Durchgelesen – „Lied ohne Worte“ v. Sofja Tolstaja

Sofja Tolstaja war eigentlich geprüfte Hauslehrerin und begann bereits in jungen Jahren mit ihren ersten Schreibversuchen. Doch mit 18 lernte sie den 16 Jahre älteren Grafen Lew Tolstoi kennen, der bereits seine ersten literarischen Erfolge verzeichnen konnte. Sie heiratete ihn am 23. September 1862 und zog danach mit ihm auf sein Landgut. Das Schreiben hatte sie aufgehört, dafür widmete sich Sofja Tolstaja den Tagebücher ihres Mannes, wobei sie feststellte, dass er dem weiblichen Geschlecht vor ihrer Zeit nicht im Geringsten abgeneigt war. Sofja wurde sechzehnmal schwanger, davon waren drei Fehlgeburten und von den 13 Kindern, die sie gebar, hatten 8 Kinder das Erwachsenenalter erreicht. Das Schicksal ging nicht spurlos an ihr vorüber: der Tod von drei Kindern und eine schwere Karnkheit trafen sie schwer. Auch die Ehe mit Tolstoi wurde immer schwieriger, seine Eifersucht entfernte das Paar mehr und mehr. Sofja fing wieder an zu schreiben, jedoch wurden ihre Werke zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht, im Gegenteil sie verstaubten über Jahrzehnte in Moskauer Archiven.

„Lied ohne Worte“ ist der zweite Roman von Sofja Tolstaja (nach „Eine Frage der Schuld“), der nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Ein literarisches Kleinod, das sich um Leidenschaft, Pflichtbewusstsein und um die Kraft der Musik dreht und das Leben einer Ehefrau im Russland des 19. Jahrhunderts sehr feinfühlig beschreibt.

Sascha, eine junge Frau, Mutter eines kleinen Sohnes, verheiratet mit dem gutmütigen, aber eher wenig sensiblen Versicherungsbeamten Pjotr, ist in einer tiefen seelischen Krise. Ihre Mutter stirbt – bereits seit einiger Zeit schwer krank –   als sie gerade noch rechtzeitig auf der Insel Krim ankommt:

„Die Trauer verzehrte Sascha so sehr, dass sie den ganzen Winter über krank darniederlag und zu Beginn des Frühlings wie ein Schatten ihrer selbst sich dahinschleppte, empfindlich, mager, finster.“

Ihr Mann kann sie nicht trösten, versucht sie jedoch mit dem Vorschlag, in das Landhaus ihrer Mutter zu fahren, aufzuheiteren. Doch auch dies lehnt Sascha ab, da die Erinnerungen an ihre verstorbene Mutter sie dort nie loslassen würden. Das Einzige, was sie sich noch vorstellen kann, ist ein Sommerhaus anzumieten. Pjotr kümmert sich um alles und findet ein wunderschönes Sommerhaus, das auf einer Anhöhe liegt und durch zwei Badehäusschen am Fluss gekrönt wird. Die Familie fährt somit endlich aufs Land,  und Pjotr blüht auf, denn seine liebste Beschäftigung ist Gärtnern. Sascha dagegen ist immer noch verloren in ihrer Trauer und fühlt sich niedergeschlagen und verwirrt. Doch eines Tages hört sie aus dem benachbarten Sommerhaus die Interpretation von Mendelssohn Bartholdy:

„In allen Variationen klang das «Lied ohne Worte» wunderschön, und es war, als ob es der kranken Seele Saschas etwas Empfindsames und Zärtliches erzählte, das sie beruhigte und erfreute. Doch dann das Ende – im Pianissimo – erklang derselbe Akkord dreimal wie ein Seufzen, und alles war still. Auch Sascha seufzte auf, ihr war, als hätten die Klänge des Klaviers eine schwere Last von ihrer Seele genommen.“

Dieses Klavierspiel verzaubert sie so sehr, dass sie zum ersten Mal wieder das Leben spüren kann. Auf einem Spaziergang lernt sie den Nachbarn und Pianisten Iwan Iljitsch persönlich  kennen, der ihr durch seine Spiel so viel Glück schenken konnte. Anfangs war es nur die Musik, doch es dauert nicht lange, und die Begeisterung bezieht sich nun auch auf den Pianisten. Sie kämpft zwischen künstlerischer Verehrung und leidenschaftlicher Liebe, gegen die sie sich ständig wehrt. Doch der Konflikt wird immer grösser und führt sie direkt in die Nervenheilanstalt….

