Durchgelesen – „Und morgen bin ich dran“ v. Laurent Quintreau

Und Morgen bin ich dran – Das Meeting ist ein origineller französischer Roman, der den Leser in die Welt der Manager eintauchen lässt.

Es geht um ein Meeting um 11.00 Uhr mit 11 Manager und Managerinnen eines internationalen Unternehmens. Rorty ist der Vorstandsvorsitzende, er präsentiert wie immmer Zahlen, es geht um Umstrukturierungspläne, Einsparungs-massnahmen etc. Doch seine Manager konzentrieren sich nicht auf das Meeting, sondern schweifen nur zu gern mit ihren Gedanken ab:

„…wenn es nur schon Abend wäre, da seh ich meine kleine Apothekerin wieder, diese Dominique Meyer, ist aber auch sehr sexy, ein bisschen schwermütig vielleicht, aber sehr sexy, definitiv eher sexy als schwermütig, okay krieg dich wieder ein, sonst merkt die noch was, konzentrier dich auf dieses verdammte Meeting….“

Mit Hilfe von 11 inneren Monologen gewährt der Autor Einblicke in das Seelenleben seiner Manager. Der Eine beruhigt sich mit Tranquilizern, der Andere erzählt von seinen Krankheiten, der Nächste wird von Mordgelüsten geplagt oder denkt an sexy Frauen usw. Obwohl die Fantasien so verschieden sind, eins habe alle gemeinsam: Hoffnung auf Karriere und Angst vor Entlassung.

Dieses Buch fühlt sich an wie das Psychogramm einer Krisensitzung. Die Monologe der einzelnen Manager sind als Kreise eingeteilt, die innerhalb dieses Kreis-Kapitels vollkommen ohne Punkt auskommen und zum Schluss immer mit …. enden! Dadurch wird der Leser vollkommen unfreiwillig in einen unglaublich starken Sog gezogen. Die Lesegeschwin-digkeit erhöht sich während der einzelnen Kreis-Kapitel von Zeile zu Zeile immer mehr!

Der Roman ist ein sehr bissiges und amüsantes literarisches Werk über Hierarchiekämpfe und Neurosen. Absolut empfehlenswert, das auch die französische Tageszeitung „Le Monde“ bestätigte: „Das Buch ist erschreckend komisch und zutiefst tragisch. Quintreaus Blick ist so scharf, die Details sind so stimmig und die einzelnen Stimmen so wahrhaftig, dass man beim Lesen lachen muss, aber ziemlich beunruhigt.“

Durchgelesen – „Sommerwogen – Eine Liebe in Briefen“ v. Mark Twain

„Sommerwogen“ ist nicht nur eine Liebesgeschichte in Briefen, sondern ein autobiographisches Vermächtnis, das zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschienen ist. Der Leser erhält einen aussergewöhnlichen Einblick in das Privatleben von Mark Twain.

Samuel Langhorne Clemens hat in seiner Jugend bereits kleine Reportagen und Anekdoten geschrieben. Nach seiner Druckerlehre verdiente er sich sein Geld mit vielen kleinen Jobs, unter anderem auch als Lotse auf dem Mississipi. Mit einem Leitartikel hatte er dann endlich als Journalist seinen Durchbruch und wurde unter seinem Pseudonym „Mark Twain“ bekannt.

Mit 32 Jahren verliebte er sich zum aller ersten und einzigen Mal in seinem Leben. Immer Sommer 1867 auf der Fahrt mit einem Schaufelraddampfer lernte er den Mitreisenden Charles Langdon kennen, der das Bild seiner Schwester Olivia bei sich hatte. Ab diesem Moment war es um Twain geschehen. Er traf sie zum ersten Mal im Winter des gleichen Jahres in New York. Danach folgten noch zwei weitere Treffen. Und im August 1868 verbrachte er einige Tage im Haus der Eltern von Charles und Olivia Langdon.

