die Anziehung und Kraft der poetischen Sprache, die den Leser eintauchen lässt in eine hoch reizvolle Dramatik, welche ihn bis zur letzten Zeile in den Bann hält.

Die Geschichte spielt in Paris. Jean, Verleger, und Anne, eine erfolgreiche Künstlerin, waren seit vier Jahren ein Paar bis zu dem Zeitpunkt, als Jean eines Morgens seine Frau Anne tot in ihrem Atelier findet. Und genau an diesem  für sie so wichtigen Ort hat sie sich umgebracht. Jean ist verstört, fassungslos und geschockt. Er stürzt in eine tiefe und fast schon endlose Trauer. Tausende von Fragen kreisen in seinem Kopf nur um das Warum:

„Er hatte nichts bemerkt, nichts vermutet, aber er hätte etwas bemerken können? Musste sich dieser Tod nicht heimlich angeschlichen, sich in Worten, Gesten, in ihrem Gesicht oder in ihren Augen angedeutet haben? In ihren rauchgrauen Augen, die immer abwesend, irgendwo anders waren, selbst wenn sie mit ihm sprach? Sind sie dorthin gewandert, zu diesem Punkt ohne Wiederkehr?“

Doch eines irritiert ihn fast noch mehr als der Tod von Anne selbst. Das Handy seiner verstorbenen Frau läutet ständig. Immer wieder hört er die Klingelmelodie „Für Elise“ und jedes Mal, wenn er abnimmt, ist auf der anderen Seite der Leitung absolute Stille. Nur manchmal hat er das Gefühl, als würde er in diesem Schweigen eine Frauenstimme erkennen. Er spricht eine neue Ansage auf ihre Mailbox mit seinem Namen. Der Anrufer hinterlässt jedoch nach wie vor keine Nachricht. Am Liebsten würde er das Telefon ausschalten. Seine Freunde raten ihm, es wegzuwerfen. Nein, er behält es und lässt es weiterhin eingeschaltet.

Als er nach einer sehr schmerzhaften Trauerzeit endlich wieder seine Arbeit im Verlagshaus aufnimmt, wird er sehr herzlich von seiner Sekretärin Eva empfangen, die er bis jetzt als Frau nie so richtig wahrgenommen hat. Jean erzählt ihr bei einem Mittagessen von der anonymen Anruferin. Eva, die ihren Chef mehr als verehrt, zeigt sich sofort sehr engagiert und findet heraus, von wem diese Anrufe kommen.

Mit der Adresse ausgerüstet fährt Jean in das 12. Arrondissement. Am Ende einer Sackgasse steht er vor einem Haus mit einem kleinen aber sehr gepflegten Garten und beobachtet die Fenster. Als er läutet und eine junge Frau die Tür öffnet, ist er vollkommen irritiert. Vor ihm steht das perfekte Ebenbild seiner Frau. Diese frappierende Ähnlichkeit und seine Verwirrtheit lassen ihn taumeln. Zuerst noch vollkommen verunsichert, erkennt er plötzlich, dass diese junge Frau mit dem Namen Marie, die Zwillingsschwester seiner geliebten Anne ist. Doch Marie ist blind:

„Ihre Augen. Blassgrau, wie die von Anne, aber eben nur «wie». Ein noch blasseres Grau, verwaschen, fast weiss. Und vor allem unbelebt. Milchig, trotz der Helligkeit. Augen wie Nebel. Je näher er kommt, umso mehr fällt ihm auf, dass ihr Blick ihn noch immer nicht  fixiert, sondern über ihn hinweggeht. Ihm wird klar, dass sie blind ist. Ein Schock, aber auch eine Erleichterung. – Marie Fonesca? – Ja, sagt sie. Sie sind Jean Latran. Ich erkenne Ihre Stimme wieder. Kommen Sie rein. Sie tritt zurück. Gedankenleer, wie ein Automat, geht er hinein.“

Die ganzen Jahre hat er nichts von Anne’s Zwillingsschwester gewusst. Warum hat sie ihm dies verheimlicht? Warum hat sie nie über ihre Familie gesprochen? Jean spürt, dass Anne ein Geheimnis verbarg und dass dieses Geheimnis eventuell mit ihrem Tod zu tun hat. Einerseits fühlt er eine Ablehnung gegenüber Marie, andererseits treibt ihn die Neugierde immer wieder zu ihr hin. Gemeinsam mit seiner Sekretärin Eva, die inzwischen immer mehr ihre Zuneigung zu ihrem Chef zeigt, versucht er, das Familiengeheimnis von Anne aufzudecken. Es geht um die Vergangenheit von drei Frauen, in erster Linie von Anne und Marie, aber auch von Eva, die ihren Chef liebt. Das psychodramatische Geheimnis enthüllt sich Schritt für Schritt…

François Gantheret baut einen subtilen Spannungsbogen auf, der durch seinen psychoanalytischen Blick eine besondere Dimension erreicht. Es geht um Selbstzerstörung und Zerstörung eines Anderen. Gefühle werden unterdrückt und kommen geballt zurück. Schweigen und Reden als Instrument der Psychoanalyse werden hier als Stilmittel eingesetzt. Das Buch ist keine leichte Kost. Man sollte es konzentriert lesen und sich ganz bewusst auf die einzelnen Figuren einlassen, um die emotionale Intensität dieses Romans nachhaltig zu erleben. „Die verborgene Ordnung der Dinge“ bietet dem Leser trotz der menschlichen Tristesse, aber Dank der raffiniert inhaltlichen und sprachgewaltigen Dramatik, ein sehr anspruchsvolles, äusserst fesselndes und unvergessliches Leseerlebnis.