Dieser Roman ist ein romantisches Meisterwerk, das die Stimmungen und Ängste einer Frau wunderbar und sehr feinsinnig umschreibt. „Lied ohne Worte“ ist eine sehr anregende literarische Lektüre, die zeigt, wie nah sich doch Liebe und Genie im Lebensalltag wiederfinden können. Ein Werk voller Musik, welche durch die sensible Sprache Tolstajas eine ganz besondere Bedeutung und Intensität erreicht.

Joseph Freiherr von Eichendorff – Gedicht

Mondnacht

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Durchgeblättert – „Blind Date“ v. Freddy Langer

Dies ist kein Roman über heimliche Affären, dies ist auch kein Treffpunkt für Singles. Ganz im Gegenteil, dies ist ein origineller kleiner Bildband über Schriftsteller – inkognito!

Freddy Langer, Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, porträtiert seit über dreissig Jahren Prominente aus der internationalen Kunst- und Literaturszene mit einer Schlafbrille über dem Gesicht. Ausgerüstet mit einer Polaroidkamera fotografiert er Schriftsteller in einer ungewöhnlichen Situation. Sie sind alle blind – dank der Schlafbrille! Und in diesem nicht sehenden Moment, sind sie dem Fotografen Langer voll und ganz ausgeliefert.

Dieser Band zeigt die mit einer Schlafbrille veränderten Gesichter von 40 Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Der Blick ist zum Teil erschreckend, irritierend, künstlich, aber auch cool, gleichgültig und neutral. Erkennen wir die Autoren auch mit Schlafbrille wieder, sind sie verändert, können sie sich dahinter verstecken?

Jedem dieser 40 Porträts wird ein passender Auszug aus dem Werk des gerade mit Schlafbrille gezeigten Autors gegenübergestellt. Sehr präzise ausgesucht, finden wir wunderbare Passagen aus Romanen und Erzählungen über das Sehen, die Augen und das Träumen wie zum Beispiel von:

Jenny Erpenbeck: “ Wozu sind meine Augen da, wenn sie sehen, aber nichts sehen? Wozu sind meine Ohren, wenn sie hören, aber nichts hören? Wozu all das Fremde in meinem Kopf?“ (aus „Wörterbuch“)

Arno Geiger: „Ich habe eine Bombe im Kopf: Willst Du sie hochgehen lassen?“ (aus „Kleine Schule des Karussellfahrens“)

Adolf Muschg: „Über ihrem gedehnten Hals sah er ein abgewendetes, in Fremde versiegeltes Gesicht, das sich immer schneller von ihm entfernte. Bevor es ganz verschwinden konnte, schloss er die Augen und konnte zu stürzen nicht aufhören, in eine todfinstere, aber vollkommene Gewissheit.“ (aus „Kinderhochzeit“)

Selten wurden Autoren so „entblösst“ gezeigt, selten haben sie dem Leser so ihre Ohnmacht vermittelt wie auf diesen Bildern. Doch nie war man als Leser diesen Autoren so nah, denn der Leser bekommt die Macht, sie anzusehen, ohne auf ihre Blicke anworten zu müssen. Ein geniales Bilderbuch oder ein anderes „Who ist Who der Literatur“!

Durchgelesen – „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ v. Pierre Bayard

Sie kennen weder Marcel Proust, Robert Musil noch Oscar Wilde? Sie haben nicht mal „Der Name der Rose“ von Umberto Eco gelesen, geschweige denn wissen Sie etwas über Graham Greene und Michel de Montaigne. Dies sollte ab sofort kein Problem mehr sein, denn Sie können nun auch ohne Kenntnisse niveauvoll über Literatur plaudern, wenn Sie dieses Essay von Pierre Bayard lesen!