Olivia war eine schöne, zarte, mädchenhafte und sehr gebildete junge Frau. Äusserlich wirkte sie auf Twain immer sehr zerbrechlich, doch ihr Inneres war von einer besonderen Stärke. Sie verströmte Mut, Tatkraft, Offenheit und Ehrlichkeit. Sie hatte einen Collegeabschluss und war sehr belesen. Mark Twain dagegen war eher ein rauher Bursche, er fluchte gerne und er liebte Zigarren und Alkohol. Jedoch war er so verliebt in Olivia trotz ihrer Diszipliniertheit und Vernunft. Stürmisch wie er war, hatte er bei seinem Aufenthalt bei Olivias Eltern im Sommer 1868 gleich nach vier Tagen um ihre Hand angehalten. Dieser Heiratsantrag wurde natürlich abgelehnt, doch Olivia wies ihn trotzdem nicht gänzlich zurück, sondern gestattete ihm, weiter Briefe zu schreiben, allerdings unter der Anrede „Schwester“:

„Meine verehrte Schwester, Du bist so gut & so schön, & ich bin so stolz auf Dich! Gib mir ein kleines Zimmer in Deinem grossen Herzen, nur das kleine, das Du mir versprochen hast, & wenn ich mich seiner nicht würdig erweisen sollte, will ich für immer ein heimatloser Vagabund bleiben, der ich bin!“

Mark Twain durfte sich dann endlich im Februar 1869 mit seiner geliebten Olivia verloben, nach dem er seinen Schwiegervater davor noch mit Referenzen überzeugen und sich eine feste Anstellung suchen musste. Ein Jahr später heirateten sie im Hause der Familie Langdon. Die erste Zeit danach war wunderbar für die Beiden. Doch dann wurden sie mit vielen Schicksalsschlägen konfrontiert. Olivias Vater starb, sie bekam ihr erstes Kind (Sohn) und erkrankte danach schwer an Typhus. Olivia wurde ein zweites Mal schwanger und sie gebar eine kleine Tochter.  Kurz darauf starb der Sohn im Alter von fast 2 Jahren an Diphterie. Olivia war  verzweifelt und geschwächt und Mark Twain war oft wegen seiner Vortragsreisen unterwegs. Doch ihre gemeinsame Liebe gab ihnen Kraft und Zuversicht. Twain liebte  seine Frau sehr, was er in jedem seiner Briefe an Olivia (Livy) deutlich zeigte und schrieb:

„Mein lieber kleiner Schatz, meine unvergleichliche Frau, ich sehne  mich wie verrückt nach Dir. Du weisst ja gar nicht, wie sehr ich Dich liebe. Du wirst es nie wissen. Weil immer Du das Schwärmen übernimmst, wenn wir zusammen sind, & es keinen Zweck hat, wenn wir es beide tun – ein Schwärmer nimmt für gewöhnlich dem anderen das Wort aus dem Mund. Aber jetzt liegt ein Ozean zwischen uns, & ich muss schwärmen. Ich bete Dich einfach an, liebe Livy.“

Im Sommer 1878 reisten Mark Twain und Olivia gemeinsam nach Europa. Aufenthalte in Italien, Frankreich, Deutschland und der Schweiz standen auf dem Programm. Twain suchte Ruhe, Abgeschiedenheit, und einen Ort, wo ihn niemand kannte und keiner Englisch sprach, um arbeiten bzw. ungestört schreiben zu können. In dieser Zeit entstand unter anderem sein berühmter Essay „Die schreckliche deutsche Sprache“. Er schrieb Briefe an seine Familie, an Livy, wenn er sich mal wieder an einem anderen Ort befand, als sie.

„Sommerwogen“ ist ein Lesegenuss! Fast 30 Jahre lang schrieb Mark Twain Briefe an seine geliebte Frau. Dies ist eine feine  Auswahl seiner umfassenden Korrespondenz. Leider gibt es nur wenige Antworten von Olivia in diesem Buch, da die meisten ihrer Briefe verlorengegangen sind.  Dieses Werk enthält darüberhinaus auch noch einige Briefe an seine Kinder, die Eltern und Freunde. Selten hat man so etwas Geistreiches, Entzückendes und Liebevolles gelesen. Mark Twain ist dem Leser manchmal nur durch Tom Sawyer und Huckleberry Finn bekannt.  Doch spätestens durch „Sommerwogen“ kann der Leser eine ganz neue Seite an Mark Twain entdecken. Seine Briefe sind zauberhaft, manchmal kitschig, witzig, humorvoll und immer sehr authentisch. „Sommerwogen“ ist mehr als eine sprachlich brillant geschriebene Autobiographie in Briefen, es ist pures Leben!