Karl Henckell – Gedicht

Seinestimmung in Paris

Es schwanken im Flusse die roten
Lichter von kreuzenden Booten,
Die zitternde Spiralen
In tiefschwarze Wasser malen,
Mit glimmenden Spuren die Ufer verbinden,
Von Brücke zu Brücke hinhuschen und schwinden.

Durch hundert Brücken und Bogen
Geheimnisschauernd geflogen,
Wo die Laute rauschend verschwimmen
Und von wirrphantastischen Stimmen
Hohldunkle Wölbungen wiederhallen
Wie von Opfern, der schweigenden Tiefe verfallen.

Dumpf Murmeln, Flüstern und Raunen
Von Kronos rasenden Launen,
Von Glorias glühendem Kosen
Mit bleichen, blutigen Rosen,
Von Höllentriumph, gotttrunkener Macht
Ein Echo, hinsterbend in Schatten der Nacht …

Durchgeblättert – „Tango – Wehmut, die man tanzen kann“ v. Salas & Lato

Tango, was ist das eigentlich? Genau diese Frage wird in diesem aussergewöhnlichen Buch „Tango – Wehmut, die man tanzen kann“ nicht nur beantwortet. Nein, dieser Band ist viel mehr als ein einfaches Sachbuch über Tango, denn hier wird dieser berühmte Tanz – im Jahr 2009 übrigens von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt –  auf ganz besondere Weise durch prägnante Texte und Zeichnungen vorgestellt und fühlbar zum Leben erweckt.

Bereits 1999 wurde dieses Werk in Buenos Aires veröffentlicht und hat sich bis heute zu einem echten Kultbuch entwickelt, das Horacio Salas und Horacio Santana (genannt Lato) in einer wunderbaren Zusammenarbeit erschaffen haben. Glücklicherweise ist „Tango“ nun erstmals in deutscher Übersetzung erschienen, die bei jedem Tango-Begeisterten und Buchliebhaber das Herz höher schlagen lässt.

Horacio Salas – geb. 1938 – wird als der grösste Tangospezialist der Welt bezeichnet. Er hat mehr als dreissig Bücher, unter anderem eine umfangreiche Sozialgeschichte, ein Wörterbuch und ein Buch über die Poesie des Tangos, verfasst. Er ist Gründungsmitglied der Academia Nacional del Tango, Kultursenator von Buenos Aires und Direktor der argentinischen Nationalbibliothek. Lato – geb. 1960 – ist über die argentinischen Landesgrenzen hinaus ein sehr bekannter und erfolgreicher Comiczeichner und Illustrator. Gemeinsam haben sie hier aus einer Mischung von griffigen kurzen Texten und dynamischen Zeichnungen in Real-Comic-Version ein bibliophiles Gesamtkunstwerk voller Leidenschaft, Musik und Tanz komponiert.

Der Leser wird von Salas sensibel und informativ in die Geschichte des Tangos von den Anfängen bis zur Gegenwart eingeführt, in dem er über diesen Tanz-Mythos aufklärt. Dadurch entstehen konkrete Einblicke in die Milieus, wo der Tango entstanden ist und wie er sich im Laufe der Zeit musikalisch weiterentwickelt hat. Das Buch ist auch eine kleine Reise durch die Geschichte Argentiniens . Musiker, Sänger, Poeten, Autoren, Tänzer und die vielen Einwanderer aus Italien, Spanien und aus anderen europäischen Ländern,  alle sind ein Teil des Tangos. Es geht um Heimweh, Liebe und Träume der Menschen. „Tango“ erläutert dem Leser nicht nur die Verknüpfungen zwischen Tanz und Poesie sondern auch zwischen Musik und Buenos Aires bzw. Argentinien:

„Die Gedichte von Jorge Luis Borges und Astor Piazzollas Tangokompositionen gehören neben den Erzählungen von Julio Cortàzar, den Büchern von Roberto Arlt und den Versen von Martìn Fierro, der unvergesslichen Stimme Gardels, der Gitarre von Atahualpa Yupanqui, dem Bandoneon von Troilo und dem dichterischen Schweigen von Goyeneche zum kulturellen Erbe Argentiniens. Ohne die Takte von Adiòs Nonino und Verano porteno wäre das Land nicht das, was es ist. Das neue Buenos Aires ist mit der Musik von Astor Piazzolla verwoben.“

Durch die lebendigen und plastisch temperamentvollen Zeichnungen von Lato fühlt und durchlebt man die magische Atmosphäre, die der Tango ausstrahlt. Die Musik dringt unaufhaltsam durch die sehr prägnanten Worte Salas zum Leser, dass man fast schon ein rythmisches Zucken in den Beinen verspüren mag und sich nur noch schweigend und vollkommen konzentriert dem Tango hingeben möchte.

Der Tango ist viel mehr als nur ein einfacher Tanz. Er ist Lebenskultur, Sehnsucht und Melancholie. Er ist Hingabe und Abweisung zugleich, er ist ernst und er gibt Raum zum Nachdenken.

Der Leser spürt all diese Emotionen in diesem betörenden und verzaubernden Buch. Hier tanzen Buchstaben und Bilder im Rythmus des Tangos, so dass man sich nach dem sinnlichen Lesegenuss nur noch eines wünscht: Tangounterricht in Buenos Aires!