Der französische Literaturpapst Bernard Pivot hat es bestätigt: „Das Buch schlechthin! Wunderbar, man muss in diesem Leben nur noch Bayard lesen. Sein Buch ersetzt alle anderen, alte, neue, zukünftige.“

Ob Pivot Recht hat, sollten Sie selbst feststellen, in dem Sie in dieses grandiose Essay eintauchen und erkennen, was der Unterschied  und die Grenzen zwischen Lesen und Nichtlesen sind.

Pierre Bayard ist Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker. Und dieses Werk ist eine Art Analyse des Lesens, der Bücher, der Bildung und der Gesellschaft in unserer mit Informationen und Literatur überfrachteten Zeit.

Das Buch hat drei zentrale Teile, die wiederum in vier Unterkapitel eingeteilt sind. Bereits in seinem Vorwort schreibt Bayard über die Schwierigkeit, sich der Verpflichtung, Bücher zu besprechen, die er nicht gelesen hat geschweige denn aufgeschlagen hat, zu entziehen. Man ist irgendwie unter Zwang und weiss nicht, wie man dieses Problem lösen soll:

„Dieses Zwangsystem aus Pflichten und Verboten hat zu einer allgemeinen Scheinheiligkeit in Bezug auf die angeblich gelesenen Bücher geführt. Ich kenne nur wenige Bereiche des Privatlebens, von Geld und Sexualität einmal abgesehen, über die man so schwer verlässliche Informationen bekommt wie über Bücher.“

Somit ist es hilfreich, sich gleich dem ersten Teil dieses Essays zu widmen, das sich mit den „Arten des Nichtlesens“ beschäftigt. Es geht darum, dass man „Bücher, die man nicht kennt“, wengistens an einer Figur des Werkes einordnen kann. Diese Figur kann auch eine Nebenfigur sein, wie zum Beispiel der Bibliothekar in Robert Musil’s Mann ohne Eigenschaften. Genauso reicht es vollkommen aus, nur „Bücher, die man quergelesen hat“ zu kennen. Selbst Paul Valéry – ein „Meister des Nichtlesens“ konnte einen Artikel über Marcel Proust verfassen, obwohl er nicht einen einzigen Band der berühmten „Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen hatte. „Bücher, die man vom Hörensagen kennt“ waren für Umberto Eco ausreichend, um darüber sich unterhalten zu können. Und genauso einfach ist es auch für „Bücher, die man vergessen hat“. Da sollte man sich nicht grämen, sondern es wie Michel de Montaigne halten, der sagte: “ Wenn ich also ein Mensch bin, der einiges gelesen hat, so doch einer, der nichts behält“.

Als Nächstes sollte man sich unbedingt der im Leben schwierigen „Gesprächssituationen“ bewusst werden, die Pierre Bayard in seinem zweiten Teil sehr humorvoll erläutert. „Im Gesellschaftsleben“ werden oft Dinge erwartet, die man erst nicht glaubt erfüllen zu können und dann am Beispiel von Graham Greene, der sich vor Leuten über Bücher äussern sollte, die er nicht gelesen hat, sieht, dass es funktioniert. Auch „einem Lehrer gegenüber“ ist es nicht nötig, ein Buch zu lesen bzw. aufzuschlagen, um kluge Anmerkungen geben zu können. Am Schwierigsten jedoch ist, sich richtig „dem Schriftsteller gegenüber“ zu verhalten, wenn man merkt, dass der Autor nicht mal sein eigenes Buch gelesen hat. Und besonderes Fingerspitzengefühl ist erforderlich, wenn man „der oder dem Liebsten gegenüber“ seine ganze Verführungskunst zu Füssen legen möchte, in dem man ihm oder ihr mit Hilfe eines Gesprächs über Literatur imponieren möchte, die der andere zwar sehr schätzt, von der man selber aber keinen blassen Schimmer hat.