Durchgeblättert – „Für Bücherfreunde“ v. Jean-Jacques Sempé

Jean-Jacques Sempé, geboren 1932,  ist ein begnadeter Zeichner. Bereits mit 19 Jahren erhält der den Prix Carrizey, einen Föderpreis für Nachwuchszeichner. Und somit war für ihn klar, welchen Beruf er in Zukunf ausüben würde, obwohl seine Traumberufe immer Jazzmusiker, Dirigent oder Fussballspieler waren. 1969 begannen seine ersten Erfolge als Karikaturist in den Zeitschriften Paris Match, Marie Claire und L’Express. Doch der absolute Höhepunkt in seiner Karriere war, als ab 1978 exklusiv für den New Yorker 50 Cover gestaltete und viele Karikaturen zeichnete. Berühmt wurde er vor allem auch in Deutschland als Illustrator der Geschichten des „Kleinen Nick“!

„Für Bücherfreunde“ ist eine Sammlung seiner besten Zeichnungen, welche sich nur mit der Spezies Buchliebhaber, Buchhändler, Verleger, Schriftsteller und Leser beschäftigen. Das Leben rund um das Buch bietet eine Fülle von kuriosen Begebenheiten und Anekdoten, die Sempé zeichnerisch auf entzückende und sehr witzige Weise einfängt. Mit einer Mischung aus Humor und Melancholie und einem Hauch Hintergründigkeit setzt sich Sempé gesellschaflich mit der Welt der Bücher auseinander. Teilweise entlockt er dem Leser ein Schmunzeln mit seinem feinsinnigen philosophischen Gespür!“ Doch machmal kann man auch herzhaft beim Betrachten dieser satirischen Cartoons lachen, die dem Leser des öfteren den Spiegel vorhalten.

Sémpé gehört zu den grössten Cartoonisten und Karikaturisten unserer Zeit, da es ihm immer wieder gelingt, banale Situationen aus dem Bücheralltag, mit einem Augenzwinkern in besondere Momentaufnahmen umzuwandeln. „Für Bücherfreunde“ ist eine wunderbare Hommage an das Medium Buch. Ein Augengenuss für alle Menschen die Bücher lieben und mit ihnen arbeiten und vor allem nicht ohne Bücher leben können.

Durchgelesen – „Mein lieber Fisch“ v. Arezu Weitholz

Sie lieben Fisch, gehen gerne zum Angeln? Nein?! Aber Sie lieben dafür Gedichte, dann ist dieser entzückende Lyrikband mit vierundvierzig Fischgedichten der richtige „Fang“ für Sie!

Arezu Weitholz, die Autorin und gleichzeitig noch Illustratorin dieses wunderbaren Büchleins lebt in Berlin. Sie machte eine Ausbildung bei einer Bank und legte eine Zeit lang in Südafrika Platten auf. Inzwischen arbeitet sie Journalistin unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und schreibt für namhafte Rockgrössen die Songtexte.

Und sie hat eine unglaubliche Begabung aus „Fischen“ besondere Lebewesen zu machen. Der Leser taucht in eine Wasserwelt, die weder langweilig, öde, blass und einfallslos ist. Im Gegenteil voller Witz, Humor und Bissigkeit. Da wird selbst der absolute Fischverächter schwach und stürzt sich in die Fluten. Arezu Weitholz führt uns ein in ihre Fisch-Welt mit dem Gedicht:

Der Aalphabet“

„Es war einmal ein Fisch im Meer
der liebte die Buchstaben sehr.
Er zählte sie von früh bis spät
man nannt ihn auch den Aalphabet.

Doch eines Tages fehlte ihm
das grosse F, und das war schlimm
denn nun gabs grosse Ische
und sonst nur kleine fische.