Um aus all diesen Fallen, Fettnäpfchen und anderen unguten Situationen schadlos entschlüpfen zu können, ist sicherlich der letzte Teil über die „empfohlenen Haltungen“ der Schlüssel des Nichtlesens. Jetzt heisst es als Erstes, „sich nicht schämen“, das auch schon David Lodge in einem seiner Romane bestätigt hat. Dann sollten wir als Nichtleser eine Eigenschaft haben, nämlich „sich durchsetzen“, was Balzac uns in seinem Roman „Verlorene Illusionen“ geschickt vorführt. Es bleiben die  Alternative „Bücher erfinden“ oder der letzte Ausweg „von sich sprechen“, was Oscar Wilde  – „ein entschiedener Nichtleser“ – wörtlich genommen hat, in dem er der Meinung ist, dass „die angemessene Lesedauer eines Buches zehn Minuten beträgt, da man sonst vergessen könnte, dass die Begegnung mit einem Text hauptsächlich eine Anregung ist, seine eigene Biographie zu schreiben.“

Am Ende des Essays merken wir als Leser, dass Pierre Bayard alles andere als ein Nichtleser ist. Mit Witz, Ironie und Klugheit klärt er uns auf über die Unmöglichkeit des Nichtlesens und gibt spannende Einblicke in den Literaturbetrieb. Bayard macht sich lustig über eine buchlose Bildung. Nach der Lektüre dieses Werkes werden Sie als Leser, mit einem Augenaufschlag souverän Proust zitieren, sich über Balzac unterhalten und aus dem Leben von Oscar Wilde erzählen können. Was will man mehr? Doch ohne Humor sollte man sich diesem Buch auf gar keinen Fall widmen, denn spätestens jetzt wird jeder zum lesenden „Nichtleser“.

Clemens Brentano – Gedicht

„Du verstecktes“

Du verstecktes
Zugedecktes
Eingeschnecktes
Ausgehecktes
Schwarzgelocktes
Leichtgesocktes
Heiß geminntes
Weis gesinntes
Leis, geschwindes
Spiel des Windes
Sehend blindes
Fein geschnürtes
Bein geziertes
Heiß ersehntes
Leis versöhntes
Gold verwöhntes
Hold verschöntes
Huld gekröntes
Viel geprüftes
Nur verbrieftes
Und vertieftes
Nie verschieftes
All geliebtes
Mir betrübtes
Und geübtes
Viel gereistes
Mehl gespeistes
Seel umkreistes
Nie erzieltes
Nie verspieltes
Leicht gezäumtes
Aufgeräumtes
Mut gebäumtes
Blut durchschäumtes
Glut gesäumtes
Leicht zu Pferdchen
Tiefgelehrtchen
Huldgebärdchen
Treugefährtchen
Unversehrtchen
Harfenistin
Scharfe Christin
Bunt Palettchen
Schlüsselkettchen

Durchgelesen – „Schwüle Tage“ v. Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling (1855-1918) stammt aus einem alteingesessenen baltischen Geschlecht. Er wurde im heutigen Lettland geboren, wo er seine Jugend verbrachte. Er ging als Zwanzigjähriger nach Wien , da er in seiner Heimat als gesellschaftlicher Aussenseiter galt. Er studierte an der Universität Wien Kunstgeschichte und Philosophie. Nach seinem Studium verwaltete er die Güter in seiner ehemaligen Heimat, siedelte aber nach dem Tod der Mutter mit seinen drei Schwestern nach München um. 1897 erkrankte er schwer und erblindete. Sein gesundheitlicher Zustand zwang ihn, die letzten Jahre in München nur noch in seiner Wohnung zu arbeiten, in dem er seine Werke seinen Schwestern diktierte. Eduard von Keyserling zählt zu den bedeutendsten impressionistischen Erzählern.

Schwüle Tage“ ist eine feine kleine Novelle, die das Leben, die Liebe und die Sorgen des Hauptprotagonisten Graf Bill von Fernow während eines Sommers äusserst poetisch und anmutig beschreibt.

Bill von Fernow, ein junger Graf  – gleichzeitig auch der Ich-Erzähler  -, muss die Sommerferien dieses Mal mit seinem Vater verbringen, anstatt mit seiner Mutter und seinen Geschwistern ans Meer fahren zu können:

„Schlimmer noch war es, allein mit meinem Vater den Sommer verbringen zu müssen. Wir Kinder empfanden vor ihm stets grosse Befangenheit.“

Er wird bestraft von seinem Vater, Graf Gerd von Fernow, da er seine Abiturprüfung nicht bestanden hat. Bill soll auf dem Gut der Familie für die neuen Prüfungen lernen. Es ist für ihn eine schreckliche Vorstellung, diese so sehr ersehnte Sommerzeit mit seinem Vater verbringen zu müssen, der ihn immer von oben herab behandelt:

„Mein Vater sah mich gelangweilt an, gähnte diskret und meinte: «Es ist wirklich nicht angenehm, ein Gegenüber zu haben, das immer seufzt und das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, spielt. Also – etwas Tenue – wenn ich bitten darf.»“

Doch Bill hat auch noch neben seiner nicht bestandenen Abiturprüfung andere Sorgen. Er fühlt sich nicht nur ungeliebt von seinem Vater, sondern er spürt auch die unerwiderte Liebe zu dem Mädchen Gerda aus dem Nachbargut. Gerda ist nämlich verliebt in den Verlobten ihrer Schwester Ellita. Ja und Ellita hat wiederum ein Verhältnis mit Bill’s Vater, das er per Zufall entdeckt. Bill ist nicht schockiert, sondern höchstens überrascht. Zum ersten Mal sieht Bill in den Augen seines Vater Gefühle und Schwäche. Die Vater-Sohnbeziehung war eine Mischung aus Liebe, Hass, Bewunderung und Verachtung.

„Zu Hause, in meinem Zimmer, fühlte ich mich bange und erregt. Das Leben schien mir traurig und verworren. Schlafen konnte ich nicht. Aufdringliche und aufregende Bilder kamen und quälten mich. Die Nacht war schwül.“

Bill empfindet eine unendlich starke Sehnsucht nach körperlicher Liebe, welche sehr feinfühlig, aber intensiv, von Eduard v. Keyserling beschrieben wird. Auch die Liebe seines Vaters zu Ellita, welche leider sehr dramatisch endet, schlängelt sich wie ein roter Faden durch diese kraftvolle und lyrische Novelle.

„Schwüle Tage“ ist ein schmales feines Buch, das den Leser trotz der Vater- und Sohnprobleme und den unerwiderten Liebesgefühlen in eine beschwingte, sommerliche Stimmung versetzt. Die Kunst der Beschreibung und die Magie der poetischen Sprache machen diese Novelle zu einem kleinen literarischen Meisterwerk. Eine wunderbare Lektüre für sonnige und nicht nur für „schwüle“ Tage!

Johann Wolfgang von Goethe – Gedicht

Rezensent

Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last,
Ich hatt so mein gewöhnlich Essen,
Hat sich der Mensch pump satt gefressen
Zum Nachtisch was ich gespeichert hatt!
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu raisonnieren.
Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.
Der tausend Sackerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

Durchgeblättert – „Einer unter 6 Milliarden“ v. Yann Arthus-Bertrand

Sie sind neugierig auf andere Menschen, sie wollten immer schon mal wissen, „was Menschen erleben, träumen und hoffen“?! „Einer unter 6 Milliarden“ ist der Querschnitt in Buchform eines beeindruckenden Projekts.

Yann Arthus-Bertrand gehört zu den berühmtesten Fotografen der Welt. Bekannt wurde er durch sein Werk „Die Welt von oben“ und welches auch indirekt der Auslöser für dieses neue Projekt war. Bei seinen Reisen um die Welt kam er sehr oft mit Menschen ins Gespräch, die ihm ganz offen ihre Alltagsprobleme, Träume, aber auch von ihren Hoffnungen erzählten. Dies spornte ihn an, ein Projekt zu konzipieren, dass Menschen aus den verschiedensten Ländern zu Wort kommen lässt und jedem einzelnen Erdbewohner zeigen soll, wie wichtig es ist, trotz vieler Schwierigkeiten, zusammenleben zu können.