Er sucht im ganzen Ozean
von oben bis nach unten.
Das grosse F war irgendwann
ganz vollständig verschwunden.

Der Aalphabet, er war nicht blöd
er tat, als wärs normal.
Und seitdem ist der grösste Isch
kein Isch mehr, sondern Wal.“

(genehmigter Abdruck, Quelle: „Mein lieber Fisch“, Vierundvierzig Fischgedichte von Arezu Weitholz, Weissbooks Verlag)

Fische in allen Variationen, in allen Grössen, tot oder lebendig. Man wünscht sich ein Aquarium, einen Fluss oder einen See, um den „Gedanken“ der Fische nachzuspüren. Selbst von ganz menschlichen Problemen, wie einer Grippewelle, werden die Weitholz’schen Fische nicht verschont:

„Die Grippewelle“

„Erst, da keuchten die Sardellen
und bald hustete der Hecht.
Böse röcheln die Forellen
und den Heringen ist schlecht.

Kopfweh, Fieber bei den Fischen
keiner mehr verlässt sein Haus.
Denn den Wal darfs nicht erwischen
wenn der niest, ist alles aus.“

(genehmigter Abdruck, Quelle: „Mein lieber Fisch“, Vierundvierzig Fischgedichte von Arezu Weitholz, Weissbooks Verlag)

Was für ein Vergnügen, diese Gedichte nach ringelnatzscher Manier zu lesen! Seien Sie mutig, wagen Sie ein literarisches Fisch-Menü. Sie werden es nicht bereuen, denn es ist absolut grätenfrei und äusserst schmackhaft!

Durchgelesen – „Vom Sumo, der nicht dick werden konnte“ v. Eric-Emmanuel Schmitt

Dies ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Entwicklung, die sich mit einer Gewichtszunahme im klassischen aber auch im übertragenen Sinne beschäftigt. „Vom Sumo, der nicht dick werden konnte“ ist eine Erzählung, die den Leser auf eine Wandlungs-Reise mitnimmt und gleichzeitig neue innere und äussere Welten eröffnet.

Die Handlung spielt in Tokio. Jun ist ein 15 jähriger obdachloser Junge, der sich sein Leben verdient, in dem er sich als fliegender Strassenhändler durchschlägt. Er ist von zu Hause abgehauen,  weil sein Vater sich das Leben genommen hat, und seine Mutter sich um alle anderen Menschen kümmert, nur nicht um ihn. Eines Tages trifft er einen älteren Herrn, der ihm zuruft: „Ich sehe schon, wie gross und stark du mal wirst.“

Für Jun war dieser Satz ein Schreck! Einfach unvorstellbar, da er mehr als dünn und hager ist:

„Unglaublich! Von vorn sah ich aus wie ein am Streichholz gedörrter Herring, von der Seite … von der Seite konnte man mich gar nicht sehen, ich war nicht drei-, sondern nur zweidimensional, wie eine Zeichnung, mir fehlte jedes Relief.“

Doch dieser alte Mann, Shomintso, war überzeugt, dass Jun sich in einen stattlichen Sumoringer verwandeln kann und schenkt ihm eine Eintrittskarte für einen Sumowettkampf. Doch Sumo ist für ihn ein echter Horror, das Schlimmste, was es für ihn in Tokio gibt:

„Wenn ich eins genau wusste, dann dass ich mir nie im Leben einen Sumokampf ansehen würde. Das war der Inbegriff dessen, was ich an Japan hasste, der Gipfel der Geschmacksverirrung, der Fudschijama des Horrors. «Zweihundert Kilo schwere Speckberge mit Dutt, fast nackt, mit einem Seidenstring im Arsch, die sich in einem Kreis herumschubsen, nein danke! »“

Das Schicksal spielt Jun jedoch nicht gut mit, denn er verliert auch noch seinen letzten Job als Strassenverkäufer. Somit entschliesst er sich das Zentrum von Meister Shomintso zu besuchen, um sich den Sumowettkampf anzusehen. Er lernt zu meditieren, beschäftigt sich mit dem Zen-Buddhismus und spürt langsam aber sicher, seinen Ekel gegenüber den dicken Sumoringern und dem Sumo-Sport im Allgemeinen zu verlieren. Er vertraut sich immer mehr dem alten Shomintso an und folgt seinen Ratschlägen. Jun lernt, dass das Fett und das Gewicht nicht unbedingt etwas Negatives ist, sondern auch etwas Positives sein kann. Letztendlich entschliesst sich Jun, in die Schule von Meister Shomintso einzutreten, um Sumoringer zu werden. Doch er hat ein sehr grosses Problem, er nimmt nicht zu, obwohl er soviel isst wie noch nie zuvor. Jun ist innerlich so blockiert durch seine Erlebnisse und durch die Beziehung zu seinen Eltern. Sein starker Wille jedoch setzt sich durch. Er nimmt immer mehr an Gewicht zu, verliert immer weniger Kämpfe und spürt zum ersten Mal, dass er in seinem neuen Leben angekommen ist:

„Der Grosse und Starke in mir, hier ist er. Der Grosse und Starke, das ist nicht der Sieger über die anderen, sondern der Sieger über mich selbst.“

Dieses kleine Werk von Eric-Emmanuel Schmitt spricht sicherlich besonders Menschen an, die auf der Suche nach dem Wesentlichen sind. Mit treffenden Dialogen und charmanten Hinweisen wird der Leser angeregt, nicht seinen negativen Gedanken, sondern seinem Willen zu folgen. Die Erzählung ist zwar kurz und schmal in ihrer äusseren Form, doch dafür um so stärker und intensiver in ihrem Inhalt. Beim Aufsaugen dieser wunderbaren Zeilen, nimmt der Leser Seite für Seite auch an Gewicht zu, besonders an Lebensfreude-Gewicht !

Robert Gernhardt – Gedicht

Verliebter Dichter

Freude in der Strasse:
Dichter ist verliebt!
Ja, wenn das nicht
einen Haufen
schöne Gedichte ergibt!

Jubel in der Strasse:
Frau hat ihn verschmäht!
Na, wenn da nicht
mehr als eine
Elegie entsteht!

Zweifel in der Strasse:
Frau hat ihm gewinkt!
Tja, ob das wohl
etwas für die
Dichtung bringt?

Kummer in der Strasse:
Frau hat ihn geküsst.
Ach, wenn das mal
nicht der Anfang
von dem Ende ist!

Trauer in der Strasse:
Frau hat ihn erhört.
Da weiss jeder,
damit hat sich’s
leider ausgeröhrt.

Durchgelesen – „Das Labyrinth der Wörter“ v. Marie-Sabine Roger

Glücklicherweise werden immer wieder kleine Schätze aus der französischen Literatur entdeckt und ins Deutsche übersetzt. In diesem Fall handelt es sich um den entzückenden Roman „Das Labyrinth der Wörter“ im Original „La tête en friche“ von Marie-Sabine Roger. Das Buch erschien bereits 2008 in Frankreich, erhielt 2009 den Prix Inter und ist nun endlich in Deutschland erschienen.

Es gibt zwei zentrale Personen in diesem Roman: den Ich-Erzähler, Germain und Margueritte, eine alte Dame.

Germain hatte eine schwere Kindheit, er war kein Wunschkind, im Gegenteil er wurde in der Nacht des 14. Juli unbeabsichtigt gezeugt. Seine Mutter liess ihn immer spüren, dass er nichts kann und nichts wert ist. Inzwischen ist Germain 45 Jahre und wohnt in einem Wohnwagen im Garten des Hauses seiner Mutter. Sie ist total verwirrt, reisst sein mit Liebe angepflanztes Gemüse willkürlich heraus oder tanzt bis tief in die Nacht zu spanischer Musik. Germain hat keinen Schulabschluss, somit verdient er sich seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs. Er ist total ungebildet, zwar kein echter Analphabet, doch hat er sehr grosse Probleme mit dem Verstehen von Wörtern. Germain hat jedoch das Herz am richtigen Fleck, er ist ein Schrank von Mensch bei einer Grösse von fast 1,90m und einem Gewicht von 110 kg. Er liebt seine Katze und schnitzt gerne Tiere aus Holz.