„Einer unter 6 Milliarden“ ist ein Mammutprojek in Zusammenarbeit mit „Good Planet“: 4 Jahre Drehzeit, 75 Länder, 5000 Interviews und 40 Fragen – wie zum Beispiel: Wovon träumten Sie als Kind? Was bedeutet Ihnen die Familie? Was war Ihr schlimmstes Erlebnis? Was bedeutet Ihnen Geld? Und genau diese 40 Fragen findet man am Anfang des Buches, die jeder ganz für sich persönlich beantworten kann. Danach werden die Menschen einzeln, aber als Beispiele für viele andere, vorgestellt. Sie sind offen, ehrlich, mutig, und sehr authentisch. Bei einigen Menschen findet man die Antworten mehrer Fragen – fast wie ein kleines Porträt, bei vielen anderen liest man nur eine Antwort, die jedoch im Vergleich zu anderen Antworten auf die gleiche Frage steht. Dazu kommen die wunderbaren Fotos, sei es in Porträtgrösse oder nur als ganz kleines Passfoto. Der Mensch wird gezeigt in Wort und Bild!

Das Buch ist ein ausserordentliches Panoptikum der Menschen unserer Erde. Es macht neugierig, es klärt auf, es gibt ehrliche Einblicke und es fasziniert. Man trifft Menschen mit ihren Antworten, die sich gegenüber stehen, und sich aber persönlich niemals begegnet sind. Man spürt das unglaublich intensive Gefühl als Leser auch zu diesen 6 Milliarden zu gehören. Und man kann plötzlich entdecken, dass andere Menschen genauso denken und fühlen wie wir selbst, auch wenn sie beispielsweise auf einem ganz anderen Kontinent leben.

„Einer unter 6 Milliarden“ ist ein beeindruckendes im wahrsten Sinne des Wortes  „buntes Bilderbuch“, das 500 Menschen dieser Erde zu Wort kommen lässt. Ein Buch für alle die neugierig sind und Menschen offen begegnen!

Durchgelesen – „Nächsten Sommer“ v. Edgar Rai

Urlaub?! Gut, falls nicht, dann sollten Sie dieses Buch lesen! „Nächsten Sommer“ ist ein verrücktes und originelles Stück Literatur, das von Aufbrauch, Freiheit und Leben handelt. Kino könnte nicht besser sein!

Drei junge Männer in den Endzwanzigern beschliessen gemeinsam mit einem sehr alten orange-weiss lackierten VW-Bus nach Südfrankreich zu fahren.

Felix, der Ich-Erzähler, ist eher ein asketischer Typ, hat keinen Schulabschluss, ist aber dafür ein Mathegenie. Er liebt Primzahlen, lebt in einem Bauwagen, ist Besitzer einer Katze mit dem Namen „Hit and Run“ und hat ein Haus in Südfrankreich von seinem Onkel Hugo geerbt. Marc ist Musiker, eher chaotisch und kann ohne seine Joints nicht leben. Bernhard ist ein Ordnungsfanatiker und mag es am Liebsten steril und sauber:

„In Bernhards Wohnung riecht es immer ein bisschen wie im Krankenhaus. Ein Geruch, der sich den Anschein des natürlichen geben will und doch aseptisch bleibt. Seine Diele ist ein Leichenschauhaus für Schuhe, in Edelstahl, klar lackiert.“

Die Fahrt mit den VW-Bus getaltet sich als sehr abwechslungsreich, da immer irgendetwas nicht funktioniert oder nur unter sehr ungewöhnlichen Massnahmen. Bei ihrem ersten Stop auf einem Rastplatz treffen sie zufällig auf Lilith, eine Lesbe. Sie ist gerade auf dem Weg zu ihrer Schwester nach Genf, um ihrem Liebeskummer zu enfliehen. Somit fahren sie zu viert weiter, bleiben nur ganz kurz bei Liliths Schwester und holen noch Zoe – eine alte Freundin – vom Genfer Flughafen ab. Auch sie ist unglücklich in ihrer Beziehung und hat sich nun doch noch spontan entschieden mit den drei Jungs nach Südfrankreich zu fahren.