„Sie können sich nicht vorstellen, wie kompliziert das Lesen ist, wenn man nicht gebildet ist, so wie ich. Man liest ein Wort, gut, man versteht es, das nächste auch, und mit ein bisschen Glück sogar das dritte. Man geht weiter, immer der Fingerspitze nach, acht, neun, zehn, zwölf, bis zum Punkt. Aber wenn man da angekommen ist, ist man keinen Schritt weiter! Man versucht zwar, alles zusammenzufügen, aber es ist nichts zu machen: Die Wörter bleiben so durcheinander wie eine Handvoll Schrauben und Muttern in einer Blechdose.“

Germain lernt im Park auf einer Bank Margueritte kennen. Sie zählt wie er immer die Tauben. 26 Stück sind es, und Germain hat ihnen allen einen Namen gegeben, unter anderem einer Taube den Namen Margueritte. Die alte Dame ist entzückt und freundet sich ganz vorsichtig mit Germain an. Sie ist zierlich, zart, voller Charme und Freundlichkeit. Und sie ist sehr gebildet, hat Biologie studiert und ihren Doktor gemacht. Margueritte lebt in einem Altersheim und sie liest für ihr Leben gerne. Aber am aller Liebsten liest sie gerne laut und besonders dann, wenn sie einen guten Zuhörer findet. Nach dem dritten Treffen mit Germain auf der Parkbank liest sie ihm ein Zitat vor, das aus dem Buch „Die Pest“ von Albert Camus stammt. Germain ist zuerst verunsichert, gibt ihr zu verstehen, dass Lesen gar nicht so sein Ding ist. Doch Margueritte macht ihn neugierig und sie beginnt mit ihrer angenehmen und ruhigen Stimme vorzulesen.

Germain entdeckt durch Margueritte eine neue Welt, die Welt der Literatur und er hat mit ihr eine grosse Hilfe gefunden, endlich aus dem „Labyrinth der Wörter“ herauszukommen. Germain spürt zum ersten Mal Zuneigung und Vertrauen, als hätte er eine Grossmutter gefunden.

Leider kann Margueritte nicht mehr lange vorlesen, da sie eine unheilbare Augenkrankheit hat. Es berührt Germain so, dass er sich etwas einfallen lässt:

“ «Ich habe eine Überraschung für Sie!» «Ach ja?» Und sie hat hinzugefügt: «Ich liebe Überraschungen.» «Sie sind mir ja wirklich eine echte Frau…» Sie hat gelacht. «Ach, sagen wir mal, ein Relikt davon.» Sie hat es mir erklärt. Da habe ich auch gelacht.“

Doch mehr sollte man hier nicht verraten! Eine rührende Lebensgeschichte, auf keinen Fall seicht, voller Poesie und Anmut, mit einem Hauch von Witz und sehr viel Menschlichkeit! Und eine wunderbare Vorlage für eine Literatur-verfilmung, die es seit Anfang Juni in Frankreich gibt. Der Film „La tête en friche“ nach dem französischen Original gedreht mit einer Besetzung, die man sich nicht besser wünschen könnte. Gérard Depardieu als Germain und Gisèle Casadesus (feiert in den nächsten Tagen ihren 96. Geburtstag) als Margueritte. Ein echtes Traumpaar! Ein wunderschöner, tiefsinnger und feiner Film. Da darf man sich als Leser dieses warmherzigen Romans sehr auf die Filmpremiere in Deutschland freuen!

Durchgelesen – „Airport“ v. Alain de Botton

„Airport – Eine Woche in Heathrow“ ist kein Roman, sondern eine philosophisch literarische Auftragsarbeit, die Alain de Botton von einer Firma, die Flughäfen besitzt, angeboten bekam. Selten, dass sich Flughafenbetreiber für Literatur interessieren, doch in diesem Fall traf es zu. Die Firma lud einen Schriftsteller zu einer Woche Aufenthalt im neu gebauten Terminal 5 ein. Und somit wurde Alain de Botton – Philosoph und Schriftsteller –  der erste „Heathrows Writer-in-Residence“. Gemeinsam mit dem berühmten Fotografen Richard Baker hatte Botton nun freien Zugang zum gesamten Bereich des Terminal 5, zu den Shops, zu den Lounges und vor allem auch zu den Bereichen hinter den Sicherheits-absperrungen. Einquartiert im Flughafenhotel für sieben Tage nahm dieses Abenteuer nun seinen Lauf.