Und da sitzen sie nun im super coolen alten VW-Bus, lassen sich den Fahrtwind um die Nase wehen und diskutieren : über das Leben, die Liebe und die Freiheit. Sie erleben die verrücktesten Dinge während der Reise, ertrinken beinahe in einem eiskalten See, werden von der französischen Polizei verfolgt und kommen nach drei Tagen endlich in Südfrankreich an. Im Haus von Onkel Hugo erwartet sie jedoch Felix’s Vater, der es nicht akzeptieren will, dass nicht er, sondern sein Sohn der Erbe ist. Jetzt heisst es für Felix, sich zum ersten Mal durchzusetzen und zu kämpfen. Es fällt ihm schwer, um etwas zu kämpfen, etwas festzuhalten. Doch er will endlich frei sein. Er schlägt seinem Vater eine Partie Schach vor: Der Sieger bekommt das Haus….

„Nächsten Sommer“ ist ein leichtes, aber nicht seichtes, sondern sehr kluges Buch, geschrieben wie ein Roadmovie, was nicht verwundert, da Edgar Rai auch Drehbuchautor ist. Die Sprache ist erfrischend, direkt und voller wunderbarer Vergleiche. „Nächsten Sommer“ steht aber auch als Metapher für Dinge, die man sowieso nicht macht oder nie passieren werden. Dieses 240-Seiten-starke Werk ist wie ein vergnüglicher Kurzurlaub vom Leben und im Leben. Es macht Lust auf Abenteuer und Aufbruch, gibt aber auch Kraft und Mut über sein eigenes Dasein nachzudenken und sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat und wie man ist. Denn früher oder später hat jedes Leben auch immer ein Happy End!

Bertolt Brecht – Gedicht

Der Pflaumenbaum

Im Hofe steht ein Pflaumenbaum,
Der ist so klein, man glaubt es kaum.
Er hat ein Gitter drum,
So tritt ihn keiner um.
Der Kleine kann nicht größer wer’n,
Ja – größer wer’n, das möcht‘ er gern!
’s ist keine Red davon:
Er hat zu wenig Sonn‘.

Dem Pflaumenbaum, man glaubt ihm kaum,
Weil er nie eine Pflaume hat.
Doch er ist ein Pflaumenbaum:
Man kennt es an dem Blatt.

Durchgelesen – „Sarahs Schlüssel“ v. Tatiana de Rosnay

Sarahs Schlüssel“ ist kein historisches Werk. Nein, es ist ein sehr bewegender,unglaublich spannender und wichtiger Roman gegen das Vergessen und für das Erinnern an ein dramatisches historisches Ereignis in Frankreich, bzw. in Paris: die Zusammentreibung der Juden im Vélodrome d’Hiver, kurz genannt Vél d’Hiv, am 16. und 17. Juli 1942.

An diesen beiden Tagen wurden ca. 13000 Juden – darunter mehr als 4000 Kinder – aus Paris und aus den Vororten verhaftet und nach Ausschwitz deportiert und dort ermordet. Das Pariser Vélodrome d’Hiver (eigentlich ein Radsport-stadion) diente dazu, die zusammengetriebenen und von der Polizei der französischen Vichy-Regierung  – auf Befehl der NS-Besatzung –  verhafteten Juden unter extrem menschenunwürdigen Bedingungen bis zu dieser Deportation festzuhalten.

Der Roman spielt in zwei Erzählebenen, die erste Ebene beginnt im Juli 1942 und die zweite im Mai 2002. Die Hauptfiguren sind Sarah Starzynski, ein jüdisches 10-jähriges Mädchen und Julia Jarmond, eine amerikanische Journalistin, die seit 25 Jahren in Paris lebt und mit einem Pariser verheiratet ist.

Sarah erlebte einen unbeschwerten Sommer mit ihren Eltern Rywka und Wladyslaw und ihrem kleinen Bruder, bis am einem Julitag im Jahr 1942 Polizisten vor ihrer Wohnungstür stehen und sie verhaften wollen. Sie ist vollkommen überrascht und erschrocken, aber trotzdem so besonnen, dass sie ihren kleinen Bruder noch zu retten versucht, in dem sie ihn in einen Wandschrank einsperrt, der als Spielversteck eingesetzt wurde. Sie versorgt ihn noch mit Wasser, tröstet ihn und verspricht ihm, ihn so schnell als möglich hier wieder herauszuholen. Den Schlüssel zu diesem Schrank hält sie ab diesem Zeitpunkt in ihrer Jackentasche fest. Sie wird nach entsetzlichen Tagen im Vel d’Hiv mit ihren Eltern in ein Zwischenlager gebracht, aus dem sie – getrieben von der Sorge um ihren kleinen Bruder und den Wunsch ihn aus dem Schrank zu befreien – jedoch fliehen kann. Sie findet Unterschlupf in der Nähe von Orléans in einem Bauernhof, deren Besitzer – ein älteres Ehepaar –  mehr als mutig und entschlossen sind, Sarah zu helfen. Unter höchstem Risiko gelingt es ihnen mit Sarah nach Paris zu fahren und ihre ehemalige Wohnung aufzusuchen, um endlich ihren Bruder in die Arme schliessen zu können. Doch inzwischen wohnt in diesem Appartement eine andere nicht jüdische französische Familie. Sarah ist erstaunt, stürmt durch die Wohnung, den Schlüssel immer noch fest in der Hand, öffnet den Schrank und findet ihren Bruder – verdurstet. Diese Situation ist sowohl für Sarah, als auch für die dort wohnende Familie, eine entsetzliche Tragödie. Und sie wird es immer bleiben…

Julia Jarmond, amerikanische Journalistin, verheiratet mit dem eher sehr egozentrischen und schwierigen Betrand Tézac, lebt seit 25 Jahren in Paris. Ihre Ehe ist auch nicht ganz unbelastet, noch dazu möchte ihr Mann unbedingt in die Wohnung seiner Grossmutter – genannt Mamé – einziehen, die sich im Marais-Viertel – dem jüdischen Zentrum in Paris – befindet. Sie ist davon nicht sehr überzeugt, obwohl sie Mamé als einziges Mitglied der Schwiegerfamilie sehr mag. Denn sie fühlt  sich immer noch nicht richtig zugehörig und bleibt auch für die Familie ihres Mannes immer die „L’Américaine“. Sie arbeitet bei einer kleinen Zeitung, die hauptsächlich von in Paris lebenden Amerikaner gelesen wird. Anlässlich des 60. Jahrestages des Vélodrome d’Hiver bekommt sie einen Auftrag, darüber einen Artikel zu schreiben. Bei den Recherchen entdeckt sie, dass diese Wohnung im Marais-Viertel, genau die Wohnung war, in der Sarah, ihr kleiner Bruder und ihre Eltern gelebt haben. Und diese Tragödie wurde während ihrer Ehe mit Betrand nicht ein einziges Mal angesprochen. Julia spürt diesem Familiengeheimnis immer mehr nach. Sie stösst auf Erkenntnisse, die ihr Leben zwar komplett aus dem Gleichgewicht bringen. Doch sie sorgt dafür, dass diese Erlebnisse zum ersten Mal ausgesprochen werden und diese Tragödie auf gar keinen Fall in Vergessenheit gerät….

Das Buch ist absolut kein Thriller, aber es hat seine Sogkraft!. Tatiana de Rosnay kann durch die parallel verlaufenden Zeitebenen – welche am Ende zusammenfinden –  eine unglaublich intensive Spannung erzeugen, dass es für den Leser fast unmöglich wird, das Buch aus der Hand zu nehmen. Ihre Sprache ist ungekünstelt, direkt und sehr klar. „Sarahs Schlüssel“ ist so berührend und erschreckend, dass man sich nicht wundern muss, wenn beim Lesen einem ganz unbewusst die Augen feucht werden und sich teilweise ein beklemmendes Gefühl einstellt. Dieser Roman wirkt nicht nur sehr lange nach, sondern fordert dazu auf, sich bewusst zu erinnern und niemals zu vergessen!