Alain de Botton beobachtet wohlwollend die Vorgänge auf dem Terminal. Mit Charme und Leichtigkeit beschreibt er die alltäglichsten Gegebenheiten, die Begegnungen mit Reisenden, die Freude bei den Wartenden, die Ungeduld bei den Abfliegenden. Er taucht ein in die kleine und gleichzeitig grosse Welt zwischen Check-in-Bereich und Duty-Free. Er spricht mit Personal, Chefs und Seelsorgern und er freut sich sehr über seinen Arbeitsplatz: ein Schreibtisch, der sich in der Mitte eines Abschnitts des Terminals 5 befand:

„Für die meisten Besucher des Terminals aber war der Tisch eines Schriftstellers wie eine offene Herausforderung, sich ihrer Umgebung mit grösserer Phantasie und Aufmerksamkeit zuzuwenden und genauer auf jene Empfindungen zu achten, die der Flughafen in ihnen hervorrief, mit denen sie sich jedoch in ihrer Hektik auf dem Weg zum richtigen Flugsteig nur selten näher befassen konnten.“

Von Seite zu Seite spürt man immer intensiver den Flughafenbetrieb. Der Leser  verschwindet quasi im Terminal 5, überlegt, ob er nun abfliegen, ankommen oder lieber einkaufen gehen soll. Er lernt die vetraute Putzfrau kennen, den Schuhputzer und den Vorstandschef einer der grössten Fluggesellschaften. Man möchte am Liebsten eine Woche im Flughafenhotel verbringen und sich auch mitten in ein Terminal setzen – umgeben von Lärm, Getöse und Tumulten – und nur beobachten, mit den Leuten sprechen und bleiben!

Das Buch ist ein kluges und witziges Gesellschaftsessay, das sich durch eine unglaubliche Beobachtungsschärfe und Sensiblität auszeichnet. Ein kleines schmales beeindruckendes Werk, ergänzt mit wunderbaren Momentaufnahmen des Fotografen R. Baker,  für Vielflieger, Gelegenheitsflieger und alle, die sich für besondere Orte und Menschen interessieren.

Durchgelesen – „Liebe mit offenen Augen“ v. Jorge Bucay

Wie lösen wir unsere Partnerprobleme, mit einer Therapie oder einer Geschichte? Vielleicht mit diesem Buch, denn es ist ein Ratgaber für Paarbeziehungen, allerdings wunderbar verpackt in einen originellen und fesselnden Roman.

Der Protagonist Roberto hat wie immer Probleme mit Frauen, im Moment mit Christina. Doch eines Tages erhält er E-Mails von einer Laura, die nicht an ihn gerichtet sind, sondern für einen Fredy bestimmt sind. Er löscht sie anfänglich, aber die Mails von Laura erreichen ihn weiterhin und deshalb fängt er an, sie ihn Ruhe zu lesen.

Es stellt sich heraus, dass Laura und Fredy Therapeutenkollegen sind. Laura schreibt über die Probleme in der Liebe, die Veränderung am Anfang einer Liebe – sprich Verliebtheit – und über die Möglichkeiten seine Beziehung, neu zu entdecken. Sie erklärt aber auch die Phasen der Lieblosigkeit und die zum Teil unerfüllten Wunschvorstellungen in der Liebe. Roberto fühlt sich total angesprochen und er fängt an über seine Erfahrungen in Punkto Liebe nachzudenken:

„Und womit hatten eigentlich die Frauen, auf die er sich eingelassen hatte, ihn getäuscht? Waren sie nicht, wie er sie sich phantasiert hatte – begehrenswert, traumhaft oder auch liebesbedürftig? Laura behauptete: «Wenn die Verliebtheit vorüber ist, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich mit der Realität des anderen zu konfrontieren.» Das war hart. Ihm gingen die Worte Liebe, Beziehung, Illusion, Enttäuschung, Täuschung weiter durch den Kopf.“

Doch Roberto ist so fasziniert von Laura und ihren therapeutischen Ideen, dass er sich kurz über lang entschliesst, auf ihre Fragen zu antworten. Er nimmt eine andere Identität an und tritt ein in einen virtuellen Dialog über Beziehungen. Und im Laufe der Zeit kommen sich die zwei Protagonisten immer näher, nicht nur gedanklich und therapeutisch. Es wird spannend und geheimnisvoll, ohne mehr verraten zu wollen!

Jorge Bucay ist in Buenos Aires, Argentinien geboren und gehört heute zu den weltweit angesehensten Psychotherapeuten. „Liebe mit offenen Augen“ ist sein erster Roman. Ein wunderbares Buch, das den Leser anregt, über seine eigene Beziehung nachzudenken. Ein kluger, aber auch sehr unterhaltsamer Roman mit einer grossen therapeutischen Wirkung.


Durchgeblättert – „Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit“

Marcel Proust, berühmt geworden durch seinen siebenbändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wusste wie kein anderer Autor seine Fähigkeit, die Kunst als Stilmittel in der Literatur zu verwenden, einzusetzen. Seine Figuren und Protagonisten lässt er mit Hilfe erinnerter Bilder Neues erleben. Somit entsteht nicht nur ein Roman, sondern ganz nebenbei noch eine Kunstgeschichte, die den Leser in faszinierende Welten begleitet.

„Mein Buch ist ein Gemälde“, hat Proust an Jean Cocteau geschrieben.

Und eben genau diesen Welten in Form von Bildern berühmter Meisterwerke, hat  sich Eric Karpeles gewidmet und eine beeindruckende Zusammenstellung dieser Gemälde aus Proust’s Verlorener Zeit dem Proustkenner, aber auch dem Proustneuentdecker geschenkt.

Dieses Buch ist ein sehr umfassendes Kunstbuch, das sich auf aussergewöhnliche Weise zum ersten Mal mit der engen Beziehung zwischen Malerei und Literatur in Proust’s Meisterwerk auseinandersetzt. Der Leser lernt beispielsweise die „Engel“ von Botticelli, die „Kurtisanen“ von Manet und die „Seerosen“ von Monet kennen.

Über 200 Abbildungen von Gemälden, Zeichnungen und Stichen kann man entdecken, die ergänzt werden durch ein sehr informatives Einführungsessay und durch weiterführende zum Teil sehr amüsante Erläuterungen. Das Besondere jedoch an dieser Kunstgeschichte ist, dass jedes Kunstwerk mit dem passenden Zitat aus „Der Suche nach der verlorenen Zeit“ ergänzt bzw. kommentiert wird.

„Ich ging auf die Allée des Acacias zu. … Denn die Bäume lebten ihr Eigenleben weiter, und wenn sie keine Blätter mehr hatten, so strahlte es nur um so leuchtender aus der Hülle von grünem Samt, die ihre Stämme umgab, oder dem weissen Email der kugeligen Misteln, die hier und da in den Kronen der Pappeln hingen, rund wie Sonne und Mond in Michelangelos Erschaffung der Welt.“ (aus „In Swanns Welt“ und Michelangelo, „Gott erschafft Sonne und Mond“)

Eric Karpeles ist selbst Maler, studierte unter anderem an der Oxford University und lebte in den siebziger Jahren als Stipendiat an der Cité Internationale des Arts in Paris. Er wohnt in Kalifonieren und widmet sich dem Schreiben über Malerei.

Dies ist mehr als ein faszinierendes und besonders ästhetisches Kunstbuch, denn in diesem Werk werden die Bilder aus dem proustschen Universum zum ersten Mal lebendig und sichtbar. Ein Handbuch der europäischen Kunstgeschichte, eine proustsche Bibel der Malerei und vorallem ein ganz persönliches und intimes Museum!